„Wir“ und „die Juden“

Gegenwärtiger Antisemitismus als Differenzkonstruktion

Im Kontext der Forschung über gegenwärtige Formen von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Rechtsextremismus wird der Frage nach dem Stellenwert und der Verbreitung antisemitischer Orientierungen keine zentrale Bedeutung zugemessen. Dies stellt eine Reaktion darauf dar, dass der thematische Fokus des modernisierten Rechtspopulismus und Rechtsextremismus die Ablehnung von weiterer Zuwanderung und die Forderung nach Wiederherstellung eines ethnisch und kulturell homogenen Nationalstaates war und ist. Das schließt antisemitische Positionen zwar durchaus ein. Sie werden jedoch – wohl auch aus taktischen und rechtlichen Gründen – gewöhnlich nicht offensiv vertreten.1 So formuliert ein prominenter Repräsentant der bundesdeutschen Rechten, der Vorsitzende der ‚Jungen Nationaldemokraten‘ Stefan Rochow, in einem von uns geführten Interview:
„Also ich würde sagen, also direkt in der politischen Ausrichtung spielt das Thema Antisemitismus eigentlich überhaupt keine Rolle. Also wir sind ganz bewusst – also wir zumindestens versuchen ganz bewusst auch zeitgemäße Themen oder zeitgemäße Politik zu machen. Und ich denke, irgendwelche Politik, also grade gegen jüdische Minderheiten, halte ich nicht für zeitgemäß.“ ...
„Also ich für meinen Teil empfand – empfinde den Juden jetzt auch nicht als DEN Feind und das Thema, wo man jetzt drüber diskutieren müsste. Also in vielen Bereichen wie – da, da denk, denk ich grade Islamisierung, Verausländerung [??]. Das halt ich also für, für, für viel, viel wichtiger als das Thema der Juden.“2
In vorliegenden repräsentativen Studien wird gleichwohl eine keineswegs zu vernachlässigende Verbreitung antisemitischer Einstellungen nicht „nur“ bei denjenigen deutlich, die insgesamt ein rechtsextremes Weltbild aufweisen.3 Schon deshalb kann die Frage, was gegenwärtigen Antisemitismus kennzeichnet und wie seine Entstehung und Verbreitung zu erklären ist, keineswegs als irrelevant betrachtet und in die Zuständigkeit eines wissenschaftlichen Spezialdiskurses verwiesen werden, dem keine gesellschaftspolitische Relevanz zukommt. Zudem gibt es Anzeichen für eine Enttabuisierung antisemitischer Positionierungen – nicht zuletzt im Zusammenhang von Auseinandersetzungen über den Nahostkonflikt – sowie für die Verbreitung eines sekundären Antisemitismus, der darauf ausgerichtet ist, eine positive Bestimmung des nationalen Selbstverständnisses dadurch zu ermöglichen, dass das Ende der Verpflichtung eingefordert wird, deutsche Identität im historischen Bezug auf Nationalsozialismus und Holocaust zu bestimmen. So stimmen in einer neueren Umfrage zwar 76% aller Befragten der Äußerung zu: „Mich beschämt, dass Deutsche so viele Verbrechen an Juden begangen haben“; 65% stimmen aber zugleich der Forderung zu: „Es wird Zeit, dass unter die nationalsozialistische Vergangenheit ein Schlussstrich gezogen wird“, und 78% bejahen die Frage, ob sie „stolz sind, Deutsche zu sein“ (Allbus 2006).
Gegenwärtiger Antisemitismus kann insofern keineswegs zureichend als Effekt der Tradierung einer überlieferten Ideologie begriffen werden, deren Bedeutung mit zunehmender generativer Distanz und infolge des Einflusses der historisch-politischen Bildung geringer wird. Es genügt also nicht, Tradierungsprozesse zu untersuchen. Vielmehr ist auch danach zu fragen, ob sich ein veränderter Antisemitismus abzeichnet und unter welchen Bedingungen dieser Resonanz findet.
Vom Interesse geleitet, zur empirischen Fundierung der einschlägigen Debatten (etwa Bergmann 2005; Rabinovici et al. 2004) beizutragen, haben wir eine qualitative fallrekonstruktive Studie4 durchgeführt, die darauf ausgerichtet war, unterschiedliche Ausprägungen antisemitischer und anti-antisemitischer Positionierungen sowie die diesen zugrunde liegenden Wahrnehmungen, Motive und Begründungen zu analysieren. Im Folgenden werden ausgewählte Ergebnisse dieser Studie dargestellt. Dabei wird akzentuiert, dass eine angemessene politische und pädagogische Auseinandersetzung mit gegenwärtigem Antisemitismus auf eine Beschreibung der heterogenen Differenzkonstruktionen angewiesen ist, in deren Rahmen sich antisemitische Überzeugungen als subjektiv plausible und begründbare Deutungen darstellen.

Moralische Codierung und sinnverstehende Empirie
Gängige Thematisierungen von Antisemitismus gehen im politischen und medialen, aber auch im wissenschaftlichen Diskurs von zwei Prämissen aus, die für die Bestimmung des Forschungsgegenstandes folgenreich sind: Zum einen wird angenommen, dass eindeutig zwischen denjenigen unterschieden werden kann, die antisemitischen Positionen zustimmen, und denen, die diese ablehnen. Denn die Möglichkeit uneindeutiger Haltungen scheint sich aufgrund der moralischen Dimension der Thematik prinzipiell auszuschließen. Zum anderen wird Antisemitismus als eine im Kern irrationale Haltung in den Blick genommen, die jenseits des Bereichs der rational zu begründenden und moralisch zu rechtfertigenden Überzeugungen situiert ist. Die Suche nach Erklärungen richtet sich entsprechend auf die sozialen und psychischen Bedingungen, die dazu führen, dass moralisches Urteilsvermögen eingeschränkt wird und aufklärungsresistente Vorurteile Resonanz finden (Frindte 2006: 205ff.). So wird Antisemitismus auch im aktuell einflussreichen GMF-Survey als Bestandteil des Syndroms „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ betrachtet und als eine der dort erfassten „problematischen Antworten auf soziale Desintegration“ interpretiert (Heitmeyer 2007: 15ff.).
Zwar wird dort durchaus festgestellt, dass Antisemitismus nicht primär als in sich geschlossene Ideologie auftritt, sondern dass „die unterschiedlichen Antisemitismusfacetten sehr heterogen ausgeprägt sind“ (Heyder et al. 2005: 150).5 Dies führt aber nicht dazu, dass der analytische Sinn der Annahme eines singulären Antisemitismus in Frage gestellt wird, der trennscharf von Nicht-Antisemitismus unterschieden werden kann und für dessen Erklärung gemeinsame Merkmale derjenigen relevant sind, die den unterschiedlichen Items zustimmen. Zudem wird dort – wie auch in nahezu allen anderen empirischen Studien der Antisemitismusforschung – auf eine sinnverstehende Rekonstruktion antisemitischer Argumentationen verzichtet.
