Anarchie lässt sich nicht verbieten

Trotz Medienhetze hat der Anarchistische Kongress in Berlin stattgefunden

Schon lange nicht mehr hat „BERLINS GRÖSSTE ZEITUNG" dem Thema Anarchismus soviel Platz eingeräumt wie am 9. April 2009.  In gigantischen Lettern schreit die BZ-Titelseite einem Millionenpublikum ins Gesicht: „CHAOTEN-KONGRESS AN BERLINER UNI".

 

Auf Seite sechs der Springer-Gazette prangt die Schlagzeile „500 Chaoten wollen an der TU Anarchie lernen". Die Massenmeinungsbildner weiter: „Am Osterwochenende veranstalten Links-Radikale an der Uni einen Kongress, um für eine Gesellschaft ohne Regeln zu kämpfen. Auf dem Seminarplan stehen ‚Hausbesetzung - Wie geht das?' und ‚Anarchie und Sex' ... Das Ziel der Teilnehmer: ‚Eine neue, herr­schaftslose Gesellschaftsordnung schaffen'."

„Gesellschaft ohne Regeln"??? Meine Güte, wo haben die BZ-„Journalisten" Thore Schröder und Konstantin Marrach das denn her? Eine „herrschaftslo­se Gesellschaftsordnung", ja genau, aber das bedeutet bekanntlich nicht „ohne Regeln". Anarchie ist nicht Chaos und Terror, sondern Ordnung ohne Herrschaft, libertärer Sozialismus und Basisdemokratie statt Kapitalismus, gegenseitige Hilfe statt Konkurrenz,... Oder, wie es Immanuel Kant schon 1798 ausdrückte: „Anarchie ist Freiheit und Gesetz ohne Gewalt."

Aber weiter im Springer-Text. Das Boulevardblatt zitiert „CDU-Innenexperte" Robbin Juhnke: „Hier wird quasi zur Begehung von Straftaten aufgerufen, das kann und darf eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft nicht hinnehmen."

BZ-Chefkommentator G. Schu­pelius gibt sich als absolut toleranter Freigeist und behauptet im nebenstehenden Kommentar: „Die Universität ist der Ort der geistigen Freiheit und der absoluten Toleranz." Und um diese überraschende Aussage unmittelbar zu widerlegen, befiehlt er im nächsten Satz seinen Untergebenen: „Sie muss vor diesen Linksradikalen ihre Türen verschließen."

 

Springer befiehl - wir folgen dir?

Tatsächlich! Wenn die Gossenpostille so pöbelt, dann wird ein nicht dem Mainstream entsprechender Bildungskongress kur­zerhand verboten, dann kuschen „rote" Politiker und Uni-Leitung. Duckmäusertum! Viel mehr brauchen wir zum Zustand der hiesigen Demokratie nicht sagen. Springer petzt, hetzt und triumphiert: „Die BZ konfrontierte die TU-Leitung, die nicht informiert war, mit den Anarcho-Plänen. Am Abend erklärte eine Sprecherin: ‚Die Veranstaltung wurde von dem Asta ohne unsere Genehmigung geplant. Wir werden versuchen, den Kongress zu unterbinden.' Kenneth Frisse, Sprecher von Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) sagte: ‚Wir begrüßen diese Entscheidung der TU.'"

Na ja, liebe AnarchistInnen, es hätte schlimmer kommen können! Erinnern wir uns: Vor 41 Jahren schlagzeilte die Springer-Presse „Stoppt Dutschke und seine rote Bande jetzt", woraufhin ein dadurch verhetzter Leser einen Mordanschlag auf den linken Studenten verübte. Diesmal wurde glücklicher Weise kein Mensch niedergeschossen, sondern stattdessen nur die Türen der Technischen Universität für die AnarchistIn­nen geschlossen. Und das war letztlich gar nicht so schlimm. Die Anarchistische Föderation Berlin (AFB) setzte Plan B in die Tat um. Der Kongress fand im guten alten Be­thanien in Kreuzberg statt.

