Wir sind das Volk – und ihr seid es nicht

Geschichte wiederholt sich, aber nicht nur als Farce. Mit „Wir sind das Volk“ macht eine große Antiparteienbewegung wie vor 20 Jahren Front gegen die Regierenden. Angefangen bei der Wahl des Bundespräsidenten[1] über die Proteste gegen die Hamburger Schulreform bis zum Kampf gegen „Stuttgart 21“: Überall im Lande machen Bürger gegen die Regierungen mobil. So disparat die Ereignisse im Einzelnen, so sehr sind sie doch alle Ausdruck immensen Misstrauens gegenüber den politischen Parteien. In der „Dagegen-Republik“ wächst die Abkehr vom politischen Betrieb wie auch die Kluft zwischen medialer und interner Öffentlichkeit.

Gleichzeitig erhält das Motto „Wir sind das Volk“ einen völlig neuen Klang. 1989 stand es für das demokratische Begehren und die Selbstermächtigung der Bevölkerung gegen die sozialistische Nomenklatura. Nun hat speziell die Sarrazin-Debatte dem Slogan eine hochgradig exkludierende Bedeutung verliehen: Wir sind das Volk – und ihr seid es nicht. Ganz gezielt wird damit die Ausgrenzung der Anderen, in diesem Falle der muslimischen Migranten und ihrer Nachkommen, betrieben. Wir sind, so die Insinuation, also gerade nicht „ein Volk“.

„Deutsche Einheit“ auf dem Rücken der Muslime

Eines jedenfalls steht fest: Die deutsche Einheit bleibt, wie wir dieser Tage erleben, ein unvollendetes Projekt, das weit davon entfernt ist, ein gemeinsames Projekt aller Deutschen – unter Einbeziehung der vermeintlich Anderen – zu sein. Die Sarrazin-Debatte hat die latent vorhandene Fremdenfeindlichkeit virulent werden lassen. Demgegenüber ist die einstige Spaltungslinie zwischen Ost- und West-Deutschen in den Hintergrund getreten. Stattdessen werden wieder ethnische, ja sogar genetische Grenzen gezogen. Überspitzt formuliert könnte man sagen, dass die Einheit der autochthonen Deutschen auf dem Rücken und durch Ausgrenzung der Muslime herbeigeführt wird.

Das verweist auf fatale Kontinuitäten: Schon die ausländerfeindlichen Anschläge Anfang der 90er Jahre machten deutlich, wie stark die xenophobischen Gefühle in Gesamt-Deutschland, von Rostock-Lichtenhagen über Mölln bis Solingen, nach wie vor waren. Mit Nine Eleven, aber auch durch den hitzigen Streit um die Mohammedkarikaturen, verstärkten sich derlei Aversionen noch. Zeitweilig wurden Muslime primär als „Schläfer“, sprich: als potentielle Terroristen, wahrgenommen.

Hinzu aber kommt ein entscheidender Unterschied. Während sich 1992 die ganze Öffentlichkeit, von Springer bis taz, angesichts brennender Asyl- und Migrantenheime über die tödliche Diskriminierung entrüstete, reicht heute die Zustimmung für Sarrazins Sozial-darwinismus bis weit in die Mitte, in die „gutbürgerlichen Kreise“ der Kommentar- und Leserbriefspalten der FAZ. Was wir in der gegenwärtigen Debatte erleben, ist eine dramatische Diskursverschiebung nach rechts – gegen die migrantische Minderheit. Vor diesem Hintergrund mutet es regelrecht naiv an, diese Republik als gefeit davor zu erachten, sich in neue Freund-Feind-Auseinandersetzungen zu begeben. Das Gegenteil ist der Fall.

Tatsächlich steht Deutschland vor einer Richtungsentscheidung. Doch auch wenn das schwarz-gelbe Erscheinungsbild nach einjähriger Regierungszeit verheerend und nachhaltige „Besserung“ keineswegs in Sicht ist: Die eigentliche Konkurrenz für die Regierung kommt heute nicht von links – dafür ist Rot-(Rot)-Grün personell wie programmatisch derzeit nach wie vor zu schwach – , sondern von rechts. Die größte Gefahr der Merkel-Union ist nicht die SPD, sondern das Vakuum auf der Rechten.

