Wenn wir FreundInnen und Bekannten vom Titel der aktuellen Fantômas berichteten, fielen die Reaktionen unterschiedlich aus. "Interessant", bemerkten die einen, "Ach, Bourdieu" die nächsten und "Wie jetzt?!" die anderen. Wir haben uns nicht irritieren lassen und das Heft wie geplant produziert. Dabei wurde uns die Brisanz der vor fast einem Jahr entwickelten Themenidee erst während der eigentlichen Produktion bewusst, das heißt: als alle Beiträge vor uns lagen. Zwischenzeitliche Zweifel, ob wir mit unserer Fragestellung zu früh, zu spät oder überhaupt ganz falsch liegen, sind seither ausgeräumt: Die in diesem Heft vorgelegten Texte zeigen deutlich, dass wir mit unserem Titel - Neues soziales Kapital - zum richtigen Zeitpunkt richtig liegen. Mit einer Einschränkung: Obwohl wir das Spiel mit Worten, Mehrfachbedeutungen und Hintersinnigkeiten lieben, müssen wir just jene Erwartung enttäuschen, die mit dem Ausruf "ach, Bourdieu" verbunden war: Kein Artikel zur Soziologie Pierre Bourdieus, zu seinem so prägnanten Begriff des sozialen Kapitals, obwohl alleine der ein ganzes Heft verdient hätte. Allerdings nehmen wir diese Entschuldigung gleich schon wieder halb zurück: Um soziales Kapital im Sinne der Möglichkeit, durch die gezielte Verbindung mit anderen Anpassungs- und/oder Widerstandskräfte zu multiplizieren, dreht sich nämlich das ganze Heft.
Soziales Kapital also, und dann noch die Frage, ob es neu ist. Kapital steht zunächst für Kapitalismus und damit für die andernorts aufgeworfene Frage, welcher "Geist" den Kapitalismus derzeit beherrscht. Unser Eindruck war und ist, dass dieser Geist seit geraumer Zeit mindestens wankelmütig ist, vielleicht sogar desorientiert. Einerseits. Andererseits in seinen konkreten Praxisformen brutaler denn je. Die allzu einfachen Neoliberalismus-Erklärungsformeln, die noch nie wirklich stimmten, stimmen jetzt erst recht nicht. Offenbar bricht sich die materielle und ideologische Auflösung der Gesellschaft in den Markt, der Menschen in "Unternehmersubjekte" und des Globus in eine homogene, vom Turbo-Kapitalismus glattgezogene Zone inzwischen in so deutlicher Weise in den sozialen Erfahrungen der Leute, dass sich in der Fassade der vermeintlichen Alternativlosigkeit des globalen neoliberalen Projekts Risse auftun; spürbar und sichtbar nicht nur in Heiligendamm 2007. Diesen Eindruck stellen wir zu Beginn unseres Heftes in einem ausführlichen Gespräch mit Alex Demirovic, Angela Klein und Peter Birke zur Debatte: Wiederkehr des Sozialen, Krise des Neoliberalismus? Einen Konsens erzielen wir am Ende schon deshalb nicht, weil wir es darauf gar nicht anlegten. Dass wir uns gegenwärtig in einer Situation des "Nicht mehr" und "Noch nicht" befinden, liegt dennoch auf der Hand, ebenso wie die Tatsache, dass es jetzt und in Zukunft erst recht darauf ankommt, mehr von den alltäglichen sozialen Kämpfe zu verstehen, damit sich die diagnostizierte "kritische Stimmung" absehbar tatsächlich in gegen-schlagkräftige emanzipatorische Politik übersetzt.
