Tote ohne Anerkennung

Mindestens 140 Menschen starben in den vergangenen 20 Jahren in Deutschland durch rechte Gewalt. Nur ein Drittel dieser Toten taucht in den offiziellen Statistiken auf. Ohne Antifagruppen wären viele dieser Tötungsdelikte - insbesondere in den 1990er Jahren - sowie die Tathintergründe nie öffentlich geworden. Sie sind es auch, die in vielen Städten dafür sorgen, dass diese Toten nicht vergessen werden.

Ostermontag 2005. Nach einer kurzen verbalen Auseinandersetzung tötet der Dortmunder Neonazi Sven Kahlin den unbewaffneten Punk Thomas »Schmuddel« Schulz in einem U-Bahnhof mit einem Messerstich ins Herz. Einen politischen Hintergrund wollte das Landgericht Dortmund bei dem wegen eines Angriffs auf einen Punk vorbestraften Kahlin nicht erkennen und verhängte sieben Jahre Haft wegen Totschlags. Die Neonaziszene in NRW feierte Kahlin als Märtyrer. Aus der Haft verbreitete er eine Grußbotschaft an die »Kameraden«. Ende September 2010 wurde der inzwischen 22-Jährige vorzeitig entlassen und ist wieder in die Dortmunder Neonazistrukturen eingestiegen.

In der Nacht zum 14. Juli 2007 stirbt ein 17-Jähriger am Rande eines Waldfestes in Brinjahe (Schleswig-Holstein). Das ehemalige NPD-Mitglied Garvin Koß aus dem Umfeld von Neonazikader Peter Borchert erschlägt ihn mit einer Eisenstange, weil er ihn für einen »Bullenspitzel« hält. Das Opfer hatte sich vorher ebenfalls in der rechten Szene bewegt, aber sich inzwischen von ihr gelöst. Nachdem Koß den Jungen schon auf dem Weg zum Waldfest verprügelt hatte, stellte dieser eine Anzeige gegen Unbekannt. Auf dem Heimweg trifft die Gruppe um Koß erneut auf den 17-Jährigen. Sie ziehen ihm ein Polizei-Merkblatt zum Thema Opferschutz aus der Hosentasche und meinen, ihn damit als »Spitzel« enttarnt zu haben. Koß wird 2008 wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren und sechs Monaten verurteilt.

Mit einer Pumpgun bewaffnet stürmt der Neonazi Thomas Adolf am 7. Oktober 2003 in die Kanzlei des Rechtsanwalts Hartmut Nickel in Overath (Nordrhein-Westfalen). Der ehemalige Söldner erschießt den Anwalt, seine Tochter und seine Frau. Während der Tat trägt er am Hemdkragen SS-Runen. Einen Tag später verfasst Adolf ein Flugblatt, wonach »mit der Befreiung des Reichsgebietes und der strafrechtlichen Verfolgung der Hochverräter begonnen« worden sei. Im Dezember 2004 wird er wegen Mordes zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Der Dreifachmord ist tagelang das Topthema in allen Medien, die neonazistischen Hintergründe werden mit keinem Wort erwähnt.

So unterschiedlich diese drei Fälle sind, so haben sie doch eine Gemeinsamkeit: sie tauchen in den offiziellen Statistiken der Bundesregierung zu Todesopfern rechter Gewalt nicht auf. Die Aufzählung nicht anerkannter Opfer lässt sich problemlos seitenlang weiterführen. Selbst konservative Recherchen, wo nur Fälle berücksichtigt wurden, bei denen eine Tatverurteilung erfolgte, zählen inzwischen 47 Todesopfer seit 1990. Zuletzt veröffentlichten nach monatelangen Recherchen der Berliner »Tagesspiegel« und die Wochenzeitung »Die Zeit« gemeinsam eine Liste mit 137 Toten. Zählt man die Todesopfer der nicht aufgeklärten, vermutlich rassistisch motivierten Brandanschläge der letzten zwanzig Jahre dazu, wie z.B. in Lübeck am 18. Januar 1996, liegt die Zahl noch um einiges höher.