 

Neue Gesichter

Eigentlich wollte ich schon am Freitagmorgen nach Berlin fahren. Nach mehreren Telefongesprächen mit GenossInnen war aber am Donnerstagabend noch nicht klar, ob der Kongress überhaupt stattfinden kann. Und die Aussicht, für umme nach Berlin zu fahren, um dort meinen Lichtbildvortrag über Anarchismus und libertäre Presse womöglich in der U-Bahn abzuhalten, erschien mir wenig attraktiv.

Am Freitag telefonierte ich dann weiter mit mehreren Ge­nossInnen, die mir begeistert von der tollen Atmosphäre und den über 500 bereits teilnehmenden AnarchistInnen berichteten.

Nun, mein Vortrag war für Sams­tagabend angekündigt. Und als „pflichtbewusster" Agitator für die Sache der Anarchie lasse ich mich nicht lange lumpen. Samstagmittag kam ich in Kreuzberg an. Tatsächlich waren die Stimmung und das Wetter prächtig. Es freute mich ungemein, neben alten FreundInnen auch viele neue Gesichter zu sehen.

Das Durchschnittsalter der Be­sucherInnen lag - so würde ich schätzen - etwa bei 22 und das der ReferentInnen vielleicht bei 44 Jahren. Damit ist einiges gesagt. Dieser Kongress war für junge Libertäre sicher ein gutes und wichtiges Info-Happening zum Thema „Was ist eigentlich Anarchie?".

Für ältere AnarchistInnen wie mich hatte er aber ehrlich gesagt kaum Neues zu bieten. Schließlich ist unsereins mit vielen der ReferentInnen befreundet und hat die meisten der dort gehaltenen Vorträge schon irgendwie, irgendwo und irgendwann gehört oder gehalten. Letzteres dürfte auch ein Grund dafür sein, dass relativ wenige „Alt-AnarchistIn­nen" gekommen sind. Die Vorbereitung des Kongresses wirkte im Vorfeld ein biss­chen übers Knie gebrochen. Etliche hatten keine Lust, nach Berlin zu fahren, weil sie durch den lange Zeit nicht bekannt gegebenen Veranstaltungsort und eine als - ich zitiere eine ältere Anarchistin - „etwas lieblos" und überfordert wirkende Erklärung der AFB keinen guten Eindruck gewonnen haben. Vielleicht hat es die organisierende Gruppe tatsächlich ein bisschen versäumt, frühzeitig an erfahrenere GenossInnen heranzutreten und viele Gruppen verbindlich in die Planung und Organisation einzubinden? Das war z.B. Ostern 1993 bei den Libertären Tagen in Frankfurt am Main noch anders. Dieser Kongress wurde über mehrere Jahre vorbereitet. 3.000 Menschen nahmen teil. Der Eintritt war nicht frei, dafür gab es zum Beispiel eine funktionierende Kinderbe­treuung, eine gut organisierte Schlafplatzbörse, Fahrt­kostenerstattung für Referen­tInnen, angemessen große Ver­anstaltungsräume, frühzeitige und verbindliche Raumzusa­gen, viele Junge und Alte, die am Thema Anarchie Interesse zeigten ... Beim Anarchistischen Kongress Ostern 2009 in Berlin kam es während des am späten Sams­tagabend von etwa 300 Leuten auf der Wiese abgehaltenen „Anarchie und Sex"-Workshops zu einem Eklat, weil ein Mann von „Fuck for Forest" (FFF) aus dem Dunkeln heraus eine Diskussionsteilnehmerin respektlos anpöbelte: „Bist du et­wa eine Kampflesbe?!" Dies war mitentscheidend dafür, dass der Kongress 24 Stunden später frühzeitig von der „Orga-Gruppe" für beendet erklärt wurde.

