''Koba, wozu brauchst Du meinen Tod?'' (Bucharin an Stalin)

Zu den Moskauer Prozessen 1936/38

Ich weiß, dies alles zu verstehen ist nicht leicht - aber die Geschichte ist nun einmal nicht, wie Hegel schrieb, der Ort des Glücks.

Der Antikommunismus wird in den Monaten, da sich die Moskauer Prozesse von 1936 bis 1938 jähren, äußerlich das Geschehene verurteilend, innerlich jedoch die Ermordung so vieler gestandener Revolutionäre genießen. Manche Kommunisten/Sozialisten beiderlei Geschlechts sind wütend, wenn auch wir auf diese Prozesse zu sprechen kommen und meinen, das sei Defätismus (politische und ideologische Entwaffnung der eigenen Reihen). Mit diesem Vorwurf begehen sie gleich eine ganze Reihe von Fehlern. 1. Defätismus? Man soll Ursache und Wirkung nicht verwechseln. Die ideologische und politische Entwaffnung unserer Reihen findet nicht dadurch statt, dass wir uns mit wirklichem Geschehen auseinandersetzen.Der Vorwurf wäre aber berechtigt, wenn diese nötige Auseinandersetzung in antikommunistischer Manier stattfände. Natürlich wird der Gegner mit einem Riesenschwall von Lügen arbeiten. Das ist so seit Jahr und Tag und wird auch in der Zukunft so bleiben. 2.Die Tuchatschewski-Affäre (dazu später) hat die Rote Armee beim Überfall Nazideutschlands zu furchtbaren Opfern, das Land fast an den Rand des Zusammenbruchs geführt: Das war de facto Defätismus! 3. Wer in solchen Fällen schweigt, gibt zu erkennen, dass er ein schlechtes Gewissen hat. Übrigens: das müssen wir auch haben. Und gerade deshalb müssen wir uns zum Thema äußern. 4. Das Problem, um das es geht, stellt eine riesige Hürde zwischen uns und jenen vor allem jungen Menschen dar, die wir für unsere Sache gewinnen wollen. Wenn wir sie ansprechen wollen, müssen wir uns dem Thema stellen, müssen klar sagen, was wir über das Geschehene wissen, ob wir dafür triftige Gründe oder Verbrechen sehen, ob wir uns darüber Gedanken machen, wie man solche Dinge in Zukunft vermeiden kann.Wenn uns das nicht gelingt, bleiben die Türen zu uns verschlossen, da können wir noch so viel Positives über den zunächst unterlegenen Sozialismus mitteilen. Außerdem haben diese Ereignisse tiefgreifend und langwierig gewirkt. Nicht nur in der Sowjetunion, sondern in der kommunistischen Weltbewegung als Ganzer. Wir spüren die Nachwirkungen doch noch heute.

Worum geht es?

Um mehrere große Prozesse, die von 1936 bis 1938 in Moskau stattfanden. Betroffen waren alle noch lebenden bekannten führenden Genossen: Sinowjew, Kamenew, Bucharin, Rykow, Pjatakow, Radek, eine Gruppe hoher militärischer Führer und viele weitere Personen. Von den 25 Genossen, die zwischen 1919 und 1921 dem Zentralkomitee der Bolschewiki angehörten, starben nur vier nicht infolge der Prozesse, von den 32 Mitgliedern des Politbüros in den Jahren 1919 bis 1932 wurden 17, von den früheren Volkskommissaren 18, von den Botschaftern und Gesandten 16 hingerichtet. Von den ZK-Mitgliedern, gewählt vom XVII. Parteitag, fielen 70 Prozent und von seinen 1 966 Delegierten 1 108 den „Maßnahmen“ zum Opfer. 1 Die Liste ist längst nicht vollständig.Gemäß heute zugänglichem sowjetischen Archiv-Material wurden damal 681 692 Hinrichtungen vorgenommen. 2 Manche wollen wegen der historischen Zusammenhänge die Prozesse rechtfertigen:Der Machtantritt der Nazis in Deutschland hatte die politischen Gewichte in Mitteleuropa erschüttert. Thälmanns Wort von 1932: „Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler! Wer Hitler wählt, wählt den Krieg!