Eine Einführung
Dicksein gilt als unästhetisch. Vor allem aber gilt Dicksein als
gesundheitsschädlich. Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation
WHO sprechen von einer globalen Seuche und sehen den dicken Bauch als
das zukünftige Gesundheitsproblem Nummer eins. Die Folgen dieser
„Übergewichts-Epidemie“ werden in dramatischen Worten geschildert.
Prophezeit werden nicht weniger als ein Rückgang der Lebenserwartung und
ein Kollaps des Gesundheitssystems.
Hinter der Erzählung von der
„Übergewicht-Epidemie“ stehen einerseits finanzielle Interessen der
Pharma- und Diätindustrie, andererseits ein Menschenbild, das Menschen
nach ihrer vermeintlichen Leistungsfähigkeit beurteilt und in Gruppen
einteilt. Die Gruppe der Dicken steht dabei symbolisch für die
undisziplinierten Leistungsverweiger_innen. Verschärft wird diese
Rhetorik durch die Diskussion um die (Teil-) Privatisierung des
Gesundheitssystems und die zunehmende Abwälzung der Kosten auf die
Versicherten. Hier eignen sich vermeintlich selbstverschuldete
Gesundheitsrisiken als Argumente, um Kürzungen und Umverteilungen zu
rechtfertigen. Neue Munition hat die Diskussion um die schädlichen
Folgen des Dickseins in Deutschland durch die Unterschichts-Debatte
bekommen. Nicht Armut im Portemonnaie, sondern Undiszipliniertheit und
mangelnde Leistungsbereitschaft tragen demnach zum kulturellen Verfall
der Unterschicht bei, versinnbildlicht nicht zuletzt durch den dicken
Bauch.
Gegen die alltägliche Diffamierung Dicker in Alltag, Politik und
Populärkultur wendet sich in den USA die in den 1970er Jahren
entstandene Fat-Acceptance-Bewegung. Die Mehrzahl der Aktivist_innen
argumentieren, dass das individuelle Körpergewicht weitgehend genetisch
bestimmt ist. Jeder Mensch hat demnach ein „natürliches“ Gewicht, das
zwar durch das Lebensumfeld beeinflusst wird und sich im Verlauf des
Lebens ändert, das sich aber durch Diäten und Sport nicht oder
jedenfalls nicht dauerhaft nennenswert reduzieren lässt. Dieses in der
Wissenschaft als „Setpoint“ bezeichnete individuelle Körpergewicht gilt
es zu respektieren: denn es handelt sich dabei aus Sicht der
Aktivist_innen um eine konstante körperliche Eigenschaft, nicht anders
als Hautfarbe, Körpergröße oder primäre Geschlechtsorgane.
Auch wenn
der Rekurs auf genetische Determinismen aus kritisch-emanzipatorischer
Perspektive in anderen Diskursen höchst problematisch erscheint, gilt es
inzwischen im medizinischen Mainstream als unstrittig, dass Menschen,
unabhängig von aufgenommener Nahrung und körperlicher Bewegung,
unterschiedlich viel wiegen.
War Fat-Acceptance anfangs vor allem ein soziales Phänomen, so hat
sich seit der Dramatisierung des Diskurses unter dem Stichwort
„Übergewichts-Epidemie“ in den 1990er Jahren das Einsatzfeld erweitert.
Mediziner_innen und Epidemiolog_innen, die Zweifel an der gängigen
Darstellung der „Übergewichts-Epidemie“ hegen, arbeiten in den USA
vermehrt mit Sozialwissenschaftler_innen und Aktivist_innen zusammen.
Die Betätigungsfelder für Fat-Acceptance sind vielfältig. Jurist_innen
beschäftigen sich mit Anti-Diskriminierungsgesetzen und setzen sich
z. B. für die rechtliche
Gleichstellung von Übergewichtigen bei
Adoptionen ein; oder sie verteidigen die Eltern dicker Kinder gegen
Misshandlungsvorwürfe. Zum Hintergrund:
In Großbritannien und den
USA werden Eltern dicker Kinder regelmäßig mit Sorgerechtsentzügen
bedroht. Mediziner_innen und Politiker_innen fordern „Eltern, die ihre
Kinder überfüttern, nicht anders zu behandeln als solche, die ihre
Kinder hungern lassen oder sonst wie misshandeln“.
Gesundheitswissenschaftler_innen und Mediziner_innen setzen sich unter dem Stichwort „Health at Every Size“ (Gesundheit mit jedem Gewicht) gegen die Gleichsetzung von dick und krank ein. „Plus Size“ Models erobern die Laufstege der angesagten Modemessen. Und vor allem in queeren Zusammenhängen boomen Events, die dicke Körper zelebrieren und erotisieren. Ob es sich bei diesen vielen unterschiedlichen Ansätzen schon um eine soziale Bewegung handelt, bleibt fraglich. Bislang fehlt es Fat-Acceptance an gemeinsamen Forderungen und an einem politischen Selbstverständnis. Ob sich Fat-Acceptance in den kommenden Jahren zu einer schlagfertigen Bewegung entwickeln wird, bleibt daher offen. Zumindest auf akademischer Seite sind aber erste Erfolge in Sicht.
2009 haben Esther Rothblum, Professorin für Women’s Studies an der San Diego State University und die Juristin Sondra Solovay den Fat Studies Reader herausgegeben, der die unterschiedlichen gesellschaftlichen Facetten von Gewichtsdiskriminierung und Gewichtsemanzipation zusammenfasst. Esther Rothblum, die seit den 1980er Jahren Forschung zu Gewichtsdiskriminierung betreibt, will mit dem Reader und einem gleichnamigen wissenschaftlichen Journal Fat Studies als vollwertiges Fach an den Universitäten zu etablieren. Im Interview erzählt sie, wann und warum sie sich für das Thema zu interessieren begann, und wie sie den Stand der Bewegung heute einschätzt.