Der „Fall Sarrazin“ ist ein „Fall Bild-Zeitung“

Für Franz Josef Strauß war die Devise noch klar: Rechts von der CSU ist nur noch die Wand. Heute kann davon nicht mehr die Rede sein: Rechts der Union ist plötzlich viel Platz. Aufgrund der sukzessiven Aufweichung der einstigen konservativen Positionen durch Angela Merkel, der verheerenden Leistungsbilanz der schwarz-gelben Koalition und der zunehmenden Abstiegsängste in der Mittelschicht hat sich ein gewaltiges Frustrationspotential angesammelt. Die mit Union und FDP Unzufriedenen wandern jedoch keineswegs in das gegnerische linke Lager ab, sondern direkt zu den Nichtwählern auf der rechten Seite. Und vieles spricht dafür, dass sich diese Bewegung noch verstärken wird. Denn die grassierende Unzufriedenheit findet erhebliche mediale Unterstützung. Speziell die „Bild“-Zeitung betrieb in der Sarrazin-Debatte massive Stimmungsmache. Der „Fall Sarrazin“ war somit von Anfang an auch ein „Fall Bild“.

Eine Woche lang brachte diese jeden Tag eine ganze Seite Auszüge aus „Deutschland schafft sich ab“: Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass hier das Verhältnis von Medium und Autor ganz gezielt umgedreht wurde. Nicht „Bild“ war primär Medium für Sarrazin, sondern Sarrazin wurde zum Medium für „Bild“, um mit seiner Hilfe endlich all das rauszulassen, was man sich selbst (bisher) nicht zu sagen traute – und um mit Sarrazin als Testballon auszuprobieren, was in diesem Lande alles möglich ist. Doch in dem Augenblick, da dieser Ballon flog, begeistert bejubelt von erheblichen Teilen der Bevölkerung, kam die „Bild“-Zeitung selbst wie Zieten aus dem Busch. Unter dem ganzseitigen Aufmacher „Das wird man ja wohl noch sagen können“ hieß es autoritativ-reaktionär: „Ausländer, die sich nicht an unsere Gesetze halten, haben hier nichts zu suchen“; „Nicht wir müssen uns den Ausländern anpassen, sondern sie sich uns!“ usw. usw. Und all das wird legitimiert mit dem selbst erklärten Anspruch, die Stimme „des Volkes“ gegenüber den abgehobenen Parteieliten zu sein.

Doch dahinter steckt noch ein weiter gehendes Kalkül. Noch in der Sommerpause, und deutlich vor der Sarrazin-Debatte, stellte Michael Backhaus, Chefredakteur der „Bild am Sonntag“, in einem Leitkommentar fest: „Die Union von Angela Merkel und Horst Seehofer aber lässt reichlich Raum für
eine neue demokratische konservative Kraft. Was CDU, CSU und auch die FDP an Wählerpotential verspielt haben, reicht locker aus, um zwei Parteien über fünf Prozent zu bringen.“

Backhaus berief sich dabei auf eine aktuelle Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut Emnid für den „Focus“ erstellt hat. Demnach kann sich jeder fünfte Deutsche vorstellen, eine „Partei rechts von der CDU“ zu wählen. Und zum Abschluss seines Artikels zieht Backhaus süffisant blank: „Und was ist, wenn Friedrich Merz im CDU-Trümmerland NRW einen eigenen Verein aufmacht, unterstützt von Wolfgang Clement? Dann wäre schnell Feuer unter dem Dach der Union!“ Massiver Druck von rechts außen: Das ist das eigentliche Anliegen der „Bild“-Zeitung. Und damit steht sie nicht allein. „APO kann die andere Seite auch“, jubiliert bereits „Die Welt“ über jene „Handvoll mutiger Köpfe“, die sich „aus der politisch korrekten Deckung wagt und nun ihrerseits Druck ausübt auf die unionsgeführte Regierung.“[2]

APO von rechts

Tatsächlich ließe sich problemlos eine veritable Gegenregierung aus den „Bild“-Lieblingen basteln: Finanzminister Friedrich Merz für die versprochene Steuer auf dem Bierdeckel, Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, der uns bereits bewiesen hat, wie man mit Leiharbeit mehr Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt schafft – natürlich stets im Dienste der Produktivität. Dazu Innenminister Roland Koch für „Null Toleranz“, dessen neues Buch mit dem Titel „Konservativ“ in Kürze erscheint, sowie Familienministerin Alice Schwarzer, die soeben ihre neueste Philippika gegen das Kopftuch als Kriegsflagge des Islam fertiggestellt hat. Und all das flankiert von Bildungs- und Desintegrationsminister Sarrazin: Wer wollte ernsthaft daran zweifeln, dass eine solche Truppe für 20 Prozent der Stimmen gut wäre?

