Demokratie ohne Volk

Ende der 80er Jahre tauchte in der bundesdeutschen Debatte erstmalig der Begriff der Politikverdrossenheit auf. Diese entpuppte sich alsbald weniger als Überdruss an der Demokratie im Allgemeinen denn als spezifische Parteienverdrossenheit der Wähler. Heute dagegen haben wir es, wie die Rücktritte von Roland Koch und Horst Köhler belegen, mit einem neuen Phänomen zu tun: nämlich der Politikverdrossenheit der Politiker. Mehr und mehr gerät die gesamte politische Klasse in die Krise – einerseits erlebt sie zunehmend die eigene Handlungsunfähigkeit durch den Angriff der Finanzmärkte, andererseits trägt sie durch die Rücktritte zur systematischen Schwächung ihrer selbst bei.

Als Noch-Bundespräsident Horst Köhler am 1. Juni die Kanzlerin über seine Rücktrittsabsicht informierte, versuchte Angela Merkel ihn daher von seinem Vorhaben abzubringen, indem sie die Möglichkeit einer Staatskrise an die Wand malte. Köhlers Rücktritt werde das Vertrauen vieler Bürger in die Institutionen des Staates erschüttern.

Die Kanzlerin sollte Recht behalten, ihre Warnung sich als self-fulfilling prophecy erweisen. Die bundesrepublikanische Parteiendemokratie droht immer mehr in eine tiefe Krise zu geraten. Diese Krise wurde jedoch weniger ausgelöst durch den Rücktritt Horst Köhlers als vielmehr durch Angela Merkel selbst und ihre „Lösung“ der Präsidentenfrage – im ironischen Zusammenspiel mit den anderen Parteien.

Dabei handelt es sich um eine Krise der gesamten politischen Klasse und damit des real existierenden deutschen Parteienstaates. Am Tag der Wahl des nächsten Bundespräsidenten dürfte sie ihren vorläufigen Höhepunkt erleben. Wenn nämlich am 30. Juni Christian Wulff als Kandidat von Merkels Gnaden (die Vorsitzenden von CSU und FDP hatten ihr vorab freie Hand bei der Auswahl gelassen) die Mehrheit der Bundesversammlung bekommen sollte, wofür immer noch das meiste spricht, dann gegen eine erstaunliche Mehrheit in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung – obwohl diese ansonsten nicht selten auseinanderfallen. Alle Umfragen zeigen, dass die Zustimmung für Joachim Gauck, den Kandidaten von SPD und Grünen, die Rate des niedersächsischen Ministerpräsidenten klar übersteigt – bei gleichzeitiger Unterstützung durch alle Medien und in allen Parteien, abgesehen von der Führung der Linkspartei.

Dass „Die Linke“, so die List der Geschichte, die Wahl von Gauck fast reflexhaft ausschloss, machte den Kandidaten jedoch erst wählbar für Liberale und Union. Zugleich wurde die Präsidentenwahl immer mehr zum Spielball der innerkoalitionären Parteiinteressen: Verzichtet Ihr, CDU/CSU, nicht auf Eure Steuererhöhungspläne, lassen wir, die FDP, Euren Kandidaten Wulff durchfallen. Wie groß die Angst vor einer Niederlage im Regierungslager ist, zeigt sich daran, dass bei der Zusammensetzung der Bundesversammlung nur auf Parteipolitiker gesetzt wurde. Angeblich aufgrund der zu langen Einladungsfristen, tatsächlich aber sollten auf diese Weise unsichere Kantonisten aus dem Volk verhindert werden, die sich doch für Gauck hätten entscheiden können.

Das aber ist ein verheerendes Signal: Das höchste Staatsamt erscheint als „Beute der Parteien“ – derweil diese, wie die letzten Monate belegen, kaum mehr in der Lage sind, die Probleme des Landes in den Griff zu bekommen. All das wird das massive Parteienressentiment – „Der hässliche Deutsche wohnt in den Parteizentralen. Da sitzen die Neider“ („Bild“)[1] – weiter nähren und die ohnehin rückläufige Zustimmung zur Demokratie auf einen neuen Tiefstand bringen.

Legalität versus Legitimität

Am 30. Juni droht damit der altbekannte verhängnisvolle Widerstreit des deutschen Sonderwegs zur Aufführung zu kommen: zwischen der angeblich bloß formalen Legalität des zwar rechtmäßig von den Volksvertretern gewählten Präsidenten und der vermeintlich echten Legitimität des eigentlichen Präsidenten des Volkes und der Herzen. In der „Zeit“ heißt es denn auch bereits drohend in Richtung Parteienstaat: „Legitimität in einer Demokratie ist kein Gottesgnadentum, sondern ein Geschenk des Volkes – seine Rücknahme ist möglich.“[2]

Wie aber erklärt sich, dass es gerade jetzt zu dieser erstaunlichen Radikalisierung des Parteienressentiments kommt? Denn faktisch geschieht nur das in der bundesrepublikanischen Geschichte Übliche: eine parlamentarische Mehrheit bringt ihre Majorität zum Tragen und wählt den Repräsentanten des Regierungslagers.