“ oder Stalins Worte auf dem KPdSU-Parteitag von 1934, mit der Hitler-Partei sei jene Partei in Deutschland an die Macht gelangt, welche die Kriegserklärung an die Sowjetunion in der Tasche habe. Es war völlig klar, dass sich die Sowjetunion auf diese neue Situation einstellen musste. Die Nazis brachen eine Festlegung des Versailler Vertrags nach der anderen: 1934 Aufhebung der Entmilitarisierung des Rheinlands, 1936 Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, 1938 „Anschluss“ Österreichs. Die Westmächte fielen Hitler nicht in den Arm. Beim Bürgerkrieg in Spanien hatten sie sich ebenso „neutral“ verhalten wie bei Mussolinis Überfall auf Äthiopien. England schloss ein Abkommen mit Nazideutschland über dessen Seeaufrüstung. Beim Verrat in München warfen die Westmächte die Tschechoslowakei Hitler zum Fraß vor. Stalin musste erkennen, dass nicht nur Nazideutschland den Krieg gegen die Sowjetunion plante, sondern dass die Westmächte in diesem Krieg „Schmiere“ für Hitler stehen würden. Wenn immer mal wieder über Stalins Paranoia spekuliert wird – es gab wirklich eine Paranoia: Stalin musste sich entweder auf diesen Krieg oder auf die „Zusammenarbeit“ mit Nazideutschland einstellen – und die Geschichte lief darauf hinaus, dass er jede der „irrsinnigen“ Varianten „ausprobieren“ musste (wobei die Westmächte durch die sowjetische, meinetwegen die Stalinsche Außenpolitik schließlich doch in den gemeinsamen Krieg gegen Hitler-Deutschland gezwungen wurden und Stalin Hitler, wie es Thälmann vorausgesagt hatte, das Genick brach). Angesichts dieser geradezu verrückten Sachlage musste sich die sowjetische Führung, und das hieß nun einmal Stalin, darüber Gedanken machen, wie es um das militärische Potential, um Ruhe und Frieden im Land bestellt sei. Zu den historischen Zusammenhängen gehört auch die wechselvolle Geschichte des Sowjetlandes selbst. Die war verbunden mit nicht wenigen Auseinandersetzungen, hatte auch zur Bildung von Lagern und Fraktionen geführt. Roy Medwedjew berichtet, dass es im Zusammenhang mit dem XVII. Parteitag zu einer geheimen Opposition gegen Stalin kam, der z. B.Ordshonikidse und Mikojan angehörten und die die Ersetzung Stalins durch Kirow erstrebte. 3 Wie also stand es um die innere Stabilität des Landes, wie würde sie sich im Fall desKrieges mit dem hoch gerüsteten deutschen Imperialismus bewähren? Wenn schon die Deutschen im ersten Weltkrieg, an zwei Fronten Krieg führend, der russischen Armee schwerste Niederlagen zufügten, wie würde es sein, wenn das Sowjetland sich allein mit einem solchen Gegner herumschlagen müsste? Könnte es nicht im Fall von Niederlagen, von ernsten Prüfungen des Landes, der Armee, zu Rissen in der Heimat, ja sogar zu Verrat kommen? Gab es eine „fünfte Kolonne“ (das Wort, eine feindliche Macht im eigenen Hinterland bezeichnend, war noch nicht „geboren“) im Sowjetland? Worauf könnte sie sich stützen? Es ging um Fragen des Lebens und Überlebens der Sowjetmacht. Nicht nur Stalin stellte sich solchen Fragen: „Wir hätten größere Verluste im Krieg erleiden können – vielleicht sogar eine Niederlage –, wenn die Führung instabil gewesen wäre und interne Uneinigkeit wie Risse in einem Felsen entstanden wäre …Wären keine brutalen Maßnahmen ergriffen worden, hätte es die Gefahr einer Spaltung der Partei gegeben.“ 4 Es gibt sogar im letzten Brief, den Bucharin aus der Todeszelle an Stalin schrieb, einen Hinweis darauf, dass auch ihn diese Frage quälte: „Es existiert irgendeine große und kühne politische Idee einer generellen Säuberung a) im Zusammenhang mit einer Vorkriegszeit, b) im Zusammenhang mit dem Übergang zur Demokratie. Diese Säuberung erfasst a) Schuldige, b) Verdächtige und c) potentiell Verdächtige …Wäre ich völlig davon überzeugt, dass Du genau so denkst, so wäre es mir bedeutend leichter ums Herz.