Mit der quantifizierenden Messung antisemitischer Einstellungen können zwar Aussagen über den Grad der Verbreitung und ihre Korrelation mit sozialen Merkmalen wie Alter, Bildungsniveau usw. getroffen werden; Motive und Begründungen bleiben aber ebenso ausgeblendet, wie komplexere argumentative Stellungnahmen von vornherein nicht zugelassen sind. Damit erzeugt die einschlägige Forschung eine Sichtweise von Antisemitismus, die mit problematischen Vereindeutigungen einhergeht. Denn die – zunächst auch für unsere Herangehensweise leitende – Prämisse einer klaren Unterscheidbarkeit von Antisemiten und Nicht-Antisemiten ist nicht dazu geeignet, ein angemessenes Verständnis der Erzählungen und Argumentationen zu ermöglichen, die in einer offen angelegten Befragung deutlich werden: In den Äußerungen der Befragten artikulieren sich wiederkehrend in sich widersprüchliche Positionierungen; dies gilt insbesondere dahingehend, dass sich durchaus als antisemitisch qualifizierbare Positionierungen mit einer moralisch grundierten generellen Ablehnung von Antisemitismus verbinden. Zudem ist es unseres Erachtens erforderlich – und auch dies ist ein Ergebnis der Interpretation der Daten unserer Befragung –, die Vorstellung zu hinterfragen, dass Antisemitismus angemessen als ein singuläres Vorurteil oder Einstellungssyndrom begriffen werden kann. Die inhaltlich spezifisch ausgeprägten Formen antisemitischer Orientierungen sind angemessen weder notwendig als Varianten einer generellen antisemitischen Vorurteilsbereitschaft noch als differierende Ausprägungen einer ihnen zugrunde liegenden gemeinsamen Ideologie zu bestimmen.

Differenzkonstruktion als Herstellung imaginärer Beziehungen zwischen imaginären Kollektiven
Eine grundlegende Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Positionierungen, die in unserer Befragung deutlich wurden (s.u.), ist darin zu sehen, dass sie von einer als fraglos-selbstverständlich vorausgesetzten Differenzannahme ausgehen: von der Annahme, dass Jüdischsein eine Eigenschaft ist, die eine primäre soziale Zugehörigkeit begründet, und entsprechend davon auszugehen sei, dass die jeweilige – national, ethnisch oder religiös definierte – Eigengruppe grundlegend von „den Juden“ unterschieden ist.
Antisemitismus kann entsprechend zunächst als Konstruktion eines jüdischen Kollektivs in Verbindung mit Abgrenzung und Feindseligkeit gegenüber Juden als ‚Juden‘ (Klug 2005) charakterisiert werden. Bereits in dieser scheinbar trivialen Formulierung steckt eine wichtige These: Was immer auch die vermeintlich konkreten Gründe sein mögen, die aus der jeweiligen Sicht von Einzelnen oder Gruppen Ablehnung, Vorwürfe, Kritik oder Hass gegenüber Juden als begründet erscheinen lassen, ihnen liegt eine für unterschiedliche Formen des Antisemitismus zentrale Differenzannahme zugrunde: Diese beruht auf der Prämisse, dass Juden eine besondere – vom jeweiligen „Wir“ unterschiedene – Gruppe mit besonderen und spezifischen Eigenschaften bilden und dass es Gründe gibt, sich gegen diejenigen, die jeweils als Juden gelten, abzugrenzen, sie abzulehnen oder sie zu bekämpfen. Antisemitismus ist demnach nicht durch bestimmte Inhalte im Sinne von Annahmen über „die Juden“ zu charakterisieren. Die Gemeinsamkeit unterschiedlicher Formen von Antisemitismus liegt vielmehr zunächst erstens darin, dass jüdische Religiosität und/oder Abstammung nicht als eines von vielen Merkmalen einer Person verstanden wird, sondern als eine zentral bedeutsame, alle anderen Aspekte überlagernde Eigenschaft derjenigen, die Juden sind. Zweitens werden „die Juden“ als ein Kollektiv mit besonderen Eigenschaften dargestellt, das sich fundamental und negativ von der national, politisch oder religiös konturierten Eigengruppe unterscheidet. Diese Differenzkonstruktion kann sich mit unterschiedlichen Annahmen darüber verbinden, was „die Juden“ vermeintlich kennzeichnet und weshalb sie als „irgendwie anders“, „fremd“ oder bedrohlich gelten.
Die prinzipielle Differenzsetzung wird auch von den jüdischen Jugendlichen, die wir befragt haben, als grundlegende soziale Erfahrung beschrieben. Für sie scheint es zudem selbstverständlich zu sein, dass sie in eine StellvertreterInnenrolle für Juden und/oder Israelis gedrängt werden:
M:  Vom durchschnittlichen Deutschen, egal wo er jetzt herkommt, Spanien, Albanien oder die Türkei, wird man einfach sofort anders gesehen, einfach obwohl man wie gesagt perfekt deutsch spricht, äußerlich nicht groß anders aussieht, ’nen deutschen Pass hat. Dann ist man halt jüdisch, da ist man sofort ’ne ganz andere Person. In manchen Fällen kommt einem ein richtiger Hass entgegen und sonst ist es halt, man wird anders gesehen. (...) Bevor man Deutscher ist, bevor man sozusagen einer von denen ist, ist man erst mal Jude.
In einer solchen Differenzkonstruktion ist kein spezifisches Merkmal antisemitischer Diskurse zu sehen. Vielmehr kann angenommen werden, dass nationalistische, rechtspopulistische und rechtsextreme Diskurse generell mit Fremdheitskonstruktionen operieren, denen die Unterscheidung zwischen einer imaginären, d.h. durch kategoriale Setzungen ermöglichten Wir-Gruppe und den imaginierten anderen zugrunde liegt, die nach Kriterien der Abstammung oder der Kultur von der Eigengruppe unterschieden werden. Dies verbindet sich in je eigentümlicher Weise mit Annahmen über die unaufhebbare Unterschiedlichkeit, die Höher- und Minderwertigkeit sowie die Gefahren, die von einer Vermischung der jeweils konstruierten Kollektive ausgehen.
