Die Leute organisieren

oder warum SPD und CSU das Fürther Sozialforum hofieren

in (15.11.2007)

Seit das Fürther Sozialforum (FSF) im April 2007 einen detaillierten Forderungskatalog zur Bekämpfung der Armut in der Stadt verabschiedet hat, sind die etablierten Stadtratsparteien SPD und CSU ...

... unter Druck geraten. Die Lokalpresse berichtete umfassend über die Forderungen. Die Stadtverwaltung sah sich gezwungen, ausführlich auf den Forderungskatalog zu antworten. Sowohl SPD- als auch CSU-Fraktion haben das Sozialforum zu Gesprächen eingeladen; der SPD-Oberbürgermeister stellte sich mehrfach der Diskussion. Mittlerweile wurden auch schon mehrere Forderungen vom Stadtrat aufgegriffen und umgesetzt. Über die Hintergründe dieser Entwicklung sprach Fantômas mit AktivistInnen vom Fürther Sozialforum.

Ein Gespräch mit Jochen, Anna und Stefan vom Fürther Sozialforum

Fantômas: Stellt euch doch einmal kurz vor.

Jochen: Ich bin 47 Jahre alt und verheirateter Vater von zwei Kindern. Ich habe 15 Jahre lang als Industriekaufmann gearbeitet, bevor meine Firma 2004 dicht machte. Seit 2005 beziehe ich ALG II. Damals stand ich vor einem Abgrund, bei dem es nur noch um die Tiefe des Falls ging. Früher war ich zwar politisch interessiert, aber nie aktiv. Das bin ich erst seit 2004. Damals habe ich an der Großdemo gegen Hartz IV in Nürnberg teilgenommen. Die Mitarbeit im Sozialforum ist für mich ein Ventil, um mit meiner Wut umgehen zu können. Auf das Sozialforum wurde ich aufmerksam, als Flyer vor der ARGE verteilt wurden und zur Mitarbeit im Sozialforum aufriefen.

Anna: Ich bin 40 Jahre alt und arbeite als Krankenschwester im Klinikum. Ich habe zwei Kinder, 13 und sieben Jahre alt. Seit 17 Jahren bin ich im Nicaragua-Verein aktiv. Die Ideen und die Impulse des Weltsozialforums in Porto Alegre haben mich motiviert, auch lokal gegen das neoliberale TINA-Prinzip (There Is No Alternative) aktiv zu werden. Vor allem, weil ich die Folgen der neoliberalen Politik im Gesundheitsbereich unmittelbar vor Augen habe. Die Arbeitsverdichtung nimmt Jahr für Jahr durch Stellenabbau und gleichzeitiger Fallzahlenerhöhung zu. PatientInnen werden mittlerweile immer schneller wieder entlassen. Leider neigen viele KollegInnen jedoch zur Selbstausbeutung und verzichten auf Pausen oder machen unbezahlte Überstunden. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist schon traditionell eher gering. Der neue Tarifvertrag im öffentlichen Dienst (TvÖD), der eine deutliche Verschlechterung darstellt, erschwert meine Arbeit als ver.di-Vertrauensfrau zusätzlich. Ich glaube aber, man kann trotzdem nicht auf eine gewerkschaftliche Organisierung verzichten. Darüber hinaus ist eine eigenständige Organisierung wie im Sozialforum aber absolut notwendig.

Stefan: Ich bin 54 Jahre alt und kann keine Kinder vorweisen. Dafür habe ich eine lange Vergangenheit in der undogmatischen Bewegungslinken. Wichtige Eckpunkte waren für mich der Wackersdorf-Protest und die Anti-NATO-Gruppe. Als Lehrer bin ich auch unmittelbar mit der Verarmung vieler Familien durch die rot-grün-schwarze Hartz-Gesetzgebung konfrontiert. Ich war bereits im Sozialforum Nürnberg aktiv. Nachdem AktivistInnen von attac das Fürther Sozialforum ins Leben gerufen hatten, bin ich auch hier eingestiegen, ganz einfach, weil ich in Fürth lebe. An der Sozialforumsbewegung begeisterte mich die Idee einer neuen Form linker Politik, die nicht mehr die Differenzen in den Vordergrund stellt, sondern eine gemeinsame Politik über alle Differenzen hinweg sucht.

Wie erklärt ihr euch das Interesse von SPD und CSU am Fürther Sozialforum?