Dass sie derzeit nicht wählbar ist, schmälert ihre Wirkung kaum. Denn schon als potentielle Opposition – als APO von rechts und reales Drohpotential der „Bild“-Zeitung – taugt sie allemal, um in Unionskreisen nicht nur für Aufregung zu sorgen, sondern auch für Begehrlichkeiten. Das immense Stimmenpotential verschiebt die Positionen vieler Politiker – beileibe nicht nur in der Union – sukzessive nach rechts. Die jüngsten, fast schon flehentlichen Bemühungen einiger führender CDU-Abgeordneter bis hin zur Kanzlerin, ihnen doch ihre konservative Haltung abzunehmen (von der seit Jahren nicht mehr die Rede war), legen von diesem Sog beredtes Zeugnis ab.

Schon auf dem kommenden CDU-Parteitag im November wird sich dieser Sog nach rechts auch in der Führungsspitze niederschlagen. Dort müssen zwei von drei stellvertretenden Vorsitzenden (neben Frau Schavan) neu besetzt werden. Mindestens einem Hardliner ist ein Platz bereits sicher. Alles spricht dafür, dass Volker Bouffier seinem Vorgänger als Ministerpräsident in Hessen, Roland Koch, auch in der Parteispitze nachfolgen wird. Er dürfte wie seine konservativen Gesinnungsgenossen Stefan Mappus (Baden-Württemberg) und Christoph Ahlhaus (Hamburg) dafür sorgen, dass die Union ihren „Markenkern“ in Zukunft wieder stärker pflegt.

Noch sitzt Angela Merkel in der Union fest im Sattel. Doch bei weiteren schmerzhaften Niederlagen – und die nächste droht bereits im kommenden März, bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg – wird ihre Ausrichtung der Partei grundsätzlich in Frage gestellt werden. Der ersten Ostdeutschen an der Parteispitze ist es tatsächlich gelungen, der CDU den eigentlichen konservativen Kitt der alten Bundesrepublik auszutreiben. Dieser bestand stets im klaren Freund-Feind-Denken, sowohl nach außen, gegen die „Soffjets“ (Konrad Adenauer), als auch nach innen, gegen die „Soz‘n“ (Helmut Kohl).[3] Unter Merkel sind diese scharfen Konturen weitgehend verschwommen. Auch ihre überraschend vehemente Verteidigung von „Stuttgart 21“ als angeblich wegweisendes Zukunftsprojekt kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Union heute ein klares politisches Profil und Projekt fehlt.

Hier aber liegt das eigentliche Problem – nicht nur der CDU, sondern der ganzen Gesellschaft. Wenn, wie in den letzten Jahren, keine öffentliche Auseinandersetzung um klare politische Alternativen stattfindet, dann drängt sich der Freund-Feind-Gegensatz als gesellschaftliches Ordnungsmuster förmlich auf – zumal in einer Zeit hochgradiger Unsicherheit, in der viele Menschen ein großes Bedürfnis nach einfachen Antworten haben. Wer in einer solchen Lage einen Schuldigen liefern kann, hat größte Chancen, Beifall zu ernten. Das hat die „Bild“-Sarrazin-Kampagne schlagend bewiesen.

Schicksalsfrage Integration

Diese Tendenz dürfte sich im Zuge fortschreitenden Verlusts an ökonomischer und politischer Sicherheit noch verschärfen. Denn gerade in Krisenzeiten entstehen stets neue Bedrohungsängste, an die rechte Populisten mit ihren Feindbildprojektionen leicht anknüpfen können. Im Fremden, ob Migrant oder Ausländer, droht dann immer weniger der integrierbare potentielle Bürger, als vielmehr der abzuwehrende Feind gesehen zu werden.

Bereits seit einigen Jahren diagnostiziert der Bielefelder Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer bei seiner Analyse der „Deutschen Zustände“ eine kontinuierliche Zunahme „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“. Wachsende Desintegrationsängste, Benachteiligungsgefühle und Anerkennungsdefizite zögen regelmäßig die Diskriminierung schwächerer Gruppen nach sich – und zwar forciert in Zeiten der Krise. Wer aber wollte ernsthaft glauben, dass die Krisenhaftigkeit der Gegenwart überwunden ist? Das Gegenteil dürfte der Fall sein. Die Repu-blik bleibt also gefährdet.[4] Was aber dagegen tun?

An der Integrationsfrage dürfte sich in der Tat die Zukunft unseres Landes entscheiden – wenn auch in einem wesentlich weiteren, nämlich primär sozialen Sinne, der alle Bürger betrifft. Ganz falsch wäre es jedoch, der immensen Aversion in der Bevölkerung speziell gegenüber muslimischen Migranten bloß mit Beschwichtigung begegnen zu wollen. Dadurch lässt sich der gefährliche Sprengstoff nicht entschärfen.