Nationalistische, rassistische bzw. kulturrassistische, ethnisierende Vorstellungen über die fremden und bedrohlichen anderen sind nun keineswegs, wie in gängigen Konzepten der Vorurteilsforschung angenommen wird, als Übergeneralisierungen tatsächlicher Unterschiede beschreibbar, sondern konsequent als Differenzkonstruktion zu analysieren (Balibar/Wallerstein 1990: 87ff.; Bauman 1992: 73ff.; Brubaker 1997: 16ff.; Scherr 1999; Hormel/Scherr 2003). Denn sie bilden nicht einfach unabhängig von den jeweiligen Imaginationen über das Eigene und das Fremde vorgängig gegebene Unterschiede ab. Vielmehr existiert die „imaginäre Gemeinschaft“ der Nation, Kultur, Ethnie oder Rasse als eine Gruppe mit gemeinsamen Eigenschaften nicht vorgängig und unabhängig von den Prozessen, in denen jeweilige Merkmale als sozial bedeutsame Unterscheidungen behauptet und mit Annahmen darüber verbunden werden, was vermeintliche Gemeinsamkeiten innerhalb der als homogene Gruppe vorgestellten Kollektive begründet. Der Glaube etwa, dass die Zugehörigkeit zur deutschen Nation auf eine Gemeinsamkeit verweist, die über die Faktizität der staatsbürgerlichen Rechte und Verpflichtungen hinausreicht, basiert nicht auf einem induktiven Schluss aus Erfahrungen und Tatsachenfeststellungen; er gewinnt seine Plausibilität allein aus einem zirkulären Prozess, in dem die Setzung des Unterscheidungsmerkmals Nationalität diejenigen Wahrnehmungen und Zuschreibungen organisiert, d.h. ermöglicht und hervorbringt, die sie als begründet erscheinen lassen.
Es ist nun jedoch nur begrenzt hilfreich, im Hinblick auf die soziale Bedeutung von Differenzsetzungen und Zugehörigkeitsannahmen auf den prinzipiellen Konstruktcharakter zu verweisen. Denn in einer sozialwissenschaftlichen Perspektive kann – und darauf hat Manuel Castells (1997: 7) nachdrücklich hingewiesen – die Feststellung, dass alle Identitäten konstruiert sind, nicht als Ergebnis der Analyse gelten, sondern muss als der Ausgangspunkt von Untersuchungen begriffen werden, die nach den Bedingungen, den Formen und den Folgen solcher Konstruktionsprozesse fragen: „Es fällt leicht, der These zuzustimmen, dass (...) alle Identitäten konstruiert sind. Die entscheidende Frage lautet aber:  womit, durch wen und wozu.“ In einer gesellschaftstheoretischen Perspektive sind insbesondere die Relationen von Identitäts- und Differenzkonstruktionen mit den Strukturen sozialer Ungleichheit, politischen Machtbeziehungen und rechtlichen Festlegungen in den Blick zu nehmen.6
Vor dem Hintergrund vorliegender Studien kann u.E. davon ausgegangen werden, dass sowohl für historische und gegenwärtige antisemitische Ideologien als auch für eher harmlose Alltagsbilder Jugendlicher davon, wer „die Juden“ sind, ein Zusammenhang mit der jeweiligen Wir-Konstruktion grundlegend ist: Annahmen über die Juden sind nicht zuletzt als Annahmen darüber bedeutsam, was „uns“ – im Unterschied zu ‚Juden‘ – charakterisiert. Über ‚die Juden‘ zu reden, heißt immer auch indirekt darüber zu reden, was das jeweilige „wir“ kennzeichnet und wovon sich die Eigengruppe abgrenzt und abgrenzen soll.7 Wenn also „die Juden“ zum Thema werden, dann geht es immer auch darum, die jeweilige „Wir-Gruppe“ zu definieren und ihr positive, „nicht-jüdische“ Eigenschaften zuzuschreiben. Entsprechend fordert Klaus Holz, dass die Antisemitismusforschung immer beide Seiten der konstitutiven Wir-Sie-Konstruktion in den Blick nehmen sollte. Er problematisiert die auf die Beschreibung vermeintlich jüdischer Eigenschaften reduzierte Forschung wie folgt: „Die Konzentration der Antisemitismusforschung auf das Judenbild gleicht deshalb dem Versuch, eine Medaille so zu halbieren, dass sie nur noch eine Seite zu haben scheint.“ (Holz 2001: 17)
Unsere Studie zeigt, dass für antisemitische Identitäts- und Differenzkonstruktionen heterogene Wir-Sie-Unterscheidungen bedeutsam sind: Sie können ebenso auf nationale bzw. ethnische (deutsch/nicht-deutsch) sowie religiöse (Christen/Juden; Muslime/Juden) Klassifikationen bezogen sein, auf soziale Gegenüberstellungen (arm/reich; Arbeit/Nicht-Arbeit) oder auf Selbstverortungen in Machtverhältnissen.

Varianten antisemitischer Differenzkonstruktion
Im Rahmen unseres Forschungsprojektes wurden in unterschiedlichen Regionen der Bundesrepublik  mehr als 20 Gruppeninterviews mit Jugendlichen geführt, die im Hinblick auf ihre politische und jugendkulturelle Verortung sowie ihr formales Bildungsniveau heterogen sind. Die Auswahl der Gruppen war darauf ausgerichtet, für das Thema potenziell relevante Unterschiede differenziert abzubilden. Im Folgenden stellen wir ausgewählte Aspekte der Ergebnisse der Interpretation von drei Interviews dar, um exemplarisch zu verdeutlichen, dass und wie antisemitische Äußerungen in je spezifische Argumentationszusammenhänge eingebettet und auf jeweilige Wir-Konstruktionen bezogen sind.

Juden als irritierende Fremde und moralischer Anti-Antisemitismus
Im ersten der hier darzustellenden Fälle zeigt sich ein – auch in einigen anderen Interviews in ähnlicher Weise auftretendes – Spannungsverhältnis zwischen dem moralisch grundierten Anspruch, nicht antisemitisch zu sein und sein zu wollen, einerseits und einer Unsicherheit im Umgang mit der Irritation, die daraus resultiert, dass Juden als „irgendwie anders“ wahrgenommen werden, andererseits. Die SchülerInnen8 positionieren sich eindeutig gegen Antisemitismus. Zentraler Hintergrund dessen ist ein christlich-humanistisches Selbstverständnis, das auch eine moralische Selbstverpflichtung gegenüber den Opfern des Holocaust einschließt. Die SchülerInnen betrachten Juden jedoch nicht als selbstverständliche und normale Gesellschaftsmitglieder und sind sich in Hinblick auf einige antisemitische Stereotype auch unsicher, ob es sich um abzulehnende Vorurteile oder aber um mehr oder weniger zutreffende Kennzeichnungen vermeintlicher jüdischer Eigentümlichkeiten handelt.
