Orient Express

Ein Crash-Kurs in postkolonialer Theorie

Postkoloniale Studien untersuchen sowohl den historischen Prozess der Kolonialisierung als auch das beständige Fortwirken der kolonialen Macht und ihrer Herrschaftsstrukturen. Dabei steht nicht die physische Brutalität kolonialer Herrschaft im Mittelpunkt der Forschung, sondern die sogenannte „epistemische Gewalt“.

Die Postkoloniale Theorie als konsistentes Ideen-Gebäude gibt es nicht. Unter diesem Etikett werden vielmehr die sich teils auch widersprechenden Beiträge zahlreicher Autor_innen zusammengefasst. Ihre Gemeinsamkeit besteht – grob gesagt – in einer Kritik an der von westlichen Wissensformationen und Denkmustern ausgehenden Gewalt sowie der internationalen Arbeitsteilung in der globalen Ökonomie. Trotz der vielen verschiedenen Ansätze ergeben sich  vor allem aus den Texten der drei zentralen Theoretiker_innen Edward Said, Gayatri Chakravorty Spivak und Homi Bhabha – Konzepte und Vorstellungen, die grundlegend für das Verständnis postkolonialer Theoriebildung sind.

Postkoloniale Kritik wurde erstmals gegen die Commonwealth Literary Studies formuliert, die sich mit der Literatur in den Territorien des zerfallenen britischen Empires beschäftigten. Da die Qualität der Literatur in den formal unabhängigen Staaten des Commonwealth ausgehend von der vermeintlich stilbildenden britischen Literatur beurteilt wurde, würden die Commonwealth Literary Studies die Literatur der ehemaligen Kolonien erneut der wissenschaftlichen Autorität der ehemaligen Kolonisator_innen unterwerfen.

 

Die Orientalisierung des Orients

Mit dem 1978 veröffentlichten Buch „Orientalism“ von Edward Said erhält die postkoloniale Theorie dann ihr „Gründungsdokument“. Das Buch beschreibt den im Westen geführten Diskurs über den Orient, der sich im späten 18. Jahrhundert als Orientalistik auch an den europäischen Universitäten etablierte. Der Orient galt der Orientalistik als ein zu entdeckender Ort. Durch seine systematische Erfassung entstand eine Sammlung von Wissen über den Orient, die zur kulturellen, ökonomischen und militärischen Dominanz des Westens beigetragen hat.

Die orientalistische Forschung stellt Said als von Strategien der Macht durchzogen dar. Sie basiert methodisch auf der Differenz zwischen Okzident und Orient, die zunächst mit der Behauptung unterschiedlicher „rassischer“, später dann kultureller Zugehörigkeiten aufrecht erhalten wurde. Auf Grundlage dieser Unterscheidung konnten die Bewohner_innen des Orients als das Gegenbild der Europäer_innen im Okzident, als ihre Anderen dargestellt werden. Die wissenschaftliche Beschreibung der Anderen mündete so in eine Selbstbeschreibung Europas, die der Selbstvergewisserung der europäischen Überlegenheit diente. Die üblichen Stereotype entwarfen den Orient als feminin, irrational und primitiv im Gegensatz zum maskulinen, rationalen und fortschrittlichen Okzident. Der wissenschaftliche Diskurs über den Orient stellt sich daher als eine westliche Projektion dar, die den Orient – also den Gegenstand der orientalistischen Forschung – erst konstruierte, und die vermeintliche europäische Überlegenheit schuf, mit der die koloniale Herrschaft legitimiert wurde.

