Clash der Konfessionen

Über den Umgang mit religiösen Symbolen in der Schule

Das so genannte Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) verursachte eine Welle der Empörung in christlich-konservativen Kreisen.

Durch dieses Urteil1 fühlte man sich im Hinblick auf das Kruzifixurteil2 ungerecht behandelt.3 Dieser Konflikt um Religion und Schule lässt sich auf das im Allgemeinen schwammige Verhältnis von Staat und Religion in Deutschland zurückführen. Das BVerfG hat sich bereits in drei von einer breiten Öffentlichkeit verfolgten Urteilen mit Kollisionen der negativen und positiven Bekenntnisfreiheit in der Schule beschäftigt. Unter positiver Bekenntnisfreiheit wird hier die in Art. 4 des Grundgesetzes (GG) vorbehaltlos gewährte Freiheit verstanden, sich - auch und gerade öffentlich - zu seiner Religion zu bekennen und für diese zu werben. Die ebenfalls in Art. 4 GG enthaltene negative Bekenntnisfreiheit ist deren Gegenstück. Sie beinhaltet die Freiheit, nicht zwangsweise mit irgendeiner Form von Religiösität konfrontiert zu werden. Im öffentlichen Raum können positive und negative Bekenntnisfreiheit im Regelfall koexistieren. Niemand wird zum Besuch einer Moschee oder zum sonntäglichen Abendmahl gezwungen. Den Mormonen in der Fußgängerzone kann ausgewichen werden, und auch die Zeugen Jehovas lassen sich abwimmeln. Anders verhält sich dies an Orten im öffentlichen Raum, zu deren Besuch entweder eine allgemeine Verpflichtung besteht, oder der zumindest für den Erwerb gesellschaftlicher Privilegien unbedingt erforderlich ist: Schulen. Wird hier eine bestimmte Religion im Klassenzimmer praktiziert oder für sie geworben, so kann der/die SchülerIn nicht ausweichen. Denn verweigert er/sie den Schulbesuch, wird dieser bei Schulpflichtigen notfalls polizeilich durchgesetzt. In höheren Klassen droht die Verwehrung weiterer Bildungs- und Lebenschancen mangels Schulabschluss.

Was heißt hier schon "neutral"?

Das erste grundsätzliche Urteil des BVerfG in diesem Spannungsfeld erging 1979.4 Hier beschäftigte sich das Gericht mit einem überkonfessionell-christlichen Schulgebet, das nach einer Beschwerde der Erziehungsberechtigten einer Schülerin eingestellt worden war. Es wurde entschieden, dass die Einstellung des Schulgebets mit dem aus Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) i.V.m. Art. 140 GG resultierenden staatlichen Neutralitätsgebot unvereinbar und deshalb rechtswidrig sei. Neutralität bedeute nämlich nicht Indifferenz, sondern lediglich die staatliche Pflicht zur Toleranz gegenüber den unterschiedlichen Religionen. Der Staat müsse sich also nicht gegenüber jeder Religion gleichgültig verhalten - und dementsprechend entweder ein Schulgebet für alle denkbaren Bekenntnisse oder aber gar keines durchführen - sondern dürfe durchaus die Ausübung der "kulturell prägenden" christlichen Religion fördern. Allerdings unter der Bedingung, dass der/die SchülerIn oder LehrerIn, der/die auf das Gebet verzichten wolle, nicht an diesem teilnehmen müsse. Die Durchführung des Schulgebets sei Ausdruck der positiven Bekenntnisfreiheit der christlichen SchülerInnen und LehrerInnen. Diese müsse mit der negativen Bekenntnisfreiheit der anders- oder ungläubigen Schulangehörigen in Übereinstimmung gebracht werden. Dazu genüge es aber, die Teilnahme freizustellen.