Im Interview werden zunächst unterschiedliche Einschätzungen zu der Frage geäußert, welchen Sinn und welche Bedeutung einer Fortführung der Auseinandersetzung mit dem Holocaust zukommt. Betont wird einerseits, dass diese unverzichtbar sei; andererseits formulieren zahlreiche Jugendliche zum Teil massive Kritik an möglichen Erinnerungsforderungen. Die Positionen in der Gruppe schwanken zwischen einer moralischen Selbstverpflichtung, sich der Vergangenheit zu stellen, und einer Abwehr dagegen, sich darauf verpflichten zu lassen. In Zusammenhang damit betonen die Jugendlichen ihre generative Distanz zum Holocaust und unterstellen, für die an sie adressierten Forderungen, sich weiter mit dem Holocaust zu beschäftigen, seien möglicherweise auch Juden verantwortlich, weil diese eine Sonderrolle reklamieren und an ein Schuldgefühl appellieren würden. Demgegenüber fordern sie ein, dass Juden heute keine Sonderrolle mehr beanspruchen sollten; sie verbinden dies mit der Erwartung, dass Juden, wie auch andere Minderheiten, ihre Besonderheiten nicht herausstellen, sondern sich so weit wie möglich anpassen sollten. Ihre Anpassungsforderungen lassen dabei  kaum noch Raum für Differenz. So changiert ihr Verweis darauf, dass allein eine religiöse Differenz zwischen ihnen und Juden existiere, zwischen dem Bemühen darum, Gemeinsamkeiten zu betonen, und dem Versuch auszublenden, dass für Juden und für das Verhältnis von Juden und Nicht-Juden die Geschichte der Judenverfolgungen einen nicht zu ignorierenden Hintergrund darstellt. Vor dem Hintergrund dessen, was sie als normal und unproblematisch ansehen, prüfen die Jugendlichen über weite Teile des Interviews, auf welche Weise Juden im Hinblick auf Religiosität, Lebensweise, vergangenheitsbezogene Erwartungen und Volkszugehörigkeit als anders – im Unterschied zu „normalen Deutschen“ – zu beschreiben sind. Die Unsicherheit gegenüber Personen und Gruppen, von denen angenommen wird, dass sie in irgendeiner Weise anders sind als die Jugendlichen selbst, bezieht sich im vorliegenden Fall jedoch nicht exklusiv und spezifisch auf Juden, sondern ist auch Ausdruck einer generellen Unvertrautheit mit sozialen Unterschieden zu verstehen, die mit der Einbindung in ein relativ geschlossenes und homogenes Milieu zusammenhängt. Die eigenen Fremdheitswahrnehmungen gegenüber Juden werden von den Jugendlichen  keineswegs geradlinig durch Eigenschaftszuschreibungen rationalisiert, sondern auch als mögliche Folge eigener Haltungen betrachtet.
W7: Ja, vielleicht machen wir uns auch einfach zu viele Gedanken und dadurch gibt’s dann die Probleme, weil wir sie eben nicht als normal annehmen wollen vielleicht auch. Ja, weil irgendwie, wenn man jetzt immer da drüber redet und immer das so überlegt: Könnte es oder könnte es kein Problem geben? Vielleicht entsteht dadurch dann erst so das ... Problem.
Einige: Problem! (Lachen)
W1: Haja!
I: Was glaubst du, woher das kommt, dass man das immer überlegt?
W7: Ja, das könnte ja sein. Ich meine, man ... Wenn man jetzt einfach nicht drüber nachdenkt und einfach irgendwann jemand begegnet und man redet mit dem und man erfährt halt, der ist jüdisch, okay, dann ist es so. Aber wenn man sich vorher immer schon überlegt, wie ist es, wenn ich jemand treffe, der Jude ist, dann ... Wenn dann...
(Zustimmendes Gemurmel)
W7: Ja, dann fällt einem das vielleicht auch noch viel mehr auf.
W3: Man schafft sich das Problem halt selber.
Die Jugendlichen reflektieren also durchaus, dass ihre Differenzannahmen auch Folge ihrer eigenen Perspektive sind. Gleichwohl ist für die SchülerInnen ein gelassener und „normaler“ Umgang mit Juden nicht nur aufgrund des Holocaust unmöglich; denn die von ihnen angenommenen jüdischen Besonderheiten und das Fehlen alltäglicher Begegnungen mit jüdischen Jugendlichen erschweren die Überwindung einer distanzierten Haltung, die Jüdisch-Sein als „was Komisches“ und „was Fremdes“ wahrnimmt.
Im Interview wird weiter erhebliche Unsicherheit in Hinblick auf die Frage deutlich, ob Juden durch ihre Besonderheit nicht auch selbst dafür verantwortlich sind, dass kein normales und problemloses Verhältnis zwischen Deutschen und Juden zustande kommt. Zugleich betonen die Schülerinnen eine moralische Selbstverpflichtung:
W2: Also, ich weiß nicht. Ich denke, man sollte es halt einfach nicht vergessen, was passiert ist. Also, ich finde, ich meine, wir können uns eigentlich nicht verantwortlich dafür fühlen, weil wir nicht im Geringsten was damit zu tun hatten, also wir selber. Aber ich denke, man sollte es halt auf keinen Fall vergessen, also, ja, ich weiß nicht.
W4: Hm (zustimmend).
W2: Und man kann ja auf jeden Fall so denken, dass man nichts gegen die Juden hat, also, das hilft ja vielleicht auch ein bisschen.

Differenzerfahrungen, Universalismus und unvereinbare Judenbilder in einer heterogen zusammengesetzten Jugendclique
Die Jugendlichen dieser Gruppe leben im dörflich-kleinstädtischen Randbereich einer mittelgroßen Stadt. Es handelt sich um eine Jungenclique, die sich in einem Jugendhaus trifft. Zu dieser gehören Jugendliche mit Migrationshintergrund, die bzw. deren Eltern aus Russland, Afghanistan und Italien eingewandert sind, sowie deutsche Jugendliche, zu denen auch ein Sinto gehört, den die Jugendlichen als „Zigeuner“ bezeichnen. Dem Interview ging ein Gespräch mit dem Leiter des Jugendzentrums voraus, der uns auf aus seiner Sicht problematische antisemitische Tendenzen in dieser Clique hinwies. Dass es sich um (männliche) Haupt- und Gesamtschüler – und nicht um GymnasiastInnen – handelt, wird an der undiszipliniert-chaotischen Kommunikationsform der Gruppe deutlich, die auch wiederkehrende jungentypische wechselseitige Provokationen umfasst.
Im Interview verwickeln sich die Jugendlichen in eine Kontroverse zwischen universalistischen, auch Vorurteile und Feindseligkeit gegen Juden zurückweisenden Argumentationen und unterschiedlichen antisemitischen Aussagen einzelner Jugendlicher, die jedoch in der Gesamtgruppe keine Resonanz finden. Die jeweilige Ablehnung wird – anders als im Fall der oben porträtierten Gymnasiastinnen – nicht durchgängig mit generell vorurteilskritischen und moralischen Argumenten begründet. Hintergrund für die mangelnde Resonanz antisemitischer Aussagen ist auch, dass von einzelnen Jugendlichen beanspruchte Hintergrundannahmen und ihr „Wissen“ über „die Juden“ von anderen nicht geteilt werden.9 So sagen z.B. zwei Jugendliche, sie als Moslems müssten Juden aus religiösen und historischen Gründen hassen, sowie auch wegen der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern. Eine Feindbildkonstruktion auf der Grundlage der Unterscheidung „Wir = Moslems – Die = Juden“ ist für die Jugendlichen ohne muslimischen Hintergrund jedoch nicht anschlussfähig, und sie sehen sich auch nicht verpflichtet, der generell antisemitischen Positionierung ihrer muslimischen Freunde zuzustimmen. Vielmehr ziehen sie deren Erzählungen in Zweifel und verweigern die Übereinstimmung.