“ 5 (Vor seiner Ermordung bat er um einen Zettel und einen Bleistift. Beides wurde ihm gewährt. Er schrieb darauf: „Koba, wozu brauchst Du meinen Tod?“ Koba, das war einer der Umgangsnamen Stalins.) 6 Die Frage, wie eine Staatsund Parteiführung auf Gefahren dieser Art reagiert, kann nicht am Maßstab des sogenannten normalen Verhaltens beurteilt werden. Es gab sicher eine Anzahl von Gründen für die Moskauer Prozesse, sicherlich Feinde der Partei, des Staates, auch Stalins persönlich, und es gab natürlich auch „Rivalen“ und folglich gab es auch „persönliche“ Gründe (Abrechungen). Doch man sagt, die Prozesse hätten dem Schutz des Landes gedient.Auch in der DKP gibt es bis heute Genossinnen und Genossen, die die Prozesse mit solchen „Argumenten“ rechtfertigen. Denn es geht ja doch gegen all unsere ideologischen, politischen und moralischen Überzeugungen anzunehmen, dass Kommunisten, Sozialisten, eine sozialistische Staatsmacht anders handeln könnten als zur Abwehr größter Gefahren wirklich nötig sein müsste. Haben also die Maßnahmen tatsächlich dem vorgegebenen Zweck gedient? Hat die faktische Enthauptung der Roten Armee, hat die im Gefolge der Tuchatschewski-Affäre erfolgte Vernichtung ihrer militärischen und politischen Führung bis hinab auf die Ebene der Bataillone dem Schutz des Landes gedient? Dies hat doch dazu geführt, dass der kopflos gemachten Armee beim Beginn des Naziüberfalls furchtbare Verluste zugefügt, das Land fast an den Abgrund gestoßen werden konnte. Haben die Prozesse Beweise für das Vorhandensein einer „Fünften Kolonne“ im Land erbracht? Und wenn es solches Potential gegeben habe,wie groß es hätte sein können? Zu fragen ist, wie solches „Beweismaterial“ herausgefunden wurde, auch zu fragen ist nach der Verhältnismäßigkeit der durchgeführten Maßnahmen und angewandten Mittel. Dazu gibt es Feststellungen eines Mannes, der es nicht nur wissen musste, sondern selbst neben Stalin führend an den „Maßnahmen“ beteiligt war. Die Rede ist von Molotow. Im Jahre 1973 sagte er in einem Interview: „Die Geständnisse“ (der Moskauer Prozesse) „schienen nicht echt und übertrieben zu sein. Ich erachte es für unvorstellbar, dass Rykow, Bucharin und sogar Trotzki den sowjetischen Fernen Osten, die Ukraine und selbst den Kaukasus an eine fremde Macht abtreten wollten. Das schließe ich aus.“ 7 Aber gerade wegen dieser Vorwürfe wurden Bucharin und Rykow erschossen! „Es ist tatsächlich sehr traurig, dass so viele unschuldige Menschen sterben mussten.“ 8 „Ich unterschrieb Listen mit Namen von Menschen, die aufrechte und engagierte Bürger gewesen sein könnten.“ 9 Auf den Listen befanden sich mehrere zehntausend Namen. Sicher waren das nicht alles unschuldige Menschen. Er gab auch zu Protokoll, dass im Zusammenhang mit den Verfolgungen Sippenhaftung betrieben wurde. 10 Halten wir fest: Falsche Geständnisse, viele unschuldige Menschen.Vor dem Hintergrund solcher Selbstzeugnisse Molotows und anderer Genossen: Wo ist da die „Fünfte Kolonne“? Sie existierte in erfolterten „Geständnissen“. Mehr gab es nicht. Zumal Bucharin erklärte, seit sieben Jahren keine Meinungsverschiedenheit mit der Partei, der Parteiführung, der Parteilinie mehr gehabt zu haben. In seinem letzten – bereits erwähnten – Brief an Stalin aus der Todeszelle schrieb er „Ich schreibe diesen Brief wahrscheinlich als meinen letzten Brief vor meinem Tode. … Am Rande des Abgrunds