Die auf diese Weise über einen langen Zeitraum geschaffene diskursive Trennung zwischen Orient und Okzident – Said spricht von „imaginative geography“ – ist bis heute zentral für die Konstruktion von ihrem Wesen nach verschieden gedachten „Rassen“ oder Völkern. Dieses Wissen über den vermeintlichen Unterschied zwischen Europäer_innen und den Bewohner_innen des Orients hat sich allerdings nicht nur auf Seiten der Kolonisator_innen eingeschrieben. Nicht wenige der Kolonialisierten haben sich ebenfalls im Sinne dieser Wissensformation selbst konzeptionalisiert. Anknüpfend an den marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci zeigt Said, wie der unterdrückten Bevölkerung durch Erziehung und andere kulturelle Praxen die Einwilligung in die herrschende – in diesem Fall kolonial-rassistische – Ordnung abgerungen wird. Said macht deutlich, welche zentrale Funktion für die politische Beherrschung des Orients die westliche Wissensformation über diesen inne hatte.

 

Postkoloniale Identität

Bezugnehmend auf Saids Darstellung spricht Gayatri Chakravorty Spivak von „epistemischer Gewalt“, um die diskursive Konstruktion der Bewohner_innen des Orients zu benennen. Anders als Said bezieht Spivak aber auch neokoloniale Machtkonstellationen in ihre Untersuchungen mit ein. Sie beschreibt den Kolonialismus zwar als grundsätzlich destruktiv, im Gegensatz zu Said nimmt sie aber auch die mit ihm einhergehende Eröffnung neuer Möglichkeiten, etwa den Zugang zu emanzipatorischen Ideen der europäischen Aufklärung, in den Blick – ihre Umschreibung für die Kolonialisierung lautet daher „enabling violation“.

Einige antikoloniale Befreiungsbewegungen versuchten unter Rückgriff auf Vorstellungen eines präkolonialen Zustandes eine authentische nicht-westliche Identität zu schaffen. Spivak lehnt dieses Unterfangen ab. Denn auch diese Identität schreibt den Bewohner_innen der ehemaligen Kolonien über ihre Einordnung in eine als ihrem Wesen nach separat verstandene Gruppe bestimmte Eigenschaften zu. Sie ist daher nicht weniger essentialistisch als diejenige Identität, die Said zufolge in den westlichen Diskursen geschaffen wird. Spivak sieht hierin eine bloße Umkehrung der herrschenden kolonialen Diskurse im Sinne eines antikolonialen Befreiungsnationalismus. Ihr Ansinnen ist es stattdessen, die Macht solcher Identitäts-Diskurse zu destabilisieren. Hierzu nutzt Spivak das poststrukturalistische Konzept des dezentrierten Subjekts. Anders als in der klassischen Philosophie der Aufklärung wird das Subjekt hier nicht mehr als Ort der Autonomie und souveräne Instanz des Erkennens und Handelns gedacht. Es wird vielmehr von gesellschaftlich-kulturellen Strukturen – etwa Identitäts-Diskursen – geformt.

Spivak unterzieht auch den Ansatz politischer Bewegungen, die Erfahrungen und Kämpfe unterdrückter Gruppen in abstrakte Begrifflichkeiten zu fassen, einer anti-essentialistischen Kritik. Indem eine politische Bewegung etwa versucht, die Erfahrungen aller Arbeiter_innen oder aller Kolonialisierten darzustellen, können die tatsächlich höchst unterschiedlichen Erfahrungen und Positionen innerhalb der Gruppe nicht zum Ausdruck gebracht werden. Die politische Bewegung jedoch erweckt so den Eindruck, es gebe eine einheitliche politische Akteurin, welche kollektiv durch sie spricht. So bringt die politische Bewegung diejenigen zum Schweigen, in deren Namen sie zu sprechen vorgibt.

 

Das vergeschlechtlichte subalterne Subjekt

Diesen Vorwurf erhebt Spivak auch gegen die westlichen feministischen Bewegungen. Bei deren Versuch, im Rahmen einer globalen Schwesternschaft auch die Frauen in den ehemaligen Kolonien einzubeziehen, übersahen diese oft, dass die dort von Frauen ausgetragenen Kämpfe auf anderen materiellen Grundlagen beruhten als im Westen. Durch die paternalistische Darstellung der Frauen des Südens als entweder hilfsbedürftige oder exotische Schwestern trug auch die Frauenbewegung zum „othering“ bei, zur diskursiven Abgrenzung zwischen den Frauen in Orient und Okzident, mithin zur Orientalisierung im Sinne Saids. So dienten feministische Positionen mittelbar sogar der Legitimation kolonialer Projekte als zivilisatorische Mission zum Schutz der Frauen.