Ein anderer Jugendlicher berichtet – tendenziell affirmativ – über antisemitische Stereotype, die seiner Einschätzung nach in Russland weit verbreitet sind. Er wirft die Frage auf, ob Juden „jüdisches Blut“ haben und ob sie nicht auch dann ein eigenes Volk seien, wenn sie sich von der jüdischen Religion abwenden. Er behauptet, dass Juden besonders schlau und reich seien und auch sehr viele erfolgreiche Popstars in Russland Juden seien. Seine Darstellung wird von den anderen Jugendlichen jedoch ignoriert.
Den Behauptungen eines besonderen jüdischen Gruppencharakters, die wiederkehrend im Kontext unterschiedlicher Argumentationen einzelner Jugendlicher auftauchen, tritt insbesondere einer der Jugendlichen nachdrücklich und wiederholt entgegen. Er wendet sich gegen Verallgemeinerungen und argumentiert, dass es – insbesondere für Angehörige von Minderheiten – nicht angemessen ist, andere aufgrund ihrer Religion oder Herkunft zu beurteilen.
M6: Ah, es gibt ein Palästinenser hier, aber der ist heut’ nicht da, der ist auf ’ner Messe, das ist so’n Gammler. Seine Verwandten wurden noch getot- getötet von Juden. Also hasst er halt Juden oder? Würde ich auch, ich hasse auch Russen, die in Afghanistan gekämpft haben.
M2[?]: Genau. Ja, weil jetzt zwei Juden jetzt A.s Verwandte getötet haben, könnt ihr doch nicht alle Juden hassen.
M7: Ja trotzdem.
M6: Wir kämpfen nicht gegen alle. Ich sag ja nicht, dass sie, die Moslems dafür nix tun. Was hat – auch die Scheiß Moslems haben World Trade Center kaputt gema-, obwohl’s nur zwei waren. Dort zieht man dann die ganze Moslems da mit rein.
M2: Ja, musst es ja nicht nachmachen, ne ne
M6: Doch. Man lernt ja von anderen Leuten. [Auflachen]
(...)
M2: Man sollte Menschen nicht nach der Religion unterteilen. Oder nach dem Land.
Dieser Jugendliche stellt zugleich die Selbstbeschreibung der sich als Muslime definierenden Jugendlichen in Frage. Er weist darauf hin, dass diese sich nur gelegentlich als Muslime inszenieren und ansonsten religiöse Gebote ignorieren. Damit stellt er auch die vermeintliche Zwangsläufigkeit ihres Antisemitismus in Frage. Seine Einwände finden bei den Jugendlichen der Gruppe auch aufgrund ihrer eigenen Diskriminierungserfahrungen Resonanz. Entsprechend finden die dezidiert antisemitischen Äußerungen der beiden sich als Muslime präsentierenden Jugendlichen keine Zustimmung in der Gruppe, sie werden vielmehr, ebenso wie antisemitische Stereotype anderer Jugendlicher, in Frage gestellt. Konsensfähig ist für die Gruppe dagegen die Vorstellung, dass sie alle aus unterschiedlichen Kontexten kommen und es insofern auch nicht weiter bedeutsam wäre, wenn sich ihnen ein Jude anschließen würde.
In der Gruppe zeigt sich, dass sich – anders, als häufig vermutet wird – unterschiedliche Spielarten antisemitischer Argumentationen nicht zu einem gemeinsamen „globalen Antisemitismus“ verbinden müssen. Vielmehr führt die heterogene Zusammensetzung der Gruppe dazu, dass keine gemeinsame Grundlage für eine Differenzkonstruktion „Wir – die Juden“ verfügbar ist. Das stattdessen in dieser Gruppe entwickelte gemeinsame Selbstverständnis beruht auf drei Merkmalen: der eigenen Männlichkeit, der erlebten Wahrnehmung als „Ausländer“ und der lokalen Identifikation. Das gemeinsame „Wir“ konturiert sich in der Folge vor allem in Bezug auf ein geteiltes Männlichkeitsideal und im Verhältnis zu Mädchen/Frauen als Objekten sexuellen Begehrens sowie in Abgrenzung zur deutschen Mehrheitsgesellschaft.
Differenzerfahrungen scheinen zudem – auch dies stellt einen deutlichen Kontrast zur zuvor porträtierten Gruppe dar – zum Alltag der Jugendlichen zu gehören. So formuliert einer der Jugendlichen, der zuvor noch seinen – für Moslems aus seiner Sicht verpflichtenden – Hass gegen Juden betont hatte, das Folgende:
M8:    ... kann sein was er will. Mir ist’s  egal. Wir sind alle hier Italiener, Deutsche, Afghaner, komm ’mer alles zusammen international, mich interessiert’s nicht, ob jetzt ein Jude oder nicht. Aber wenn er mit Religion anfängt:
M2: Ja mich interessiert nicht mal, ob er Jude ist. [??]
M8: „SCHEISS auf Moslems“ und so’n Zeug. Dann. Das ist dann was anderes.
I: Das macht ja– machen ja Juden normalerweise nicht.
M8: Ah, man weiß nie. Ich sag auch: „Scheiß auf Juden.“
M2: Ja ich dachte, du schlägst ihn nicht weil er’ Jude ist,  sondern weil er sagt „Scheiß Moslem“.
M8: Eben weil, weil die zum Beispiel anfangen oder ich anfange.
M6: Wenn er sagen würde „Scheiß Afghanen“, dann würd’ ich ihn schlagen.
M2: Wir alle sind Menschen. Egal was is.
Die hier eingenommene Perspektive, die die Bedeutung von Gruppenzugehörigkeiten in der für diese Jugendgruppe typischen – in einem bildungsbürgerlichen Kontext zweifellos irritierenden – sprachlichen Form relativiert und die in die Formulierung eines universalistischen Prinzips mündet, ist nicht Ergebnis eines in historischer und moralischer Reflexion begründeten Anti-Antisemitismus oder von distanzierten intellektuellen Auseinandersetzungen mit Vorurteilen und Feindbildern im Kontext von Schule oder außerschulischer Erziehung. Sie wird als evidente Konsequenz der Auseinandersetzung der Jugendlichen mit ihrer Lebenssituation formuliert. Unter-schiedliche nationale und/oder religiöse Hintergründe stellen sich für die Jugendlichen als selbstverständlicher Bestandteil einer Alltagsrealität dar, in der sie sich bewegen und in der eine weitere innere Differenzierung nicht besonders relevant wäre. Juden, die sich in der Wahrnehmung der Jugendlichen ebenso wie sie selbst in einer Minderheitenposition befinden, eignen sich nicht als gemeinsamer Gegner, da die verfügbaren antisemitischen Fragmente auf heterogene Hintergrundüberzeugungen verweisen, die nicht konsensfähig sind.