Kruzifix = Kopftuch

Etwas schwieriger hatte es das BVerfG dann 1995 beim Kruzifix-Urteil. Die negative Bekenntnisfreiheit der Un- und Andersgläubigen war in diesen Fall nicht durch das relativ leicht umgehbare Gebet, sondern durch ein in allen Räumlichkeiten ständig hängendes Kruzifix beeinträchtigt worden. Angeordnet wurde dies durch § 13 der Bayerischen Volksschulordnung. Da ein Ausweichen hier unmöglich ist, wurde der bayerische Gesetzgeber zu einer grundrechtskonformen Neuregelung gedrängt. Diese sieht nun die Möglichkeit vor, der Anbringung aus "ernsthaften und einsehbaren Gründen" zu widersprechen. Noch einmal komplizierter wurde es für das BVerfG mit dem Kopftuch-Urteil 2003. Hier ging die Gefahr für die negative Bekenntnisfreiheit von SchülerInnen nicht von einem entfernbaren Gegenstand, sondern direkt von einer Lehrerin aus, ohne die klassischer Unterricht nicht stattfinden kann. Eine muslimische Lehramtsanwärterin wollte aus religiösen Gründen mit Kopftuch unterrichten. Das Stuttgarter Oberschulamt fürchtete, dass die SchülerInnen hierdurch religiös manipuliert werden könnten. Es entschied deshalb, der Muslimin die persönliche Eignung für die Übernahme in ein Beamtenverhältnis nach § 11 des Landesbeamtengesetzes Baden-Württemberg abzusprechen. Diese Entscheidung des Oberschulamtes erscheint zunächst nachvollziehbar, denn in einer ähnlichen Konstellation war vom BVerfG im Kruzifix-Urteil ja auch zu Gunsten der negativen Bekenntnisfreiheit der Beschulten entschieden worden. Wieder wäre eigentlich die positive Bekenntnisfreiheit - hier anders als im Kruzifix-Urteil die der muslimischen Lehrerin und nicht die der christlichen Schulangehörigen - gegen die negative Bekenntnisfreiheit der Un- und Andersgläubigen abzuwägen gewesen. Obwohl der Vergleich hinkt, ließe sich großzügig unterstellen, dass die Institution Schule von einer mit religiösen Symbolen versehenen Lehrerin trotz ihrer personellen Individualität in der selben Weise repräsentiert wird wie von einem mit religiösen Symbolen versehenen Klassenzimmer ohne die Eigenschaft personeller Individualität. Und demnach hätte das Oberschulamt bei konsequenter Würdigung des Kruzifix-Urteils zu folgender Lösung gelangen müssen: Die muslimische Lehrerin darf das Kopftuch tragen, es sei denn, die Erziehungsberechtigten eineR SchülerIn beantragen die Abnahme des Kopftuchs aus ernsthaften und nachvollziehbaren Gründen.

Religiöse "Neutralität" im christlichen Abendland

Das BVerfG hob zwar die Entscheidung der Vorinstanz auf, allerdings nicht aufgrund einer solchen Abwägung, sondern wegen der nicht bestimmt genug gefassten gesetzlichen Grundlage. Die Lösung des Konfliktes zwischen negativer Bekenntnisfreiheit von SchülerInnen und positiver Bekenntnisfreiheit von LehrerInnen wurde an die Gesetzgeber der Länder delegiert. Der Tenor der seitdem ergangenen Regelungen sieht so aus: Die Darstellung religiöser Symbole ist LehrerInnen verboten, sofern diese geeignet sind, die Neutralität des Landes oder den Schulfrieden zu stören. Welche Symbole keinesfalls störend sind, ist gesetzlich festgelegt: solche, die christlich-abendländische Bildungs- und Kulturwerte repräsentieren.5 LehrerInnen in Burka oder mit dem Turban der Sikh wird es also nicht geben, wohl aber Unterricht durch Nonnen und an LehrerInnen-Hälsen baumelnde Kreuze.