Tatsächlich verfangen die Parolen der rechten Rattenfänger ja auch deshalb, weil die Linke bisher ebenfalls keine hinreichenden Antworten auf die real existierenden Integrationsprobleme gibt. Exemplarisch dafür ist das Versagen des rot-roten Senats in Berlin. Anstatt Integration von Anfang an zur Chefsache zu machen, legt der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit erst jetzt, nach fast zehnjähriger Amtszeit, ein Integrationsgesetz vor, das sein Parteifreund Heinz Buschkowsky, der Bürgermeister von Neukölln, zu Recht nur als „Karikatur eines Gesetzes“ bezeichnet.[5] Selbst die Normprüfungsstelle des Berliner Senats stellte in ihrer rechtlichen Stellungnahme den Sinn des Gesetzes grundsätzlich in Frage: „Der Nutzen eines solchen neuen Gesetzes erscheint nämlich bereits nach dem Inhalt des vorliegenden Entwurfs als fraglich“. Lediglich die Regelungen zum Bestattungswesen, in denen Muslime von der Sargpflicht befreit werden, wurden von den Juristen gelobt.[6]

Offensichtlich geht das Gesetz an den realen Problemen der Stadt völlig vorbei. Während Wowereit mit Blick auf die kommende Abgeordnetenhauswahlen vor allem auf Quoten- und Symbolpolitik setzt – „das erste Integrationsgesetz bundesweit“ –, bleiben die wahren Probleme ungelöst. So unterlässt es eine erhebliche Zahl der Migranten, die eigenen Kinder regelmäßig zur Schule zu schicken, und minimiert damit in unverantwortlicher Weise deren Zukunftschancen. Wer derartige Probleme heute nicht wirksam angeht, wird sich morgen den Vorwurf gefallen lassen müssen, ihrer Instrumentalisierung durch Rechtspopulisten Vorschub geleistet zu haben. Denn eines steht fest: Ohne eine gelingende Integration der Minderheiten droht das bei der Mehrheitsbevölkerung vorhandene Ressentiment immer mehr in den Wunsch nach Ausschluss und Abschiebung umzuschlagen. Und der nächste Sarrazin kommt bestimmt. Es wird deshalb alles darauf ankommen, Migranten in allen Bereichen, vor allem aber auf dem Arbeitsmarkt, zur Teilhabe an der Gesellschaft zu befähigen.

Derartige Integrationsprobleme betreffen jedoch bei weitem nicht nur Teile der migrantischen Bevölkerung. Die jüngste Shell-Jugendstudie hat ergeben, dass 33 Prozent aller Kinder aus sozial benachteiligten Familien der Zukunft pessimistisch begegnen, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft. Denn auch bei ihnen treten massive Integrationsprobleme infolge mangelhafter schulischer Bildung auf. Deshalb kommt es vor allem darauf an, die unselige Polarisierung zwischen Deutschen und Migranten zu entschärfen, die die „Bild“-Sarrazin-Offensive hervorgerufen hat. Eigentlich richtet sich Sarrazins biologistischer Nützlichkeitsdiskurs nämlich keineswegs „nur“ gegen Muslime, im Gegenteil: Von Ausschluss bedroht – bis hin zur gezielten Bevölkerungspolitik – sind bei ihm (wie bei vielen Rechtspopulisten in Europa) alle, die nicht zur ökonomischen Nutzenmaximierung beitragen. Erst wenn es gelingt, den Bürgern klarzumachen, dass wir alle, ob Eingeborener oder Einwanderer, gegenüber einer derartigen sozialdarwinistischen Logik im selben Boot sitzen – erst dann kann von deutscher Einheit zumindest in Ansätzen die Rede sein.

 


[1] Vgl. Albrecht von Lucke, Demokratie ohne Volk, in: „Blätter“, 7/2010, S. 5-9.

[2] Ulli Kulke, Endlich mehr Klarheit, in: „Die Welt“, 25.8.2010.

[3] Vgl. Bester Feind, in: „Der Spiegel“, 11/1969,
S. 65 f.

[4] Vgl. Albrecht von Lucke, Die gefährdete Republik. Von Bonn nach Berlin: 1949-1989-2009, Berlin 2009.

[5] Maritta Tkalec, Sozialdemokrat Buschkowsky, in: „Berliner Zeitung“, 10.9.2010.

[6] Gilbert Schomaker, Wowereits Juristen zweifeln am Integrationsgesetz, in: „Berliner Morgenpost“, 26.8.2010.

(aus: »Blätter« 10/2010, Seite 5-9)