Selten wird der mörderische Charakter extrem rechter Ideologie so deutlich wie beim Lesen der 137 Beschreibungen jedes einzelnen Tötungsdelikts. Doch wer gehofft hat, die haarsträubenden Vergleiche zwischen »Linksextremismus« und »Rechtsextremismus« durch Politik und Medien müssten spätestens jetzt aufhören, wurde enttäuscht. Obwohl viele Medien das Thema kurz aufgreifen, gibt es kaum einen öffentlichen Aufschrei, geschweige denn eine neue Diskussion um die tödliche Dimension extrem rechter Ideologie.

Der lange Weg zur offiziellen Anerkennung

Wie kommt es zu dieser hohen Differenz zwischen den offiziell anerkannten Todesopfern rechter Gewalt und den tatsächlichen? Der nahe liegende Schluss, dass Polizei und Justiz bewusst politische Tathintergründe ausblenden, um das unliebsame Thema rechte Gewalt »klein zu halten« mag in einigen Fällen zutreffen, erklärt aber nicht das Gesamtphänomen. Die Landeskriminalämter übermitteln die nach der offiziellen PMK-rechts Definition eingestuften Tötungsdelikte an das Bundeskriminalamt (BKA), das für die Bundesregierung die Liste zusammenstellt. Wenn also die Polizei vor Ort einen politisch rechts motivierten Mord (sei es aus Ignoranz oder bewusst) nicht von Anfang an als PMK-rechts einstuft und im Prozess die Frage der Tatmotivation keine zentrale Rolle spielt, oder vor Gericht einschlägige Beweise einfach ignoriert werden, kommt der Fall nie beim BKA an. Auffällig ist, dass es der Polizei schwer fällt ein rechtes Tatmotiv festzustellen, wenn die Getöteten nicht in die stereotype Opfergruppe (Migrant_innen) von Neonazis passen. Sie können sich offenbar nicht vorstellen, dass ein Neonazi erst mit einem Obdachlosen zusammen zechen kann und ihn anschließend trotzdem aus Hass auf »Asoziale« zu Tode prügelt. Bestätigt wird dieser Eindruck, wenn man die offiziellen Zahlen mit den 137 nachrecherchierten Todesopfern vergleicht. Mehr als 70 Prozent der Fälle, bei denen die Opfer Obdachlose, Behinderte oder sozial Randständige sind, wurden nicht erfasst. Ein weiteres Problem ist, dass viele Richter sich aus Angst vor Revisionsanträgen scheuen, im Urteil explizit eine »rechtsextreme« Motivation zu benennen. Das gleiche gilt, wenn Täter den Mord schnell gestehen. Kaum ein Gericht hat noch Interesse die Hintergründe zu klären, wenn bereits ein fertiges Geständnis auf dem Tisch liegt.

Antifaschistische Gedenkkultur

Nicht alleine für die Angehörigen der Opfer ist es wichtig, dass die Getöteten »offiziell« als Todesopfer rechter Gewalt vom Staat anerkannt werden. Dass möglichst alle Tötungsdelikte in der öffentlichen Wahrnehmung ankommen, liegt aber auch in der Verantwortung der radikalen Linken. Ob Gedenksteine, Demonstrationen oder andere Veranstaltungen; fast immer sind es Antifaschist_innen, die die unangenehme Erinnerung an Neonazimorde in ihren Regionen wach halten und (nicht nur) tödliche Neonazigewalt thematisieren. Für die Zukunft bleibt es weiterhin wichtig, dass lokale antifaschistische Gruppen und Beratungsprojekte für Opfer rechter Gewalt Hinweisen auf solche Tötungsdelikte nachgehen und damit offensiv und hartnäckig an die Öffentlichkeit treten. Dazu gehört es auch, Prozesse zu beobachten und Sorge zu tragen, dass Angehörige durch kompetente Nebenklageanwälte in den Prozessen vertreten werden. Denn häufig werden erst vor Gericht durch die Nebenkläger die politischen Hintergründe deutlich.

Das Gedenken an »Schmuddel« in Dortmund ist eines von vielen positiven Beispielen, wie eine antifaschistische Erinnerungskultur erfolgreich sein kann. Wenige Tage nach der vorzeitigen Entlassung des Täters gab es direkt eine Antifa-Demo mit mehreren Hundert Teilnehmer_innen unter dem Motto »Keine Rückzugsräume für rechte Mörder!« zum lokalen Neonazitreffpunkt. In den Berichten der Lokalzeitungen wird die neonazistische Tatmotivation aufgrund der jahrelangen Öffentlichkeitsarbeit inzwischen nicht mehr in Frage gestellt.