Das große Zwitschern

Der Zebrafink ist das neue Parademodell der Verhaltensforschung. Wenn er singt, interagieren Genom und Synapsen im Vogelhirn. Das Dogma der neuronalen Plastizität genetisch gewendet.

Von Cord Riechelmann


Es ist noch nicht so lange her, dass man lernen musste, dass Nervenzellen nur einmal wachsen. Eine Nervenzelle, so lautete das Dogma, wächst heran, tut ausgewachsen ihren Dienst und stirbt irgendwann. Eine Erneuerung oder ein Nachwachsen von Nervenzellen im entwickelten Organismus galt als ausgeschlossen. Deshalb werden Organismen mit zunehmendem Alter immer blöder und deshalb konnten Lehrer Ge­nerationen von Schülern mit dem Satz „was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ traktieren.


Der Vogel

Erschüttert wurde das Dogma von der unveränderlichen Nervenzelle durch die Befunde der Arbeitsgruppe um den Biologen Fernando Nottebohm Ende der sieb­ziger, Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Nottebohm hatte herausgefunden, dass sich bei Kanarienvögeln die für die Kontrolle und Spei­cherung von Stimm- und Gesangsmustern zuständigen Areale im Vogelhirn im Herbst zurückbilden und im Frühjahr neu nachwachsen. Das tun sie im jahreszeitlichen Wechsel bei ausgewachsenen Vögeln über die gesamte Lebensspanne.

Neurone konnten sich also sehr wohl im Organismus neu bilden und somit alte ersetzen. Man hatte damit eine Erklärung für das Phänomen gefunden, dass Kanarienvögel jedes Jahr veränderte Lieder singen. Da Kanarienvögel ihre Lieder wie alle Singvögel lernen müssen, hatte man gleichzeitig auch einen Modellorganismus für das, was man heute lebenslanges Lernen nennt. Es war aber nicht nur die Tatsache, dass sich Nervenzellen erneuern können, die das kleine Singvogelhirn zu einem neuen Vorbild für das Bild vom Hirn machte. Es ließ sich am Vogelhirn auch zeigen, wie im Prozess des Lernens Nervenzellen, Synapsen und auch ganze Hirnareale neue Ver­knüpfungen untereinander herstellen und sich in Abhängigkeit von der jeweiligen Verwendung verändern. Ein Phänomen, das als neuronale Plastizität beschrieben wird und den Spielraum der Gestaltung beziehungsweise Selbst­gestaltung des Gehirns in Abhängigkeit von dem Gebrauch, den man von ihm macht, beschreibt.


Der Professor

Interessant für die allgemeine Tendenz der Neurobiologisierung der Wissenschaften ist Nottebohms Ausbildung. Nottebohm ist Professor im Labor für Animal Behavior am Field Research Center für Ökologie und Verhaltensbiologie der Rockefeller Universität in New York. Als klassischer Verhaltensbiologe mit einem Faible für die Ornithologie ist er über das Gesangslernen der Singvögel sozusagen in der Neurobiologie gelandet. Wobei er mit den Kanarienvögeln natürlich auch Glück hatte, denn auch unter Singvögeln organisieren nicht alle Formen jedes Jahr ihr Hirn um und singen neu gelernte Lieder.

Es gibt auch unter Singvögeln solche, die im Alter konservativ werden und keine neuen Lieder singen, sondern nur einmal Gelerntes immer wieder wiederholen. Dazu zählen zum Beispiel Nachtigallen und die australischen Zebrafinken. Die kleinen Zebrafinken, wissenschaftlich: Taeniopygia guttata, sind hierzulande beliebte Ziervögel. Sie lassen sich leicht halten, sind freundlich und sehen gut aus. Mit Sicherheit haben diese Eigenschaften auch dazu beigetragen, dass die Prachtfinken zu Modellorganismen in der Ökologie, Verhaltensforschung und den Neurowissenschaften wurden.


Vom Gen...

Aktuell kommt nun noch die Genetik dazu, denn in der Ausgabe der Fachzeitschrift Nature vom 1. April dieses Jahres wurde das Genom des Finken vorgestellt.(1) Zebrafinken sind damit die ersten Singvögel, deren Genom sequenziert wurde. Die Veröffentlichung des Singvogelgenoms ist aber nicht nur wegen ihres faszinierenden Inhalts interessant, sie steht ganz allgemein auch für eine Ausweitung des Plastizitätskonzeptes auf die Genetik.

Schon der Pressetext der FU Berlin zum Thema zeugt von einer leichten Verschiebung in den Mitteilungen zum Genom und zur Genetik. „Zwitschernde Gene“ haben die Presseleute ihren Hinweis auf die Sequenzierung überschrieben. Früher hätten sie mindestens vom „Sing-Gen“ fabuliert, das jetzt endlich entdeckt sei.