Stefan: Uns ist es gelungen, öffentlichen Druck aufzubauen. Dabei sind wir immer zweigleisig vorgegangen: Wir haben einerseits öffentlichkeitswirksame Aktionen gemacht. So sind wir bei offiziellen Veranstaltungen der Stadt Fürth zur 1.000- Jahr-Feier unter dem Motto "Wir wollen auch mitfeiern" aufgetreten. Andererseits haben wir unsere inhaltliche Kritik an Hartz IV konkretisiert. Als wir im April diesen Jahres mit 60 Leuten, darunter etwa die Hälfte direkt Betroffene von Hartz IV und ALG II, die Sozialbeiratssitzung des Stadtrates besuchten, war klar, dass die Stadtratsparteien nicht mehr an uns vorbei kamen. Dort haben wir dann unseren Forderungskatalog an die Stadt übergeben.

Anna: Man muss auch sehen, dass sowohl die politische Großwetterlage als auch die konkrete Situation vor Ort günstig für unser Anliegen sind. Angesichts einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft bei steigendem Reichtum funktioniert die Schuldzuweisung an die Armen und Arbeitslosen nicht mehr. Das war aber das Grundverständnis, das hinter der Agenda 2010 und Hartz IV stand. Alle Umfragen in letzter Zeit zeigen, dass diese Interpretation nicht mehr glaubwürdig ist, ganz einfach deswegen, weil die alltägliche Erfahrung dagegen spricht. Das heißt, das Thema Armut wird ernst genommen und kann nicht mehr als eine Sache von ein paar linken Spinnern oder verstaubten Sozialstaatsillusionisten abgetan werden. Bis weit in die bürgerliche Mitte hinein ist klar: Hartz IV bedeutet Armut.

Jochen: Das sehe ich auch so. Vor allem beim Thema Kinderarmut sind die großen Volksparteien anfällig. Keine will sich soziale Kälte bei Kindern vorwerfen lassen. Mit unseren Forderungen haben wir vor allem die Stimmung der SPD-Basis getroffen. Dort herrscht eine große Enttäuschung über die Politik unter Schröder vor, die ja von der Basis bis hin zu Selbstverleugnung mitgetragen worden ist. Beck stößt doch bei der Forderung nach Verlängerung von ALG I nicht deshalb auf große Zustimmung, weil er ein so großer charismatischer Vorsitzender ist, sondern deshalb, weil er die Stimmung der Basis trifft. Und die lautet: Schluss mit den Zumutungen. Es ist klar: Wenn die SPD so weiter macht wie bisher, blutet sie noch weiter aus und die Basis wird noch lethargischer.

Ich möchte aber noch auf einen weiteren Punkt hinweisen: Nächstes Frühjahrsind in Bayern Kommunalwahlen und im Herbst Landtagswahlen. Und auch zu den nächsten Bundestagswahlen ist es nicht mehr weit. Und alle haben sie Angst vor dem Erstarken der Linken. Als wir bei der Sozialbeiratssitzung aufgetaucht sind, schrieb ich auf mein Plakat: "Macht nicht auf faul und blind, sonst werden wir blind links wählen". Auf einem anderen stand: "Vergesst uns nicht, Oskar und Gregor freuen sich auf uns". Das macht Eindruck.

Du hattest vorhin auch von günstigen lokalen Faktoren gesprochen.

Stefan: Ja, hier unterscheiden wir uns grundsätzlich von der Situation in Nürnberg. Zum einen ist uns die Presse hier sehr wohlwollend gesonnen. Die Fürther Nachrichten haben eine ganze Seite über unsere Gründung berichtet. Wir haben noch nie Probleme gehabt, unsere Positionen in die Presse zu bringen. Manchmal werden wir von denen selbst zu allen möglichen Themen angefragt. In Nürnberg wäre das unvorstellbar. Und auch die Rolle der Fürther Grünen war für uns hilfreich. Während sie in Nürnberg mit der SPD und der CSU die große Rathauskoalition bilden, sind sie im Fürther Stadtrat die einzige Opposition. Und in Fürth sind sie tatsächlich noch links. Ich weiß nicht, warum die noch in dieser neoliberalen Partei sind. Auf jeden Fall haben sie unseren Forderungskatalog ohne Abstriche in den Stadtrat eingebracht. Auch darüber hat die Presse ausführlich berichtet.