Fest steht: Dass der Kandidat Gauck derartige Begeisterung auslöst, liegt keineswegs nur an dessen imponierender Vita oder an der parteiförmigen Blässe seines Gegners. Denn obwohl Präsidentenkandidaten allzu oft keinen besonderen Glanz ausstrahlten, ging ihre Wahl in aller Regel ziemlich geräuschlos über die Bühne. Schon Theodor Heuss und Konrad Adenauer erkoren ganz bewusst den blassen Heinrich Lübke zu Heuss’ Nachfolger, damit dieser nicht dem Nachruhm seines Vorgängers und Adenauers Politik in die Quere käme. Und auch in späteren Zeiten waren Präsidenten selten Charismatiker. Denkt man etwa an den Bürokraten Karl Carstens, handelt es sich bei Christian Wulff als einem zweimal vom Volk gewählten Ministerpräsidenten durchaus um einen honorigen Kandidaten. Dass dieser in der Debatte regelrecht zum Parteiidioten degradiert wurde, muss umso mehr verwundern, als Joachim Gauck schon einmal im Gespräch war. Als er im Jahre 1999 von der damaligen Opposition aus Union und FDP gegen den als zu alt und verbraucht kritisierten Johannes Rau in Stellung gebracht wurde, konnte von einem derartigen Bürgerprotest wie heute nicht die Rede sein. Damals verstand sich offenbar noch von selbst, dass die regierende rot-grüne Mehrheit ihren Kandidaten durchsetzt.

Warum also jetzt dieser Aufschrei? Warum schreibt selbst die sonst so staatstragende „Zeit“, die Wahl Wulffs sei „die Machtdemonstration einer kleinen Führungselite, die zeigt, dass sie sich dem deutschen Volk nicht verpflichtet fühlt“[3] – während es sich in Wirklichkeit um den seit 60 Jahren gängigen Vorgang handelt?

Offensichtlich wurde Wulff zur Projektionsfläche für die grassierende Parteienaversion. In dem Widerwillen gegen ihn drückt sich auch das wachsende Unbehagen an der Parteiendemokratie als solcher aus. Daran wird deutlich, dass wir es derzeit mit einer wesentlich tiefer gehenden Krise zu tun haben, die man nur versteht, wenn man die eigentlichen, allgemeinen wie zeitspezifischen, Gründe für die (bisherige) Zustimmung zur Demokratie der Bundesrepublik ins Visier nimmt.

Grundsätzlich ist die Bereitschaft zur Identifikation mit den demokratischen Institutionen stets von zwei Dimensionen abhängig: der Input- und der Output-Dimension. Über 60 Jahre lang erklärt sich die Bejahung der Bundesrepublik – unabhängig von allen Anstrengungen zur Reeducation der eben noch in ihrer Mehrheit nationalsozialistischen Bevölkerung – zuerst von ihren materiellen Ergebnissen her. Denn mit Beginn des Wirtschaftswunders wurde der „Output“ des demokratischen Procederes von Jahr zu Jahr positiver, stieg scheinbar unaufhörlich der Lebensstandard der Bevölkerung.

Die Input-Seite der Demokratie, dass es auch unter Adenauer und seinen Nachfolgern keineswegs immer demokratisch zuging, fiel da beim Gros der Bevölkerung nicht weiter ins Gewicht. Viele Jahre lang war auf diese Weise der beste Verbündete der Politiker die ideelle Gleichgültigkeit ihrer Wähler, konnte sich die Politik auf das stille Einverständnis verlassen, dass der große und der kleine Mann „die da oben“ an der Staatsspitze so lange werkeln lassen, wie sie nicht weiter stören und die Ergebnisse stimmen.

Doch diese Zeiten sind vorbei, denn die Output-Dimension schwächelt dramatisch. Die erwünschten Ergebnisse (materieller Wohlstand und immaterielle Sicherheit) stellen sich längst nicht mehr scheinbar von selbst ein, im Gegenteil: Über 50 Prozent der Bevölkerung glauben, dass sich ihr Lebensstandard in den nächsten Jahren verschlechtern wird; drei Viertel sind sogar der Meinung, dass die Politik sich gegen die Finanzmärkte ohnehin nicht mehr durchsetzen kann.