stehend, aus dem es kein Zurück gibt, gebe ich Dir mein allerletztes Ehrenwort, dass ich die Verbrechen, die ich während der Untersuchung zugegeben habe, nicht begangen habe … In all den letzten Jahren habe ich mich ehrlich und aufrichtig an die Parteilinie gehalten …“ 11 Irrsinnigste Geständnisse – nicht nur jene Bucharins – wären unnötig gewesen, hätte es in den Prozessen materielle Beweismittel gegeben. Wenn es um Verschwörungen jenes Ausmaßes gegangen wäre, bei so vielen Zehntausenden Betroffenen, hätte man unweigerlich mehr für die Prozesse zu Händen gehabt als nur „Geständnisse“ als einzige Prozessmittel. Aber wie sagte Bucharin im Prozess dazu? „Geständnisse der Angeklagten sind nicht verbindlich,Geständnisse der Angeklagten sind ein mittelalterliches juristisches Prinzip.“ Wie es im Mittelalter zu Geständnissen kam, war natürlich Bucharin bekannt, sein Wort war also durchaus als Anspielung auf die Prozesse zu verstehen. Als er in der Plenartagung des ZK, die seine Verfolgung betrieb, erklärte: „In bin nicht Sinowjew und nicht Kamenew und werde mich nicht selbst bezichtigen“, fuhr ihm Molotow ins Wort: „Wenn Sie nicht gestehen, dann beweisen Sie damit, dass Sie ein faschistischer Söldling sind! ….Wenn wir Sie verhaften, dann werden Sie gestehen!“ 12 Bucharin hat gestanden Tuchatchewski war der Oberbefehlshaber der Sowjetarmee, er wurde der Planung eines militärischen Putsches gegen die Sowjetführung beschuldigt und deswegen hingerichtet. Die „Affäre“ wird als gezielte Provokation entsprechender Stellen im faschistischen Deutschland dargestellt, die in bestimmten Kreisen der sowjetischen Sicherheitsorgane bereitwillig aufgegriffen wurde. Dennoch: Nehmen wir an, die Putschpläne hätte es gegeben, so stellen sich folgende Fragen: Rechtfertigte der Verrat des militärischen Oberbefehlshabers (der natürlich Mitwisser und Mistreiter haben muss) das, was der Hinrichtung Tuchatschewskis und anderer folgte? Im Ergebnis wurden vernichtet: drei von fünf Marschällen, 13 von 15 Armeegenerälen, 62 von 85 Korps-Kommandeuren, 110 von 195 Divisions-Kommandeuren, 220 von 406 Brigade-Kommandeuren. Verhaftet wurden 6 000 Offiziere vom Oberst aufwärts, davon wurden 1 500 hingerichtet. Die Gesamtzahl der bei dieser Kampagne ermordeten Offiziere betrug – die Zahlen sind unterschiedlich – mindestens 20 000. Faktisch wurde dadurch mittelbar dem Feind geholfen – und das war Defätismus! Wie reagierte Hitler auf diese Hinrichtung einer angeblichen Fünften Kolonne, war er betroffen über diesen „Verlust“ seines angeblichen Potentials in der SU? Darüber sprach Keitel während des Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesses: „Stalin hat 1937 die erste Garnitur seiner Offiziere liquidiert.“ Und „die neue Generation verfügt noch nicht über die Hirne, die gebraucht werden.“ 13 Es gibt über jeden Zweifel erhabene Zeugen, Zeugen aus der deutschen kommunistischen Bewegung. Werner Eberlein berichtet, sein Vater Hugo, enger Freund Lenins und Rosa Luxemburgs, Mitbegründer von KPD und Komintern, sei gefoltert worden. „Man habe von ihm ein Geständnis über eine angebliche Agententätigkeit Wilhelm Piecks“ (!) „erpressen wollen und ihm bei Verhören einen Lungenriss zugefügt“. 14 In einem Brief an das Politbüro der KPD, den er herausschmuggeln konnte, berichtete Hugo Eberlein, man habe ihn mit Faustschlägen und Fußtritten gefoltert, wenn er ohnmächtig geworden sei, habe man ihm Opium gespritzt, damit man ihn weiter foltern konnte. Er habe nicht gestanden. Er wurde erschossen. 