Bilder aus Heiligendamm

Ein subjektiver Rückblick

Die Bundespolizei knattert mal wieder mit mehreren Hubschraubern übers Haus - und schon sind die Bilder aus Heiligendamm wieder präsent.

Abfahrt zu Hause

"Viel Spaß in Heiligendamm" wünscht mein Vater. "Pass auf dich auf und steh nicht immer dazwischen", meint mein Mann. "Schmeiß keine Steine", ruft mir mein Sohn lachend hinterher.

Fahrt nach Rostock

Im Zug die Frage: Wo fahren sie hin? Rostock? Aber doch nicht zum Steine werfen! Doch trotz der Meinungsmache sind die Mitfahrenden den Protesten eher positiv gegenüber eingestimmt. "Wenn ich jünger wäre..." Erstaunlich, mal so im Mainstream zu schwimmen - selbst Ideen einer anarchistischen Gesellschaft werden freundlich erwogen und hinterfragt. Vor Rostock ist das Handynetz weg und Wannen ohne Ende stehen längs der Gleise.
"So was war ja selbst bei uns in der DDR nicht möglich", meint ein älterer Herr. Diskussion über repressive Maßnahmen und Überwachungsstaat. Einig sind sich alle, Gewalt in Heiligendamm nutzt nur den Herrschenden. Und das will niemand. "Viel Glück", wird mir nachgerufen.

Rostock-Reddelich

Ein freundlicher Kämpfer für eine andere Welt erzählt stolz, dass er einen Bild-Paparazzi "massiv" davon abgehalten hat, eine fast nackte Frau in Rostock auf der Demo zu fotografieren. Ich denke an den "Nackten Block" und seine Aktionsformen und frage, ob er die Frau gefragt hat, ob sie diese Hilfe wünscht bzw. braucht.
"Das Patriarchat ist tief verankert", meint später eine Frau in Reddelich zu mir.

Ankunft Reddelich

Groß, laut, wirbelig, viele Menschen noch in Aktionen unterwegs, Fragen können nicht beantwortet werden, die ersten Dixi-Klos laufen über.
Shuttle nach Wiechmannsdorf? "Gab es gestern, gibt es morgen, was heute ist, steht am Eingang". Das Schild verspricht "Shuttle bis 17 Uhr stündlich, danach auch."
3 Stunden später kein Shuttle aber endlich Treffen mit den "eigenen" Leuten, die in einer Aktion aufgehalten wurden und ziemlich gefrustet sind.

Ankunft in Camp Wiechmannsdorf

Zelt im Dunkeln aufgeschlagen, dankbar für die Hilfe und einen Schokoriegel aus dem Nebenzelt und eingeschlafen.