Unter der Überschrift Kapitalisierung des Sozialen untersuchen wir im ersten Teil des Heftes eine eigenartige Konstellation: In dem Maße, in dem sich das Kapital selbst den Auftrag erteilt, durch marktgerechte Herstellung von Charity endlich die sozialen Probleme zu lösen, an deren Bewältigung der Sozialstaat schon immer gescheitert sei, wird die für den Neoliberalismus fundierende Denkfigur der vollständigen Auflösung des Sozialen imMarkt einerseits durchkreuzt, andererseits bestätigt: Miriam Edding berichtet davon. Ähnliches gilt für die ideologische Zentralfigur des Neoliberalismus, das unternehmerische Selbst. Stefanie Graefe diagnostiziert das Burnout dieser Figur; eine Krise, die durch Anreicherung mit sozialem Sinn ohne Einschränkung des Verwertungsimperativs therapiert werden soll. Postsoziale Sozialpolitiken, also die Mobilmachung des Gemeinsinns durch Sozialtechnokratie, Krippenplatz-Debatten und "Freiwilligenkultur" legt Erika Feyerabend auf den Seziertisch. Und Moe Hierlmeier zeigt, wie die Bertelsmann Stiftung hierzulande das in Porto Alegre erprobte Konzept des partizipativen Bürgerhaushalts einsetzt - zur Abschöpfung kreativer Ressourcen, für die Privatisierung kommunaler Politik.
Unter neoliberalem Regime wird der für Lohn, Preis und Profit entscheidende Widerspruch von Kapital und Arbeit zunehmend durch den von Kapital und Armut überformt. Deshalb wendet sich der zweite Teil des Hefts unter diesem Titel den repressiven Strategien zu, mit denen das Kapital noch und gerade die Armen produktiv zu machen sucht. Rainer Land zeichnet nach, wie in der Regulation der "Überflüssigen" der Westen vom Osten lernt. Boris Kagarlizkij zeigt, wie wunderbar in Putins Russland seit nunmehr acht Jahren autoritär-paternalistische Verarmungspolitik und knallharter Marktradikalismus harmonieren. In der globalen Freihandelspolitik der EU kann von fürsorglichem Paternalismus keine Rede sein. Wie die Euro-Bürokratie die Macht des schrankenlosen Zugriffs transnationaler Konzerne auf den Rest der Welt sichert, erklärt Frauke Banse.
Die Beiträge im letzten Teil des Hefts thematisieren "soziales Kapital" in seiner wichtigsten Bedeutung. Sie werfen Spotlights auf Bewegungen, die in der einen oder anderen Weise auf eine Sozialisierung des Kapitals zielen, wobei dieser Begriff langfristig bekanntlich die Vergesellschaftung der kapitalistischen Privatwirtschaft anvisiert. Uns interessiert unter dieser Überschrift hier die kurz- und mittelfristige Perspektive, also die Stärkung, Vernetzung und Neuzusammensetzung antineoliberaler sozialer Bewegungen. Im Blick zurück auf die Protestwoche von Heiligendamm skizziert Thomas Seibert eine "Phase zwei" der Globalisierungskritik, in der das Verhältnis von Parteien und Bewegungen und von moderaten und radikalen Linken neu zu bestimmen sein wird. Jochen, Anna und Stefan vom Fürther Sozialforum berichten von erfolgreichen lokalen Kämpfen gegen ARGE-Ausgrenzung und Privatisierungspolitik. Anton Kobel fordert Gewerkschaften auf, sich die Kampagnen gegen Schlecker und Lidl zum Vorbild und ihre gesellschaftliche Verantwortung endlich ernst zu nehmen. Nora Sausmikat zeichnet die politischen Diskussionen chinesischer Intellektueller nach. Anne Tittor berichtet, wie die Geschichte der Piquetero-Bewegung nach den inzwischen sechs Jahre zurück liegenden Revolten im post-neoliberalen Argentinien weitergegangen ist. Petra Gerschner und Michael Backmund stellen den Künstler Josef Kleine vor. Der Bildteil in diesem Heft ist gestaltet mit Fotografien aus Kleines Arbeiten Auf Augenhöhe und Historische Pflaster.
Dass Fantômas 12 in neuem Layout erscheint, haben wir zwei Frauen zu verdanken: Andrea Schuldt, die das Konzept entworfen, und Renate Möller, die es umgesetzt hat.
aus: Fantômas - Magazin für linke Debatte und Praxis/Nr. 12/Winter/Frühjahr 08