15 Weitere unverdächtige Zeugenaussagen: Bernhard Koenen (er war in der DDR Erster Sekretär der Bezirksorganisation Sachsen-Anhalt der SED) berichtete Wilhelm Pieck von seiner Folter und konnte führende NKWD-Funktionäre als Folterer benennen. Genosse Kerff, früherer preußischer Landtagsabgeordneter, mit den Merkmalen schwerster Folter aus dem KZ im Reichstagsbrandprozess vorgeführt, konnte über Folter in NKWD-Haft berichten. Die Leitung der Moskauer Parteiorganisation der KPD konnte über mehr als zweihundert Fälle willkürlicher Maßnahmen gegen Genossen berichten. 16 Was hier geschah, konnte nicht mit der Bedrohung durch Nazideutschland gerechtfertigt werden. Wir müssen mit aller Deutlichkeit sagen: Es wurden in durch nichts zu rechtfertigenden Weise Verbrechen gegen alles verübt, was für Kommunisten auf der Grundlage ungeschriebener Gesetze kommunistische Moral ausmacht. Wenn man nicht in den Fehler verfallen will, geschichtliches Geschehen eines solchen Ausmaßes aus der Psyche eines Einzelnen zu erklären muss man nach objektiven Bedingungen fragen, die solche Prozesse möglich machten. Die Verhältnisse waren für die Oktoberrevolution äußerst ungünstig, doch war sie nötig, wenn Russland aus dem Völkergemetzel des Ersten Weltkrieges herausgerissen, Möglichkeiten geschaffen werden sollten für den Frieden, für die Übergabe des Bodens an die Bauern, die ihn bearbeiteten, für die Lösung der kulturellen und nationalen Probleme des Vielvölkerstaates. Im Bürgerkrieg und in der Intervention mit ihrem Massenelend, der Hungersnot, dem Ausbluten der ohnehin nicht sehr starken Arbeiterklasse an den Fronten – also der entscheidenden Basis der Revolution – wurde es unvermeidbar, dass die Partei die Aufgaben der zerrütteten Staatsmacht übernehmen musste. Nicht breit entfaltete Demokratie stand auf der Tagesordnung, sondern eiserne Disziplin und härteste Zentralisation aller Kräfte des Landes. Auf solchem Boden können Bedingungen für Entartungserscheinungen entstehen, aber sie müssen nicht entstehen. Lenin hatte oft und keineswegs um geringfügige Dinge ernste Meinungsverschiedenheiten mit solchen Mitstreitern wie Bucharin, Kollontai, Kamenew, Sinowjew, auch Stalin und Ordshonikidse, nicht zuletzt Trotzki. Es ist Lenin nicht eingefallen, darin die Potenz für eine „Fünfte Kolonne„ zu sehen, die man vorsorglich kalt zu stellen (oder gar umzubringen) habe, er hat diesen Genossen hohe und höchste Funktionen in Partei und Staat anvertraut. Unter solchen Bedingungen spielen Eigenschaften führender Persönlichkeiten eine durchaus zentrale Rolle.Lenin hat diese in seinem sogenannten Testament angeführt. Aber, um kein Missverständnis aufkommen zu lassen:An der Herausbildung autoritärer Strukturen, durch oben erwähnte Bedingungen begünstigt, waren verschiedene Parteiführer aktiv beteiligt, keinesfalls nur Stalin. Bucharin war beispielsweise zunächst dabei sein engster Verbündeter. Aber auch Kirow und Molotow, Ordshonikidse und andere hatten ihren Anteil. Sicher erleichterte das Fehlen einer längeren demokratischen Tradition diese Vorgänge und die schon von Lenin gesehene und entschieden bekämpfte Herausbildung von Bürokratie (zumal einer solchen mit zaristischem Hintergrund) bereitet den Boden für die Mentalität des Gehorchens, die dann auch durch Privilegien abgesichert werden kann. Dies hat die schleichende Deformation der Partei und des Staatsapparates, die Herausbildung eines autoritären Führungsstils bewirkt. Das wiederum führt dazu,mögliche „Rivalen“ des Autokraten und deren Anhang auszuschalten. Ohne solche Verhältnisse hätte es die schlimmen Entartungserscheinungen im