Ich habe das nicht so richtig mitbekommen, da ich schon am Sonntagnachmittag wieder zurück zu meiner Lebensgefährtin und meinen Kindern gefahren bin. Trotzdem kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das, was sich nun auf http://de.indymedia.org/2009/04/247021.shtml?c=on#c567030 an Diskussionsbeiträgen zu diesem Konflikt findet, dem Kongress als Ganzem nicht gerecht wird. Trotz der widrigen Umstände empfand nicht nur ich ihn nämlich zu einem großen Teil als gelungen.

 

Fazit

Wenn fünf „Fuckers for Fo­rest", die mit Anarchismus offensichtlich wenig am Hut haben, sondern primär für ihre „Ficken für den Regenwald"-Por­noseite werben wollen, mit dummen Sprüchen und einem Striptease einen Kongress zum Platzen bringen können, dann fehlt es einigen GenossInnen vielleicht an der nötigen Souveränität, Gelassenheit, Selbstironie und an schwarz-rotem Humor? Das ist schade. Denn es ist be­kanntlich ein Lachen, das die Herrschenden besiegen wird. Beim nächsten A-Kongress wird alles besser. Dann viel­leicht auch mit Libertären als aller Welt und mit Themen, die diesmal fehlten: „Krise", „Antimilitarismus", „Anti-Sexismus", „Gewaltfreier Widerstand", „Anti-Rassismus", „Anti-Atom", ...

 

Bernd Drücke

 

P.S.: Eine Prophezeiung: Wer BERLINS GRÖSSTE REALSATIREZEITUNG gelesen hat, darf vermuten, dass die Titelschlagzeile zum nächsten A-Kongress so aussehen könnte: „TERROR-ANARCHOS JAGEN WEINENDE POLIZISTEN DURCH BERLINS STRASSEN". Wetten, dass...

 

Infos und Diskussionen zum A-Kongress:

www.akongress.org

http://projekt-menschwerdung.com/wiki

Pressemitteilung AStA TU Berlin: http://asta.tu-berlin.de/referate/offentlichkeit/pressemitteilungen/9-april-tu-prasidium-sagt-nach-bz-artikel-anarchismus-kongress-ab

Indymedia: http://de.indymedia.org/2009/04/246765.shtml?c=on#comments2

Radio-Interview: www.freie-radios.net/portal/content.php?id=27432

www.alpineanarchist.org/r_akongress_deutsch.html

http://fda-ifa.org/Members/Rudi/meine-subhomepage/artikel-sammlung/kontext-rules-zu-den-hetero-sexistischen-vorfallen-wahrend-des-a-kongresses-in-berlin-von-einer-teilnehmerin-des-kongresses

http://fda-ifa.org/Members/Rudi/meine-subhomepage/artikel-sammlung/stellungnahme-zu-a-kongress

 

Presse zum A-Kongress: Chaoten planen TU-Kongress www.bz-berlin.de/aktuell/berlin/chaoten-wollen-anarchie-lernen-article421244.html

www.bz-berlin.de/aktuell/berlin/tu-stoppt-chaoten-kongress-article422844.html

Linksextremisten planen Kongreß an Berliner Universität: www.jungefreiheit.de/Single-News-Display.154+M5820e96a5cf.0.html

Anarchie Aktuell: www.taz.de/regional/berlin/aktuell/artikel/?dig=2009%2F04%2F08%2Fa 0148&cHash=a2ead2a919

www.taz.de/regional/berlin/aktuell/artikel/1/die-tu-sperrt-anarchisten-aus/

Interview mit Jürgen Mümken: Für mich heißt Anarchismus auch Antikapitalismus: http://jungle-world.com/artikel/2009/15/33933.html

http://www.jungewelt.de/2009/04-14/021.php

 

Artikel aus Graswurzelrevolution Nr. 339, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, 38. Jahrgang, Mai 2009, www.graswurzel.net