Generell ist den Jugendlichen der Themenkomplex ‚Juden – Antisemitismus – Holocaust‘ überwiegend gleichgültig. Sie identifizieren sich nicht als Deutsche, sondern als „ausländische“ Jugendliche in „ihrer“ Stadt. Sie sehen sich folglich auch nicht dazu verpflichtet, sich die historisch bedingte Verantwortung der Deutschen zu eigen zu machen. Die gegen eine solche Verantwortungszuweisung gerichteten Abwehrhaltungen, die in einigen „deutschen“ Gruppen auftauchen, fehlen hier.

Sekundär antisemitische Argumentationen im Kontext eines positiven Selbstverständnisses als „bessere Deutsche“
Im dritten hier präsentierten Fall stellen sich die Jugendlichen als junge Deutsche dar, die sich die nationalsozialistische Vergangenheit nicht mehr vorhalten lassen müssen, da sie gerade aufgrund ihrer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus moralisch besonders urteilsfähig sind. Als junge Ostdeutsche nehmen sie für sich in Anspruch, nicht in der generativen Nachfolge der Täter und Mitläufer des Nationalsozialismus zu stehen. Sie verstehen sich als kritische, eher linke jugendliche Intellektuelle. Den Vorwurf, antisemitisch zu argumentieren, würden sie aus ihrem Selbstverständnis heraus empört zurückweisen. Gleichwohl formulieren sie im Interview antisemitische Stereotype und verwickeln sich gegen Ende des Interviews in eine emotional aufgeladene Debatte über die aus ihrer Sicht inakzeptablen Verhaltensweisen jüdischer Organisationen bzw. von deren Repräsentanten. Ausgehend von Gerechtigkeitsargumentationen, problematisieren die Jugendlichen erstens die Erwartung an heutige Jugendliche, sich immer wieder mit dem Holocaust auseinandersetzen zu sollen, zweitens eine vermeintliche Instrumentalisierung von Entschädigungsansprüchen durch amerikanisch-jüdische Organisationen, sowie drittens die Politik Israels gegenüber den Palästinensern. Dabei dominiert die Zurückweisung der Zumutung, sich weiter mit dem Holocaust befassen und diesen als negativen Bezugspunkt jeder Inanspruchnahme deutscher Identität anerkennen zu sollen.
Der entsprechende Teil des Interviews beginnt mit der Feststellung, dass Juden immer nur als Opfer dargestellt würden. Davon ausgehend fällt der erste „vorsichtige“ Verweis auf die Problematik der israelischen Staatsgründung und eine Zuweisung einer israelischen Täter-Rolle gegenüber den Palästinensern.
W3: Vielleicht ist auch gerade das die Ursache für den ganzen Nahostkonflikt, dass man einer Religionsgemeinschaft im Prinzip ein Stück Land gegeben hat, das davor anderen vielleicht gehört hat. Darüber kann man streiten, wem das mal gehörte. Aber darum geht es ja die ganze Zeit in diesem Nahostkonflikt, weil die Juden sind an sich eine Religionsgemeinschaft. Auf einmal kriegen die ein Stück Land gegeben. Die ganze Thematik mit den Juden – was ich so ein bisschen schade finde – die werden immer nur als Opfer dargestellt. Natürlich waren sie Opfer, das will ich gar nicht bestreiten, aber wie die momentan mit den Palästinensern seit Jahren umgehen, das ist ja eben auch so eine Sache und – ich will jetzt vorsichtig sein – aber in gewissem Sinne sind sie auch irgendwo Täter. Weil das, was Sharon z.B. momentan macht, Zäune aufbauen, o.k. da werden auch Attentate verübt und sonst so was und das wird auch nicht richtig gesehen. Das wird immer so reduziert auf die „Arme-Opfer-Rolle“ und das finde ich sehr problematisch, weil ...
Die Markierung vermeintlicher jüdischer Täterschaft eröffnet jedoch nicht, wie man annehmen könnte, eine Diskussion über den Nahostkonflikt, sondern sie ist Ausgangspunkt weiterer Argumentationen, in denen Juden – nun auf dieser Grundlage – als „Täter“ bezeichnet werden. Argumentativ schließt sich zunächst unmittelbar das Thema Entschädigungen an. So wird das Entschädigungen einfordernde Verhalten der Jewish Claims Conference kritisiert, aber einschränkend festgestellt, dass die Organisation nicht für „die Juden“ stehe, sondern nur für solche Juden, die „von dem schlechten Gewissen profitieren wollen“ und in der Sicht der Jugendlichen „irgendwie“ zu „Judenhass“ beitragen.
Von der Kritik ausgenommen werden dagegen „einfache Juden“, und es wird festgestellt, dass diese von der so kritisierten Politik auch gar nichts hätten. Hierbei wird behauptet, dass ‚einfache israelische Juden‘ in ungerechtfertigter Weise von ‚amerikanisch-jüdischen Organisationen‘ ausgenutzt würden. Zudem wird im Verhalten der jüdischen Organisationen ein verständlicher Grund für Antisemitismus gesehen.
Im Stil einer gerechtigkeitsorientiert antikapitalistischen und antiamerikanischen Argumentation differenzieren die Jugendlichen zwischen jüdisch-amerikanischen Organisationen, die sie kritisieren, und ‚einfachen Juden‘, mit denen sie sympathisieren. Dabei wird das antisemitische Stereotyp an die kritisierte amerikanisch-jüdische Organisation adressiert. Weiter problematisieren die Jugendlichen, dass jede Kritik an Juden unangemessene Verdächtigungen nach sich ziehe. Daran anschließend kritisieren sie einen Repräsentanten des Zentralrats der Juden dafür, dass er die Deutschen unrechtmäßig beschuldige, aus dem Holocaust nichts gelernt zu haben.
M1: Naja, ich denke, es ist eher so eine Angst, weil an und für sich traut man sich im öffentlichen Leben ja nicht wirklich, ähähäh, Juden als einzelne oder als gesamte, als gesamte Gemeinschaft irgendwo zu kritisieren wegen Kleinigkeiten oder wegen wirklich großer Sachen. Weil man automatisch in Deckung gehen müsste, weil es dann von allen Seiten hagelt: „Antisemit, Judenhasser, Blablabla“. Und ich denke mal, da ist einfach die persönliche Angst davor zu groß.
(...)
I: Ja, jetzt ist die Stunde rum. Eine Frage würde ich gern noch stellen: Was könnte denn ein Grund sein, „die Juden“ oder „das jüdische Volk“ oder wen auch immer jetzt eigentlich zu kritisieren? Wen würden Sie denn überhaupt jetzt kritisieren beispielsweise?