Land und die sie begleitenden, die autoritäre Führung absichernden Prozesse nicht geben können. Sicherlich mag es hilfreich sein, wenn wir darauf aufmerksam machen, dass es die sowjetischen Kommunisten waren, die aus eigener Kraft diese schlimmste Seite in der Geschichte der kommunistischen Bewegung beendet und jene rehabilitiert haben, denen damals schwerstes Unrecht widerfahren ist. An der Art und am Umgang (oder Nicht-Umgang) der KPdSU mit diesen Problemen wird harsche Kritik geübt. Die SED hat zum Beispiel erst Mitte der Achtzigerjahre aus Moskau Listen bekommen mit Namen von Genossinnen und Genossen, von denen man bis dahin geglaubt hatte, sie seien während des Krieges, in der Illegalität usw. ums Leben gekommen, in Wahrheit aber waren sie Opfer des Terrors. 17 Bei dieser Kritik muss aber auch berücksichtigt werden, wie die konkreten Bedingungen damals in der KPdSU waren, welche vielfältigen Hindernisse einer wirklichen „Aufarbeitung“ des Geschehens im Wege standen. Viele Materialien waren nicht bekannt. Mancher Betroffene,manche Betroffene war nicht fähig, über das zu sprechen, was ihnen widerfahren ist. Es gab nicht wenige Kommunistinnen und Kommunisten, die schon mit jenen unzureichenden Bekanntmachungen damals schwerste Probleme hatten – und es gab auch ernsten Widerstand von Stalin-Anhängern, die nicht bereit oder fähig waren anzuerkennen, dass es sich bei dem „Enthüllten“ um wirkliche Verbrechen gehandelt hat. Das muss gegen alle jene festgehalten werden, die immer noch das damalige Geschehen entschuldigen, rechtfertigen, bestreiten wollen. Übrigens habe ich diese Haltung nur bei solchen Genossinnen und Genossen angetroffen, die selbst nicht in die Mühle geraten waren, von den selbst Betroffenen hat keiner nach Rechtfertigungsgründen für den Terror gesucht, höchstens haben sie zum Thema geschwiegen. Auch ich habe mir lange nicht vorstellen wollen oder können, dass Sozialisten, Kommunisten zu derlei Taten fähig sein würden, habe sie sogar zu rechtfertigen gesucht und mich dabei ausgerechnet an den Materialien jener orientiert, welche die „Geständnisse“ zusammengebracht haben – als Beispiel sei ein ganz schlimmes Buch genannt, es hieß â€žDie große Verschwörung“ und erweckte den Eindruck, als sei die Oktoberrevolution und die folgende Geschichte des Landes, von den Personen Lenins und Stalins abgesehen, das Werk einer riesigen Verbrecherbande gewesen. Erst nachdem ich Genossinnen und Genossen kennen gelernt habe, die dem Terror entkommen konnten, Kommunisten geblieben sind, oft in herausragenden Positionen in der Parteioder Staatsführung (etwa als Sekretäre des ZK der illegalen KPD) wichtige Funktionen innehatten, begann ich zu lernen und ich kann nicht vergessen, wenn mir Genossen, deren Totenrede ich gehalten habe, kurz vor ihrem Tod sagten: Sie schämten sich, über das zu reden, was ihnen widerfahren sei. Zwei der drei kommunistischen Lagerältesten des KZ Buchenwald seien nicht dort, sondern in Workuta umgekommen. 18 Einige Bemerkungen zu den nötigen Lehren.Wir müssen uns gründlich damit befassen, was solche Exzesse ermöglichte,welche Sicherungen dagegen möglich sein könnten. Und da kommen wir nicht an der Frage vorbei, wie es um die Sowjetmacht bestellt war und wie es um den Aufbau einer künftigen sozialistischen Staatsmacht bestellt sein könnte. Es geht also um ernste Lehren aus unserer Geschichte. Meines Erachtens muss die Konzeption aufgegeben werden, wie sie den Räten zugrunde lag, dass im Sowjet die Einheit der Gewalten besteht, dass gesetzgebende, vollziehende und juridische Gewalt