Und die Politik der vergangenen Monate hat diese Einschätzung erheblich verstärkt. Erst die Steuerbefreiung für Hoteliers, dann die lange Untätigkeit der Koalition bis zu den Wahlen in Nordrhein-Westfalen und nun der klägliche Neustart unter dem Leitmotiv des Sparens, der doch in erster Linie eine neuerliche Belastung der sozial Schwachen darstellt: Macht man sich bewusst, dass bereits Ende 2009 75 Prozent der Bundesbürger der Meinung waren, dass es in Deutschland nicht gerecht zugeht, dürften diese Maßnahmen die Abwendung vom Parteienstaat weiter befördern.

Mehr Demokratie wagen

Angesichts dieser dramatischen Vertrauenseinbußen der Politik kommt es gerade jetzt umso mehr auf die Input-Dimension der Demokratie an, also auf die Partizipation der Bevölkerung: Je härter die Zeiten und je schwächer das Ergebnis, umso mehr muss sich die Politik um besondere Zustimmung des Volkes im demokratischen Verfahren bemühen. Dazu ist Angela Merkels Politik des Küchenkabinetts jedoch ersichtlich nicht in der Lage. Ihre Bunkermentalität, ihr enger Parteihorizont, nicht nur in der Präsidentenfrage, befördern nun die Parteiendämmerung. Hier zeigt sich, dass die Methode Merkel an ihre Grenzen stößt: Ihre Machtbesessenheit in parteipolitischen Dingen geht einher mit Machtvergessenheit, was das Funktionieren des gesamten parteipolitischen Systems anbelangt.

Die Wahl eines Kandidaten mit parteiübergreifender Akzeptanz durch die Union, wie etwa von Joachim Gauck oder auch des früheren Umweltministers Klaus Töpfer, der als einer der entschiedensten Mahner vor der Klimakatastrophe in weiten Teilen der Gesellschaft Anerkennung findet, wäre deshalb die in dieser Krise angemessenere Antwort gewesen. Nun aber droht Merkels Antwort auf die grassierende Flucht der Politiker aus den Institutionen die Institutionen selbst zu beschädigen.

Die Wahl des Bundespräsidenten ist damit zu einer klassischen Lose-lose-Situation geworden, die keine Sieger kennt: Was als geräuschlose Krisenbewältigung durch Angela Merkel angelegt war, erweist sich als Pyrrhussieg – und als dramatische Niederlage für den Parteienstaat insgesamt.

Wie aber hätte die Kanzlerin diesem Dilemma entkommen können? Die einzige Möglichkeit, so heißt es, hätte darin bestanden, den eigenen Vorschlag in einer großen Geste wieder zurückzuziehen. Doch eine derartige Fähigkeit zur Selbstkorrektur ist Parteien im gegenwärtigen System nicht gegeben – bei Strafe des eigenen Untergangs. Denn natürlich gilt die Regierung Merkel/Westerwelle als final angeschlagen, wenn sie nicht in der Lage ist, ihren eigenen Kandidaten durchzubringen.

Wie auch immer die Wahl am 30. Juni deshalb ausgeht: So oder so werden die Parteien die Verlierer sein – und mit ihnen das gesamte demokratische Gefüge der Republik. Die Ironie der Geschichte: Der vermeintliche Coup von Grünen und Sozialdemokraten, die Schwächung der Regierung, wird zu einer Niederlage für alle Parteien. Erst laufen dem Parteienstaat immer mehr Wähler davon, dann auch noch die Politiker – und nun auch zunehmend das Volk in Gänze, sprich der Souverän.

Die Rufe nach dem Ersatzkönig

Denn eines steht bereits fest: Bei einer Wahl Christian Wulffs drohen die bereits jetzt erklingenden Rufe nach einer Direktwahl des Bundespräsidenten noch lauter zu werden. Dies ist ein erstaunliches Erbe der „Ära“ Köhler, hatte dieser doch nach seiner Wiederwahl 2009 selbst eine zukünftige Direktwahl gefordert – und damals noch heftige Schelte in allen Parteien und Medien für den Vorschlag geerntet.