Anna: Du musst auch wissen, dass wir mit unserem Forderungskatalog nicht zum ersten Mal in Fürth politisch präsent sind. Das Sozialforum war ja auch im Wasserbündnis schon sehr aktiv. Dort ist es uns im Bündnis mit den Beschäftigten gelungen, die Privatisierung der Abwasserversorgung zu verhindern. Gegen diese Pläne haben wir ein Bürgerbegehren eingeleitet. Da haben wir wirklich flächendeckend die Bevölkerung informiert. Das war politische Kärrnerarbeit: Stadtteil für Stadtteil, Straße für Straße. Ohne die Beschäftigten hätten wir das nicht geschafft. Wir haben dann viel mehr Unterschriften gesammelt als für ein Bürgerbegehren nötig sind. Schon damals haben wir gemerkt, dass ein Großteil der Bevölkerung dem neoliberalen Unsinn - von wegen Privatisierung bedeutet Effizienzsteigerung und geringere Preise - misstraut. Unsere Argumentation war dagegen: Die Abwasserversorgung ist ein öffentliches Gut. Wenn sie privatisiert wird, ist sie keine öffentliche Dienstleistung mehr, sondern ein Mittel zum Zweck der Profitsteigerung. Dies wird sich negativ auf die Preise, die Leistungen und die Beschäftigten auswirken. Damit sind wir auf offeneOhren gestoßen und die Stadt musstedaraufhin die Privatisierungspläne wieder zurückziehen. Die SPD und der Oberbürgermeister Jung haben schon damals erkannt, dass man uns ernst nehmen muss.

Stefan: ... und dann kommt noch die persönliche Ebene hinzu. Fürth mit seinen 115.000 EinwohnerInnen ist ja politisch wie ein kleines Dorf. Da kennt jeder jeden. Wir hatten das Glück, dass bei uns Leute aktiv waren, die gute Kontakte in die Kirche hatten. Dadurch ist es uns gelungen, die Caritas und die Diakonie ins Sozialforum zu holen. Und auch die Arbeiterwohlfahrt (AWO) ist seit Anfang an dabei, weil deren Geschäftsführer sich von Anfang an gegen Hartz IV und Ein-Euro-Jobs in der Öffentlichkeit ausgesprochen hat. Sehr aktiv ist der Seniorenrat, aber auch die Vorsitzende des städtischen Elternbeirates. Auch die ALF, die Antifaschistische Linke Fürth, ist immer dabei. Ein anderer Aktivist hat viele Kontakte zu direkt Betroffenen, weil er Mitbegründer der Fürther Tafel war. Bei uns hat der Vernetzungsgedanke gezündet!

Ist das der Grund, warum bei euch so viele direkt Betroffene aktiv sind?

Jochen: Nur zum Teil. Ich selbst bin ja durch das Verteilen von Flugblättern vor der ARGE auf das Sozialforum aufmerksam geworden. Vor der bereits erwähnten Sozialbeiratssitzung haben wir zwei Wochen lang jeden Tag vor der ARGE Flugblätter verteilt. Und da sind schon einige hängen geblieben oder sind zumindest zu dieser Sitzung gegangen.

Wie kam es dann zu eurem umfangreichen Forderungskatalog?

Stefan: Im Januar haben wir eine Veranstaltung zum Thema "Zwei Jahre Hartz IV" gemacht. Schon im Vorfeld haben wir gesagt: Es reicht nicht, über die Schlechtigkeit dieser Welt zu jammern, sondern wir müssen auf dieser Veranstaltung eine konkrete Perspektive präsentieren. Wir haben deshalb den Forderungskatalog entwickelt und ihn erstmals auf der Veranstaltung vorgestellt. Diese Veranstaltung war mit 70 bis 80 Leuten für unsere Verhältnisse sehr gut besucht. Mit dem Katalog haben wir drei Ziele verfolgt: erstens, eine Öffentlichkeit herstellen. Zweitens wollten wir die betroffenen Leute organisieren, sie von Objekten zu Subjekten der Politik machen. Und drittens reichte es uns nicht, nur plakative Forderungen wie "Weg mit Hartz IV" aufzustellen, sondern wir wollten konkrete Verbesserungen erreichen. Das verstehe ich auch unter einer guten linken Politik. Im Wunsch nach konkreten Verbesserungen treffen wir uns mit vielen SPD-lern. Im Gegensatz zur SPD ist für uns aber klar, dass die Hartz-Gesetze und die Agenda 2010 in ihrer Gesamtheit falsch sind. Das betonen wir auch immer wieder bei allen Gelegenheiten, etwa bei den Gesprächen mit der Stadt.