sich in der Hand des gleichen Kollektivs (im Falle Stalins sogar der einer einzelnen Person!) befinden. Im Falle einer autoritären Staatsstruktur ist da die Willkürherrschaft „normal“. Es geht um die strikte Einhaltung sozialistischer Gesetze, um die Einrichtung entsprechender Kontrollsysteme (möglicherweise durch ein der sozialistischen Verfassung verpflichtetes Verfassungsgericht, durch eine Verwaltungsgerichtsbarkeit – sodass den Einzelnen und Kollektiven das Recht eingeräumt wird, juristische und politische Entscheidungen überprüfen zu lassen). Das läuft auf die Trennung der Gewalten, der legislativen, exekutiven und juristischen Gewalt eines sozialistischen Staates hinaus. Es ist auch zu bedenken, dass ein neuer Anlauf zum Sozialismus bei uns nur möglich sein dürfte, wenn breiteste Massen des Volkes diesen Anlauf bewirken, und eine solche Volksbewegung wird durchaus nicht homogen in sozialer, politischer und weltanschaulicher Hinsicht sein. Das aber hätte Konsequenzen für eine sich aus solch einer Bewegung ergebende Staatsmacht. Es sind Koalitionsregierungen und politisch-parlamentarische Fraktionen möglich, das also wäre der Staatstyp der demokratischen Republik, ganz so, wie ihn der späte Engels einmal meinte. Es müssen auch Konsequenzen hinsichtlich des Charakters der Partei, der Rolle und Bedeutung der Gewerkschaften und anderer gesellschaftlicher Institutionen gezogen werden. Im neuen Programm der DKP wird versucht, unsere Vorstellungen zu entwickeln, wobei wir wissen, dass sich die Realität, gerade auch in der Zukunft, nicht allein gemäß unserer Wünsche und Vorstellungen verhalten wird. An der Tatsache der genannten Verbrechen kann nicht gezweifelt werden, auch nicht daran, dass letztlich die Verantwortung dafür bei Stalin lag. Aber aus der gleichen Logik folgt auch die Verantwortung für das, was unter seiner Führung an weltgeschichtlich Bedeutendem stattfand! Stalin gehört mit diesem grässlichen Widerspruch nun einmal zu den weltgeschichtlich bedeutenden Persönlichkeiten, und mit Widersprüchen solcher Art sind so ziemlich alle großen Persönlichkeiten der Geschichte behaftet, ja man kann sie eigentlich nur in dieser Widersprüchlichkeit verstehen – sofern sie fortschrittlich gewirkt haben. Sicher stellt sich die Frage, wie solche Widersprüche „aufzuheben“ seien. Ich denke, der Historiker Isaac Deutscher hat dies im Falle Stalins versucht und bewältigt: „Das Volk, dessen Führung Stalin übernahm, konnte man – abgesehen von einer kleinen Gruppe Gebildeter und von fortschrittlichen Arbeitern – mit Recht als eine Nation von Wilden bezeichnen. Damit soll nichts über den russischen Volkscharakter gesagt werden. Russlands Rückständigkeit, sein asiatischer Zug, waren nicht die Schuld, sondern die Tragödie des Landes. Stalin unternahm es, um einen berühmten Ausspruch zu zitieren, die Barbarei mit barbarischen Mitteln auszutreiben. Aber gerade durch die Art der angewandten Methode kehrte wieder vieles ins russische Leben zurück, was man als Barbarei hinausgeworfen zu haben glaubte. Trotzdem hat die Nation auf fast allen Gebieten ihrer Existenz Fortschritte erzielt. Ihre Produktionskapazität, die im Jahre 1930 noch nicht einmal an die eines europäischen Mittelstaats heranreichte, wurde so rasch und umfassend erweitert, dass Russland heute (1948) die erste Wirtschaftsmacht Europas und die zweite in der Welt ist. In wenig mehr als einem Jahrzehnt verdoppelte sich die Zahl der russischen großen und mittleren Städte. Die Stadtbevölkerung stieg um dreißig Millionen. Die Zahl der Bildungsstätten aller Arten und Grade vervielfachte sich in eindrucksvoller Weise. Ganz Russland wurde in die Schule geschickt.