M 1: Den Zentralrat der Juden.
w: (lacht)
M 1: Paul Spiegel, eindeutig. Also, was der abzieht teilweise, finde ich nicht mehr feierlich. Also, wenn jetzt z.B. eine kleine Kritik kommt, halt auf gegen diesen, diesen, weiß ich nicht, z.B. es wurde ein Gelände bebaut und dann kommt irgendwo aus Amerika kommt ein Jude und sagt: Ja, irgendwann mal, vor zweihundert Jahren, hat das mal uns gehört, ich möchte das wiederhaben, mit Haus, blablabla, aber nicht zum Gegenwert wie er damals war, dieses Gelände, sondern zum Gegenwert von heute, will er entschädigt werden. Und wenn man daran Kritik äußert, sitzt der Paul Spiegel sofort da und bellt in alle Zeitungen und Fernsehanstalten rein: „Ja, die Deutschen sind so schlecht, die können ja gar nicht wirklich aufarbeiten, was sie da uns angetan haben.“ Und ich finde einfach mal, das ist nicht wirklich, nicht im richtigen Maße, er übertreibt ein bißchen viel und – denk ich mal, gerade durch ihn entsteht auch teilweise wieder Judenhass.
Die hier in Rede stehende Gruppe von Ostberliner GymnasiastInnen argumentiert vor dem Hintergrund einer tendenziell elitären sozialen Positionierung und eines moralischen Selbstverständnisses als gebildete und „bessere Deutsche“. Sie stellen sich als SchülerInnen eines Elitegymnasiums („beste Schule“) dar und beanspruchen, ihrer politischen und moralischen Verantwortung durch eine intensive Auseinandersetzung mit dem Holocaust gerecht geworden zu sein. Sie sehen sich zudem als Teil einer ostdeutschen Jugendgeneration, die keinen Grund hat, sich in einer politischen und biografischen Kontinuität zum Nationalsozialismus zu sehen.
Obwohl die Jugendlichen dezidiert keine Antisemiten sein wollen, erlaubt es ihnen die Differenzierung zwischen guten und schlechten Juden, die „schlechten Juden“ als Juden zu kritisieren, ohne dass dies als offenkundiger Widerspruch zum eigenen Selbstverständnis erlebt wird. Die Feststellung einer vermeintlich eindeutigen israelischen Täterschaft ist zudem Ausgangspunkt für Aussagen über ein die Reklamation des Opferstatus konterkarierendes jüdisches Fehlverhalten, das mit dem Thema Nahostkonflikt nichts zu tun hat.
Das Beispiel der hier porträtierten Gruppe zeigt, dass konsistentere antisemitische Argumentationen keineswegs – wie oft angenommen wird – allein in Gruppen auftreten, die sich als rechtsorientiert oder muslimisch definieren. Vielmehr finden die hier vertretenen antisemitischen Deutungen ihren Resonanzboden in einer Form nationaler Identifikation, die sich in der Tradition des antifaschistischen und insofern besseren Deutschland sieht. Vor diesem Hintergrund werden auch Elemente einer antiimperialistisch gerahmten antisemitisch-israelkritischen Ideologie aufgegriffen, wie sie in vergleichbarer Weise auch in einem Interview mit Jugendlichen eine Rolle spielen, die sich als Muslime identifizieren. Würden die einschlägigen Aussagen als antisemitisch bezeichnet, wären die Jugendlichen jedoch empört, da sie dies als unangemessene Infragestellung ihrer Rationalität und ihrer differenzierten Haltung wahrnehmen würden.

Folgerungen
Wir haben im Vorstehenden versucht, anhand ausgewählter Fallbeispiele exemplarisch zu verdeutlichen, dass und wie (anti-)antisemitische Positionen gegenwärtiger Jugendlicher auf je spezifische soziale Positionen, Identifikationen und Abgrenzungen und damit zusammenhängend auf für die jeweiligen Jugendlichen relevante moralische, religiöse und politische Diskurse verweisen. Antisemitische Äußerungen sind so betrachtet also nicht als Artikulationen „des Antisemitismus“ im Sinne einer einheitlichen und geschlossenen Ideologie zu verstehen; ihnen liegen vielmehr jeweils heterogene Sichtweisen der eigenen Lebenssituation sowie historischer und gesellschaftspolitischer Phänomene zugrunde, die mit unterscheidbaren Positionierungen zum Themenkomplex ‚Juden und Antisemitismus‘ einhergehen. In den von uns befragten Jugendgruppen treten antisemitische Aussagen insbesondere in vier zu unterscheidenden Kontexten auf: Erstens als antisemitische Fragmente im Kontext widersprüchlicher, aber mit einem anti-antisemitischen Selbstverständnis einhergehender Argumentationen; zweitens als Argumentationen im Kontext eines identitätsrelevanten rechtsextremen, aber deshalb keineswegs notwendig offen antisemitischen Selbstverständnisses; drittens im Zusammenhang mit politisch-religiösen Selbstdefinitionen als Moslem, die einen offenen Antisemitismus einschließen können. Viertens werden antisemitische Aussagen vor dem Hintergrund des Versuchs formuliert, für sich in generativer Distanz zum Nationalsozialismus eine positive deutsch-nationale Identität zu beanspruchen.
Die (anti-)antisemitischen Erzählungen und Argumentationen der Jugendlichen stehen in einem Zusammenhang mit ihren sozialen Verortungen und Selbstverortungen, so mit ihrem formalen Bildungsniveau, ihrer Einbindung in Gleichaltrigengruppen, ihrem Herkunftskontext sowie ihrem moralischen, politischen, religiösen, ethnischen oder nationalen Selbstverständnis. Das heißt jedoch nicht, dass in Jugendgruppen mit ähnlichen Merkmalen zwangsläufig weitgehend identische Varianten von (Anti-)Antisemitismus auftreten. Formen der Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex ‚Juden und Antisemitismus‘ leiten sich nicht geradlinig aus sozialen Merkmalen ab, wie etwa dem formalen Bildungsniveau, und sie sind nur in den Fällen als Folge der politischen oder religiösen Selbstverortung zu verstehen, in denen Jugendliche sich einer solchen ideologischen Grundorientierung verpflichtet sehen, für die (Anti-)Antisemitismus ein konstitutives Element ist. Aber auch in diesen Fällen legt eine (anti-)antisemitische Grundorientierung keineswegs im Detail fest, wie Jugendliche sich äußern und wie sie sich verhalten. Folglich sind zum einen generalisierende Aussagen über „die muslimischen“, „die ,linken‘“, „die ostdeutschen“ usw. Jugendlichen wissenschaftlich und politisch hoch problematisch und für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit ohnehin wenig hilfreich. Auch in Hinblick auf die Mehrzahl der Jugendlichen, für die gilt, dass sie ein anti-antisemitisches Selbstverständnis artikulieren, ist eine differenzierte Betrachtung erforderlich. Denn eine moralisch eindeutige Haltung geht hier vielfach mit unklaren Argumentationen, mit als gültig betrachteten antisemitischen Stereotypen und zum Teil mit antisemitisch akzentuierten Einschätzungen israelischer Politik und jüdischer Organisationen einher.
Die politische, mediale und pädagogische Auseinandersetzung mit Antisemitismus steht folglich vor der Herausforderung, Thematisierungen von Antisemitismus nicht auf die Dimension der Amoralität bzw. des moralischen Bekenntnisses zu reduzieren. Vielmehr ist eine zentrale Aufgabe darin zu sehen, verständlich zu machen, dass Antisemitismus seine Grundlage in einer Differenzkonstruktion hat, die auch dann problematisch ist, wenn sie sich mit einer Haltung der Toleranz gegenüber denen verbindet, die als vom jeweiligen „Wir“ prinzipiell unterschiedliches Kollektiv imaginiert werden.