Zweierlei Freiheit: Laizismus oder Pluralismus

Dieses sonderbare Verständnis von religiöser Neutralität in der Schule ist typisch für das Verhältnis von Staat und Religion in Deutschland. Auf eine Staatskirche wird gemäß Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 WRV zwar verzichtet. Laizistisch, also Staat und Religion streng trennend und letztere deshalb aus der staatlichen Sphäre ausschließend, geht es deshalb aber noch lange nicht zu. Dies zeigen die zahlreichen Privilegien der beiden christlichen Großkirchen.6 Die oben skizzierte Vorstellung von religiöser Neutralität, die LehrerInnen im Unterrricht das Tragen christlicher Symbole im Grundsatz erlaubt, das Tragen muslimischer Symbole aber verbietet, fühlt sich ungerecht an. Im Hinblick auf Art. 3 GG und die beamtenrechtliche Ausprägung des Gleichheitssatzes in Art. 33 GG erscheint sie auch rechtlich fragwürdig, da sie das Staatschristentum und andere Religionen ungleich behandelt. Im Anschluss an diese Feststellung stellt sich aber die Frage, wie die Ausübung der Bekenntnisfreiheit in der Schule gerecht gelöst werden könnte. Dabei erscheinen aus aufgeklärter Perspektive im Wesentlichen zwei Modelle denkbar: Laizismus oder Pluralismus. In der Schule eines konsequent laizistischen Staates dürfte keinerlei sichtbare Bekenntnisform akzeptiert werden. In den beiden laizistischen Staaten Europas, Frankreich und der Türkei, ist denn auch das Tragen jeglicher sichtbarer religiöser Symbole in den Schulen untersagt - auch den SchülerInnen. Die Religiosität des/der Einzelnen hat im Privaten stattzufinden. Der staatlich organisierte öffentliche Raum ist von ihr frei zu halten. Der Gegenentwurf ist ein konsequenter Pluralismus. In den Schulen eines solchen Staates muss jegliche sichtbare Bekenntnisform akzeptiert werden. Jede/r Einzelne muss seine Religiosität auch im öffentlichen Raum gleichberechtigt ausüben dürfen, solange dadurch nicht die Rechtsgüter anderer verletzt werden. Die Konfrontation mit Andersgläubigkeit in der Schule ist danach prinzipiell allen immer zumutbar, auch und gerade im Verhältnis zwischen LehrerInnen und SchülerInnen. Der laizistische Staat setzt die negative Bekenntnisfreiheit der Schulangehörigen absolut, nimmt aber dafür in Kauf, empfindlich in die positive Bekenntnisfreiheit religiöser SchülerInnen und LehrerInnen einzugreifen. Dieser Eingriff wird umso empfindlicher, je umfassender die Verpflichtung zum Schulaufenthalt ist. Der pluralistische Staat nimmt dagegen die positive Bekenntnisfreiheit der Schulangehörigen besonders ernst, verlangt unter Umständen aber allen DissidentInnen des jeweilig nach Außen getragenen Bekenntnisses ein hohes Maß an Toleranz ab. Egal welches Modell gewählt wird: der deutsche Weg der rechtlichen Ungleichbehandlung verschiedener Religionszugehörigkeiten ist untragbar. Denn werden christliche SchülerInnen von RepräsentantInnen der Institution Schule mit Symbolen einer anderen Religion konfrontiert, wird deren negative Bekenntnisfreiheit durch die Schul- und Beamtengesetze der Länder abgesichert - auch wenn sich überhaupt niemand beschwert. Ist der Fall anders herum gelagert, wird zunächst die positive Bekenntnisfreiheit der christlichen Schulangehörigen betont. Dabei kann zwar das Abhängen eines Kreuzes im Klassenzimmer noch erreicht werden, nicht aber die Entfernung von Kruzifix-tragendem Lehrpersonal. Philip Rusche studiert Jura in Greifswald. 1 BVerfG, Urteil vom 24.09.2003, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2003, S. 3111. 2 BVerfG, Beschluss vom 16.05.1995, in: NJW 1995, S. 2477. 3 Exemplarisch: Ronald Pofalla, Kopftuch ja - Kruzifix nein, in: NJW 2004, S. 1218 - 1220. 4 BVerfG, Urteil vom 16.10.1976, Aktz. 1 BvR 647/70 und 7/74. 5 Susanne Baer und Michael Wrase, Staatliche Neutralität und Toleranz in der "christlich-abendländischen Werte­welt", in: Die öffentliche Verwaltung (DÖV) 2005, S. 243 - 253 (247). 6 Vgl. Redaktion Forum Recht (FoR), Kirche und Recht, in: FoR 1994, S. 75.