Jochen: Für uns Betroffene war dieser Punkt ganz wichtig. Wenn es nur um pauschale Forderungen gegangen wäre, hätten wir nicht so viele Betroffene organisieren können. Wir wussten, dass es beimBesuch der Sozialbeiratssitzung für uns wirklich um etwas ging. Wenn die Stadt für das Mittagessen für Kinder jetzt statt der 1,06 Euro, die im Regelsatz vorgesehen sind, die Differenz zu den tatsächlichen Kosten ausgleicht, dann ist dies für uns eine spürbare Erleichterung, weil die tatsächlichen Kosten weit über 2 Euro betragen. Insgesamt geht es dabei um 200.000 Euro. Auch die Abschaffung der Gebühren für Sozialwohnungsanträge und die Gutscheine für Erstklasskinder helfen uns. Das sind erste Erfolge. Aber es reicht uns nicht. Wir fordern auch Weihnachtsgeld für ALG-II-BezieherInnen, einen Sozialtarif für die Stromversorgung und für den Nahverkehr. Ich glaube, dass das realistische Ziele sind. Die VAG hätte bei einer Sozialtarifsmonatskarte keine Einnahmeverluste, weil sich die Leute eine normale Monatsfahrkarte gar nicht leisten können. Das ist genauso vermittelbar wie, dass man Menschen ohne Stromversorgung aus dem gesellschaftlichen Leben ausschließt. In Fürth gab es immerhin im letzten Jahr 1.600 Stromabschaltungen. Das ist eine enorme Zahl.

Anna: Die konkreten Verbesserungen waren für uns auch symbolisch von großer Bedeutung. Wir wollten zeigen: Wenn man sich organisiert, kann man zumindest im kleinen Maßstab das TINA-Prinzip durchbrechen. So funktioniert doch Politik. Die Krise der neoliberalen Hegemonie, die wir momentan erleben, ist doch nicht der Einsicht von Herrn Beck geschuldet, dass die SPD eine katastrophale Politik gemacht hat, sondern weil es Druck von unten gibt. Es gab eine regelrechte Flucht von Wählern und Mitgliedern, die noch verbliebenen Mitglieder sind weiterhin unter Druck von Arbeitslosenvereinigungen, Sozialverbänden, einigen Gewerkschaften, Sozialforen usw. Das bleibt nicht ohne Wirkung. Beck hat sich geschickt dieser Stimmung angepasst, obwohl er vor einem Jahr noch genau das Gegenteil erzählt hat.

Wie gestaltete sich der Prozess bis zu eurem Forderungskatalog?

Stefan: Nach der Januarveranstaltung haben wir uns hingesetzt und den Forderungskatalog konkretisiert. Wir haben uns gefragt: In welchen Bereichen drückt der Schuh und wo kann die Stadt unmittelbar aktiv werden? Die Leitlinie war dabei, den Betroffenen die Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, wie es so schön heißt. Wir haben dann den ALG-II-Regelsatz abgeglichen mit den Stellungnahmen der Sozialverbände. Sehr hilfreich war für uns die Broschüre "Zum Leben zu wenig ..." des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Sie war unsere "Bibel". Dabei sind dann eine Vielzahl von Forderungen in den Bereichen Wohnen, Gesundheit, Kinder und gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe entstanden. Diesen Forderungskatalog haben wir dann im März in einer wieder gut besuchten Veranstaltung verabschiedet. Da die Grünen die Forderungen in den Stadtrat eingebracht haben, musste die Stadtverwaltung darauf reagieren. Die haben ihren ganzen Apparat mobilisiert, um unsere Forderungen zu entkräften. Für uns war es dann richtig viel Arbeit, daraufhin unsere Forderungen begründet zu verteidigen. Ich glaube, das ist uns gelungen.

Die Forderung nach Streichung der Ein-Euro-Jobs findet sich im Katalog nicht. Warum fehlt diese Forderung?

Anna: Das war die Kröte, die wir schlucken mussten. Ursprünglich hatten wir die Forderung drin. Nach der März-Veranstaltung haben aber dann Caritas und die Diakonie signalisiert, dass sie den Forderungskatalog nur unter der Bedingung unterstützen, wenn die Streichung der Ein-Euro-Job-Forderung darin nicht auftaucht. Hintergrund ist, dass Diakonie undCaritas im Gegensatz zur AWO in Fürth selbst Ein-Euro-Jobs anbieten. Dadurch können sie Geld sparen und haben einen Wettbewerbsvorteil gegenüber der AWO. Andererseits glauben sie tatsächlich, dass sie den Ein-Euro-Beschäftigten damit wirklich helfen.

Jochen: Bei uns gab es dann eine interne kontroverse Diskussion. Was machen wir jetzt? Was ist uns wichtiger: Eine richtige, aber unter den gegebenen Kräfteverhältnissen plakative Forderung aufstellen oder die Unterstützung durch die beiden Verbände sichern, um konkrete Forderungen durchzusetzen, aber auch um einen politischen Prozess offen zu halten. Wir haben uns dann darauf verständigt, diese Forderung zu streichen, werden aber eine sachliche Kontroverse mit Diakonie und Caritas um genau diese Frage führen. Die Forderung selbst ist natürlich nach wie vor richtig.

Das Gespräch wurde von Moe Hierlmeier von der Redaktion Fantômas moderiert.

aus: Fantômas - Magazin für linke Debatte und Praxis/Nr. 12/Winter/Frühjahr 08