Dass davon nicht mehr die Rede ist, hat auch damit zu tun, dass ein anderes Dogma als das von der unerneuerbaren Nervenzelle gefallen ist: das von der einseitigen Genexpression. Das Modell von der nur in eine Richtung verlaufenden Genexpression, nach dem die DNS die RNS produziert und die RNS dann die Proteine hervorbringt und in weiteren Schritten den Organismus, lässt sich in seiner Ausschließlichkeit nicht mehr halten. Die Befunde mehren sich, das auch ein Informationsfluss vom Orga­nismus zurück zum Genom stattfindet. Das hatte der Drosophila-Genetiker C.H. Waddington zwar bereits Anfang der sechziger Jahre festgestellt, als er schrieb, dass „doch mit Sicherheit ein Informationsaustausch in beide Richtungen stattfindet“ - vom Gen zum Zytoplasma und umgekehrt. Herumgesprochen hat sich diese Erkenntnis aber auch heute noch nicht unter allen Biologen. So konn­te man noch im Darwinjahr bei einem Vortrag eines Evolutionsbiologen hören, wie dieser die Rückwirkung vom Körper auf das Genom apodiktisch bestritt. Der Text zum Zebrafinken-Genom könnte ihm dabei helfen, seine Sicht zu ändern. Denn er ist tatsächlich so etwas wie die Be­schrei­bung einer schwimmenden oder auch zwitschernden Materie, die das Genom darstellt.


... zum singenden Genom

Von der starren Substanz, wie sie die Entdecker der DNS-Doppelhelix James Watson und Francis Crick sahen, ist nicht mehr viel übrig. Im Gegenteil: Das Genom des Zebrafinken wird als ein dynamisches beschrieben, das andauernd mit den Aktivitäten des Vogels und damit natürlich auch mit seiner Umgebung in Verbindung steht. Wenn ein junger lernender Vogel sich im Singen übt, werden in den für die Kontrolle zuständigen Hirnarealen mehr als die Hälfte des gesamten Genoms aktiviert.

Die Genexpression während des Vortrags ändert sich aber ständig auch in Abhängigkeit des Kontextes, in dem der Vogel singt. Die Genantworten ändern sich auch mit der Dauer des Gesangs. Beherrscht der Vogel etwa sein Lied, nehmen die Genaktivitäten ab oder verlagern sich an andere Stellen des Genoms. Ähnliches ist zu beobachten, wenn die Vögel die Lieder nur hören.

Auch das Hören führt zu sich ständig verändernden Genexpressionen in den auditorischen Zentren des Vogelhirns. Über die Funktion der changierenden Genakti­vi­täten können die Wissenschaftler bis jetzt nur spekulieren. Vermutlich, so schreiben sie, unterstützen oder hemmen die Genomaktivitäten den Lernprozess und helfen, die Informationen über die Spanne des Tages im Gedächtnis zu integrieren, ein Integrationsprozess, der auch die Veröffentlichung selbst beschreibt. Es haben Wissenschaftler aus 20 Instituten weltweit Daten für die Genomsequenzierung zusammengetragen. Entsprechend lang ist die Autorenliste. Zu den Autoren gehört auch Constanze Scharff, die die Abteilung Verhaltensbiologie an der FU Berlin lei­tet, wo seit Jahren an den Mechanismen des Gesangslernens von Nachtigallen und jetzt auch Zebrafinken gearbeitet wird.


Plastizität

Der Einbezug von Verhaltensdaten in die Beschreibung der Genomaktivitäten verlängert dabei, salopp gesagt, die neuronale Plastizität auf die Struktur des Genoms. Der alte Gegensatz von Vererbung und Umwelteinfluss löst sich im Zwitschern der Gene auf; beziehungsweise die Gene bleiben buchstäblich für die von außen kommenden Töne offen.

Der Witz am Zebrafinkengenom liegt nämlich auch im Vergleich mit dem des Huhnes. Bisher war das Hühner­genom das einzige Genom, das bei Vögeln sequenziert worden ist. Hühner gehören zu den Nicht-Singvögeln,ihnen fehlt die Fähigkeit, neue Tönen zu lernen und zu eigenständigen Kompositionen zusammenzusetzen. Nicht-Singvögel sind entwicklungsgeschichtlich älter als Singvögel. Ein Vergleich von Hühner- und Zebrafinken­genom könnte also auch Aufschluss über die genetischen Grundlagen der Gesangsfähigkeit bieten.

Die Unterschiede, die die Forscher fanden, lagen nicht in der Gesamtstruktur des Genoms, darin glichen sich Huhn und Fink. Unterschiede gab es aber in der innerchromosomalen Ordnung. Beim Singvogel waren die Gene in gewisser Weise umgestellt. Nicht die Struktur macht die Unterschiede aus, sondern ihre Anordnung und Anwendung. Mit Niklas Luhmann könnte man sagen, es ist einzig die Steigerung der Komplexität der Interaktionen im Genom und im Austausch zwischen Genom, neuronalem System und den Einflüssen auf den Organismus, die den Sprung vom Huhn zum komponierend singenden Vogel bedingen.



Cord Riechelmann hat den Nachtigallengesang erforscht, bevor er Wissenschaftsjournalist geworden ist.



Fußnote:

(1) Genetics: Hitting the right notes, in: Nature 464, 2010, pp. 757-762.