Um die Verwendung der gängigen essentialistischen Begrifflichkeiten zu vermeiden, schlägt Spivak die Bezeichnung „Subalterne“ vor. Der Begriff ist der marxistischen Theorie Antonio Gramscis entlehnt, der hierunter die politisch unorganisierten Bevölkerungsteile verstand, die im Gegensatz zu den städtischen Arbeiter_innen über kein Klassenbewusstsein verfügten. Spivak fasst eine Vielzahl verschiedener gesellschaftlicher Positionen unter den Begriff, die innerhalb präkolonialer und kolonialer Strukturen, aber auch durch die jeweils nationalen Bourgeoisien nach der formalen Unabhängigkeit in unterschiedlicher Weise ausgebeutet und beherrscht worden sind. Im Zentrum ihrer Betrachtungen steht die Ausbeutung subalterner Frauen, deren Arbeit – sowohl in den Fabriken als auch im Bereich der Reproduktion – den Erhalt der globalen Produktionsketten und damit den Reichtum des Westens sichern.

 

Gegenmacht

Auch Homi Bhabha wendet sich gegen Said. Dessen Konzeption kolonialer Machtbeziehungen läuft immer nur von den Kolonialisierenden zu den Kolonialisierten. Die Kolonisator_innen – so Bhabhas Kritik – befanden sich aber niemals ausschließlich im Besitz der kolonialen Macht. Mit „Hybridität“ und „Mimikry“ identifiziert er zwei widerständige Handlungsformen der vermeintlich Machtlosen. Denn anders als von Said suggeriert, hat der koloniale Diskurs nie vollkommen störungsfrei funktioniert – ganz im Gegenteil: die kolonisierende Macht selbst brachte in ihrem Zentrum destabilisierende Elemente hervor.

Mit Hybridität bezeichnet Bhabha das Scheitern der Kolonisator_innen, die Kolonien als exakte Kopie des Mutterlandes zu gestalten. Immer wenn institutionelle Konzepte auf eine Kolonie übertragen werden sollten, kam es zu Abweichungen, um lokalen Gegebenheiten entsprechen zu können. Diese Unfähigkeit nagte an der Autorität der kolonialen Macht, da sie das koloniale Machtverhältnis verkehrt herum darstellt: das an sich abgelehnte Wissen der kolonialisierten Anderen erhält Einlass in die dominanten Diskurse der Kolonisator_innen und verfremdet so deren Grundlage. Der vorgestellte Prozess von Dominierung auf der einen und Unterwerfung auf der anderen Seite wird umgedreht. Ähnlich wirkt koloniale Mimikry. Hierbei ahmt der/die Kolonialisierte den/die Kolonisator_in nach, eignet sich Sprache, Verhaltensweisen, Stil und Bildung etc. an. Mimikry war von den Kolonisator_innen an sich erwünscht, um im Verhältnis zu den Kolonialisierten vermitteln zu können. Andererseits aber irritierte sie koloniale Stereotype von dem/der unzivilisierten Wilden, und bedrohte damit die zivilisatorische Rechtfertigung des kolonialen Projekts und der darauf gründenden Diskriminierung.

Postkoloniale Theorie bearbeitet interdisziplinär eine enorme Vielfalt von Themen, die für zeitgenössische politische Auseinandersetzungen – etwa um die globale Ökonomie, neue Formen imperialer Machtausübung oder Migration – von großem Wert sind. Dass sie dabei oft im Gewand einer sehr komplizierten Sprache daherkommt, ist zwar mitunter anstrengend, lässt sich laut Spivak aber nicht vermeiden: „plain prose cheats“.

Philip Rusche arbeitet als Rechtsanwalt in Berlin.

 

Weiterführende Literatur

Maria do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie: Eine kritische Einführung, 2005.