Davon kann nach seinem Abgang keine Rede mehr sein: Nicht nur die „Bild“-Zeitung trommelt bereits heftig für eine Direktwahl. Diese aber ist mit dem klug austarierten Machtgefüge des Grundgesetzes nicht vereinbar. Mehr noch: Sie wäre das Einfallstor für jenen erlösenden Populisten, von dem wir bisher (noch) verschont geblieben sind. Aber vielleicht nicht mehr lange: Reichlich naiv wird denn auch bereits in der „Zeit“ die Direktwahl als nebulöse „Revolution von oben“ gefordert, welche endlich „eine überparteiliche Kontrolle und eine interessenunabhängige moralische Führungsfigur“ hervorbringen möge, die die großen Probleme des Landes „fühlt und versteht“.[4]

Wer aber wollte glauben, dass das Volk und der erkorene Wunderheiler, so die Direktwahl beschlossen wäre, sich mit der qua Grundgesetzes vorgesehenen, repräsentativen Aufgabe begnügen würden? Der große Konflikt mit der Regierung, wer der eigentliche Inhaber der legitimen Macht im Staate ist, wäre vorprogrammiert.

Demokratie am Scheideweg

Heute befindet sich unsere Demokratie am Scheideweg: Auf der einen Seite ertönt die Forderung nach dem allwissenden, benevolenten Führer als eigentlicher Verkörperung der volontée generale. Auf der anderen Seite, ebenfalls unlängst in der „Zeit“ zu Papier gebracht,[5] wird vorgeschlagen, dass die Politik sich vom langatmigen Procedere der Parteiendemokratie ganz verabschieden und in den Arkanbereich der Brüsseler Bürokratie zurückziehen solle, wo ohnehin die wahre Kompetenz ihren Sitz habe. Dieses Modell einer aufgeklärten Autokratie, als Geheimpolitik der Experten, würde mit Sicherheit eines bewirken, nämlich die herrschende Abkopplung der Parteien von der Bevölkerung weiter verstärken. Schließlich war es gerade Angela Merkels betriebsam geräuschlose, quasi im Selbstlauf – als wenn nichts geschehen wäre – durchgeführte Lösung der Präsidentenfrage, die das postdemokratische Unbehagen an den Parteien zur Explosion brachte. 

Die Alternative zu den beiden Irrwegen, Populismus oder Expertokratie, kann nur in einer Grunderneuerung der Parteiendemokratie bestehen. Mehr direkte Demokratie kann dafür ein wichtiger Ansatz sein – wenn sie nicht gerade ganz oben, sondern unten oder bei maßgeblichen Sachfragen beginnt (wie dies andere Staaten im Falle der Volksabstimmung über die EU-Verfassung oder den Lissabonvertrag erfolgreich vorexerziert haben).

Vor allem aber kommt es darauf an, dass die schwarz-gelbe Regierung ihre Selbstblockade überwindet, bei der jeder gegen jeden regiert, mit immer gröberen Verbalinjurien (Rumpelstilzchen vs. Gurkentruppe vs. Wildsau). Sollte sich die Koalition die nächsten Jahre aus purer Angst vor dem Untergang (vor allem der FDP) aneinanderklammern, ohne zu einer neuen Geschäftsgrundlage zu kommen, wäre diese Handlungsunfähigkeit in der gegenwärtigen Krisenzeit der größte anzunehmende Unfall für den Parteienstaat. Dann könnten vorzeitige Neuwahlen die einzige Alternative sein, um den rasenden Autoritätsverlust zu stoppen.

Wie stellte bereits 1973 Wilhelm Hennis, einer der schärfsten Kritiker des real existierenden Parteienstaates (in der Absicht, diesen grundsätzlich zu verteidigen), fest: „Die Distanz zwischen politischem Personal und ‚Volk’ ist größer geworden, sie ist heute vielleicht größer als in Weimar, ja selbst im Bismarckreich. Der ‚Parteienstaat’, Grundlage der parlamentarischen Demokratie, ist nicht so gesichert, dass er nicht im Namen des ‚Volkes’ erneut in Frage gestellt werden könnte.“

Mag Hennis’ Analyse im Jahre 1973 auch alarmistisch gewesen sein – schließlich erreichte die Anteilnahme an der demokratischen Debatte in den 70er Jahren einen neuen Höhepunkt, den wir uns heute sehnlich herbeiwünschen würden –, seine Warnung ist unvermindert aktuell.

Denn während damals das Ressentiment gegen die Parteien vor allem von den Rändern kam, steckt es heute direkt in der Mitte der Gesellschaft, von „Bild“ bis „Zeit“. Und mit dieser Macht im Staate lässt sich bekanntlich gar nicht spaßen.

[1] Vgl. Ernst Elitz, Hässlicher Deutscher, in: „Bild“, 9.6.2010.

[2] Richard David Precht, ...und keiner wacht auf, in: „Die Zeit“, 10.6.2010.

[3] Ebd.

[4] Ebd.

[5] Robert Menasse, Populismus zerstört Europa, in: „Die Zeit“, 20.5.2010.

(aus: »Blätter« 7/2010, Seite 5-9)