Anmerkungen
1     Solche Positionen konturieren sich insbesondere in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust und Entschädigungsfragen, in Stellungnahmen zum Nahostkonflikt sowie im Kontext wirtschafts- und sozialpolitischer Debatten.
2     Hier wie in anderen Passagen des Interviews erfolgt eine entmoralisierende Abwägung des politisch-taktischen Sinns von Antisemitismus, die keineswegs zu einer eindeutigen Abgrenzung gegenüber denjenigen zwingt, die sich offen antisemitisch äußern; unbestritten bleibt auch, dass Juden durchaus legitim als Feinde betrachtet werden können.
3     Dabei zeichnet sich jedoch  eine erhebliche Spannweite der Zustimmungsquoten zu den unterschiedlichen Items ab, die auf offenen Antisemitismus oder auf latente Vorurteile hinweisen (Frindte 2006: 156ff., 190ff.; Scherr/Schäuble 2007: 16ff.).
4     Die Studie wurde auf Anfrage der Amadeu Antonio Stiftung durchgeführt. Die in diesem Rahmen erhobenen Interviews sind auch Grundlage des laufenden Dissertationsprojekts von Barbara Schäuble. Insgesamt wurden 20 Gruppeninterviews mit drei bis 15 Jugendlichen durchgeführt. Ihre Dauer betrug zwischen 45 Minuten und drei Stunden. Nach der Eröffnungsfrage, was die Teilnehmenden über Juden und jüdisches Leben wissen, füllte den weiteren Verlauf der offen angelegten, leitfadengestützten Interviews die Auseinandersetzung mit von den Jugendlichen auf die Ausgangsfrage hin selbst formulierten, mehr oder weniger kontroversen Aussagen. Siehe für umfassende Angaben Scherr/Schäuble 2007.
5     So stimmten im GMF-Survey 2004 „nur“ 21,7% der Befragten dem Item zu: „Juden haben in Deutschland zu viel Einfluss“, aber 68,33% dem Item: „Ich ärgere mich darüber, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden“ (Heyder et al. 2005: 151).
6     Dabei folgen antisemitische Differenzsetzungen häufig einer anderen Konstruktionslogik als rassistische: Während rassistische Konstruktionen mit einer Einordnung von „Rassen“ in eine Hierarchie einhergehen, werden Juden als soziale Gruppe imaginiert, die sich in keine Ordnung einfügen lassen (Bauman 1992; Holz 2001). Antisemitismus ziele entsprechend, so etwa Holz (2001), nicht primär auf Unterordnung und Beherrschung, sondern auf Ausgrenzung und Vernichtung.
7     Erst die Differenzsetzung etabliert beide Gruppen, die Selbst- und die Fremdgruppe, im Sinne von: Wir sind wir, weil sie sie sind. So wird über die Abgrenzung eine abstrakte und inhaltlich unbestimmte Anzahl von Personen durch die vorgestellte Differenz zu anderen als „Wir“ miteinander verknüpft und diese Differenzierung zugleich mit angenommenen Gemeinsamkeiten aufgefüllt.
8     Bei der befragten Gruppe handelt es sich um eine 10. Klasse, die Schülerinnen sind zwischen 15 und 17 Jahre alt und stellen sich als kooperative, wohlerzogene Mädchen dar.
9     Die Jugendlichen bringen auf die Nachfrage nach ihrem Wissen über Juden verschiedene Erzählungen ein, die ihren Kontext in familiären Erzählungen zu haben scheinen. Die Option, sich auf eine gemeinsame Ablehnung zu einigen, wird nicht realisiert. Dass eine solche Einigungsoption denkbar ist, zeigt sich im Interview darin, dass es offensichtlich ein von vielen geteiltes negatives Bild „Zigeuner“ gibt, das gegen den anwesenden Jugendlichen, der Sinto ist, eingesetzt wird.

Literatur
ALLBUS 2006: „Einstellungen gegenüber ethnischen Gruppen in Deutschland“; http://www.gesis.org/
Datenservice/ALLBUS/index.htm
Balibar, Etienne/Wallerstein, Immanuel (1990): Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg
Bauman, Zygmunt (1992): Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg
Bergmann, Werner (2005): Neuer oder alter Antisemitismus? In: Das Parlament 55 (15); http://www.das-parlament.de/2005/15/Thema/023.html [Zugriff: 18.12.06]
Brubaker, Rogers (1997): Nationalism Reframed: Nationhood and the National Question in the New Europe, Cambridge
Castells, Manuel (1997): The Power of Identity, Oxford
Frindte, Wolfgang (2006): Inszenierter Antisemitismus. Eine Streitschrift, Wiesbaden
Heitmeyer, Wilhelm (Hg.) (2007): Deutsche Zustände, Folge 5, Frankfurt a.M.
Heyder, Aribert/Iser, Julia/Schmidt, Peter (2005): Israelkritik oder Antisemitismus? Meinungsbildung zwischen Öffentlichkeit, Medien und Tabus. In:  Heitmeyer, Wilhelm (Hg.): Deutsche Zustände, Folge 4, Frankfurt a.M., 144-165
Holz, Klaus (2001): Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg
Hormel, Ulrike/Scherr, Albert (2003): Was heißt „Ethnien“ und „ethnische Konflikte“ in der modernen Gesellschaft? In: Groenemeyer, Axel/Mansel, Jürgen (Hg.): Die Ethnisierung von Alltagskonflikten, Opladen, 47-68
Klug, Brian (2005): The collective Jew. Israel and the new Anti-Semitism. In: Braun, Christina von/Ziege, Eva-Maria (Hg.): Das ,bewegliche‘ Vorurteil. Aspekte des internationalen Antisemitismus, Würzburg, 235-247
Rabinovici, Doron/Speck, Ulrich/Sznaider, Natan (Hg.) (2004): Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, Frankfurt a.M.
Scherr, Albert (1999): Die Konstruktion von Fremdheit in sozialen Prozessen. In: Kiesel, Doron/Messerschmidt, Astrid/Scherr, Albert (Hg.): Die Erfindung der Fremdheit, Frankfurt a.M., 49-66
Scherr, Albert/Schäuble, Barbara (2007): „Ich habe nichts gegen Juden, aber ...“; www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/schaueblescherrichhabenichtslangversion.pdf

Prof. Dr. habil. Albert Scherr, Soziologe, Institut für Sozialwissenschaften der Pädagogischen Hochschule Freiburg i.Br.
Barbara Schäuble, Sozialwissenschaftlerin, Institut für Sozialwissenschaften der Pädagogischen Hochschule Freiburg i.Br.

aus: Berliner Debatte INITIAL 19 (2008) 1/2, S. 3-14