“ Deutscher geht auf die Kulturpolitik Stalins ein, beschönigt die repressiven Maßnahmen nicht, verweist aber auf die gewaltigen Anstrengungen, um das Kulturerbe der Vergangenheit der jungen Generation zu vermachen. Und schreibt dann weiter: Man könne solcher Gründe wegen „Stalin nicht mit Hitler zu den Tyrannen zählen, in denen man später nur noch eine absolute Wertlosigkeit und Nutzlosigkeit sieht. Hitler war der Führer und zugleich Ausbeuter einer sterilen Gegenrevolution, während Stalin der Führer und zugleich Ausbeuter einer tragischen, widerspruchsvollen und schöpferischen Revolution war. Wie Cromwell und Robespierre und Napoleon begann Stalin seine Laufbahn als Diener eines aufständischen Volkes, zu dessen Herrn er sich dann machte. Wie Cromwell verkörperte Stalin die Kontinuität der Revolution durch all ihre Phasen und Metamorphosen, obwohl seine Rolle zunächst weniger bedeutend war als die Cromwells.Wie Robespierre hat er seine eigene Partei verbluten lassen. Wie Napoleon baute er ein halb revolutionäres, halb konservatives Imperium auf und trug die Revolution über die Grenzen seines eigenen Landes hinaus. Das Gute an Stalins Werk wird seinen Schöpfer ebenso sicher überdauern wie dies bei Cromwell und Napoleon der Fall war. Aber um es für die Zukunft zu erhalten und zu seinem vollen Wert zu entfalten, wird die Geschichte das Werk Stalins vielleicht noch genauso streng läutern und formen müssen wie sie einst das Werk der britischen Revolution nach Cromwell und das Werk der französischen Revolution nach Napoleon gereinigt und neu geformt hatte.“ (Isaac Deutscher, Stalin. Eine politische Biographie.Argon Verlag Berlin 1967, S. 717 ff.) Ich weiß, dies alles zu verstehen ist nicht leicht – aber die Geschichte ist nun einmal nicht, wie Hegel schrieb, der Ort des Glücks. # # # # # # # # # # # 1) Nikita S. Chrustschow, Über den Personenkult und seine Folgen, Bericht an den XX. Parteitag der KPdSU, in: Günter Judick/Kurt Steinhaus, Hrsg. „Stalin bewältigen. Dokumente und Aufsätze“, Edition Marxistische Blätter, 1989, S. 123 ff. back 2) Diese Zahl entspricht auch ungefähr den Angaben, die Roy Medwedjew in „Moscow News“ am 1. Januar 1989 machte, dort S. 11 und 12. back 3) Roy Medwedjew, Das Urteil der Geschichte, Dietz Verlag Berlin 1992, Band 2, S. 12. back 4) Chuev, Felix, Molotow, Remembers: Inside Kremlin Politics: Conversations with Felix Chuev, Chikago: I. R. Dee, 1993, S. 256 f. back 5) Ein unbekannter Brief Nikolai Bucharins an Josef Stalin (geschrieben am 10. Dezember 1937), in russischer Sprache zum erstenmal veröffentlicht in: Istoschnik. Dokumenty russkoi istorii, Heft 1, 1993. übersetzt von Wladislaw Hedeler/Ruth Stoljarowa. back 6) ebenda und Roy Medwedjew, Das Urteil der Geschichte, Dietz Verlag Berlin 1992, Band 2, S. 61. back 7) Chuev,, S. 278. back 8) ebenda, S. 264. back 9) ebenda, S. 297. back 10) ebenda, S. 277 f back 11) Roy Medwedjew, Das Urteil der Geschichte, Dietz Verlag Berlin 1992, Band 2, S. 48. back 12) Kratkaja istorija Welikoi Otetschestwennoi woiny, Moskau 1965. S. 39 f. back 13) A. J. Poltorak, Njurnbergski epilog,Moskau 1965, S, 324 f. back 14) Werner Eberlein, „Geboren am 9. November”. Das Neue Berlin 2002, S. 72. back 15) ebenda, S. 74. back 16) Zu Koenen, Kerff usw. siehe: Herbert Wehner: Zeugnis, Köln 1982, S. 213. back 17) Mitteilung Kurt Hagers, bezeugt von Nina Hager. back 18) Mitteilung Emil Carlebachs. back

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