Mittwoch

6 Uhr. Die Sonne scheint. Die ersten sind schon lange rege. Von der Küche kommt Kaffeeduft. Die Duschen laufen.
Wandererungen zu den Kompostklos oben am Waldrand.
Einige Gruppen sind schon unterwegs, andere bereiten sich auf dem Abmarsch vor.
Wir wollen zur Autobahnblockade, kommen aber nicht weiter und gehen zu Fuß mit den Tausenden ans Ost-Tor.
Kein Bild in den Medien kann diesen Eindruck wirklich weitergeben, wie riesige Ströme fröhlicher, buntgekleideter Menschen sich über die Hügel dem Osttor nähern. Wer das gesehen hat, wusste, aufhalten ist unmöglich. So war die Straße zum Osttor schnell besetzt. Und blieb es bis zum Ende des Gipfels.
Arbeitsgruppen räumen den gefährlichen Nato-Draht entlang der Straße, rollten ihn hübsch zusammen, sicherten ihn mit den vorhandenen Gummimatten, die übriggebliebenen Matten dienten später in den Bäumen als Nachtlager. Konversion.
Die Nachricht kommt, dass das Westtor besetzt und Unterstützung nötig sei. Also gehen über 1000 Menschen los, um die Blockade zu verstärken. Polizei besetzt die Straßen, also über die Wiesen. Immer wieder wird darauf hingewiesen, nicht über die Weiden zu gehen, Abstand zu den Tieren zu halten, Feldwege zu nutzen bzw. im Gänsemarsch die Furchen, die Traktoren hinterlassen zu nutzen - es soll möglichst wenig kaputtgehen. Im Feld landende Hubschrauber, die ganze Einheiten absetzen, rufen weniger Besorgnis für die Blockierenden hervor, dafür mehr Fragen, wer denn die BäuerInnen und Bauern entschädigt.
Wassergräben, Unterholz, auch die Leute, die weniger gut zu Fuß sind, können vertrauensvoll in die offenen Arme auf der anderen Seite springen, warten, bis eine Behelfsbrücke errichtet ist oder bis wieder mal jemand seinen Strohsack "opfert".
Kurz vor Niederbollhagen sind wir nahe am Zaun, hektisch werden zwei Hundertschaften herangezogen, die von jetzt an parallel mitlaufen. Zwischen uns und der Polizei die geniale "FUCK-Kapelle".
Wir sind schneller als die Hundertschaften über den letzten Graben auf der Straße.
Deren Frust entlädt sich dann wohl in der Räumung mittels ohne Vorwarnung eingesetzter Wasserwerfer und aus der zweiten Reihe direkt in die Augen erfolgender Pfeffersprayduschen und Schlagstockattacken.
Die Bayern haben sich hierbei sehr hervorgetan.
Augen und Haut brennen ekelig, trotzdem ist es kalt weil nass. Manche sind extrem geschockt. Wut kommt hoch. Dann springt eine kleine Clownin vor die Polizeikette, schaut uns an, streckt den Arm aus, wackelt mit dem Zeigefinger und ruft liebevoll ermahnend "NICHT die Polizei provozieren, NICHT die Polizei provozieren!"
Wir brechen in haltloses Gelächter aus, aus der Wut werden kreative Ideen. Könnte der Pfarrer nicht das Wasser vorher segnen, dann hätten wir einen Weihwasserwerfer - wäre doch mal was, gerade für ChristInnen.

Es ist klar, wir kommen wieder.

Auf dem Rückweg hören wir, dass auch über Polizeisprecher behauptet wurde, in der OstBlockade gäbe es Molotow-Cocktails. Nicht zu glauben; dass jedoch das WORT "Molli" dort gefallen ist, glaube ich wohl, so heißt die Bahnlinie. Gewollte Missverständnisse?
Der Weg zurück wird zeitweise zur Wanderblockade. Rache gibtÂ’s auch, neben einer Gruppe hält plötzlich ein Polizeiwagen, die Tür geht auf, Pfefferspray wird einem Mann ins Gesicht gesprüht, die Tür geht zu, der Wagen fährt. Der Mann liegt am Boden, braucht Betreuung durch die Sanis. Das Kennzeichen ist bekannt.

Zu Hause

Wie gut, wieder zurück zu sein. Schon ist das Camp ein Zuhause geworden. Dort sind Menschen, die alles aufrechterhalten haben, die zuhören, Fragen beantworten, für die Verpflegung gesorgt haben. Nach und nach kommen die Gruppen zurück, berichten über ihre Erlebnisse. Schade für die Leute von der Autobahnblockade.
Viele kamen in Gewahrsam und haben die machtvollen Bilder des Tages nicht gesehen.

Donnerstag

Am nächsten Morgen sind die ersten schon um halb sechs unterwegs - und viele verbringen den Tag in Gewahrsam, ihre Gruppe wird kurz nach Aufbruch festgesetzt.
Ab 7 Uhr starten zu jeder vollen Stunde Gruppen an die Blockaden und zu anderen Aktionen.
Telefonisch erreichen mich immer wieder Nachrichten und auch Musik aus meiner Gruppe.
Vor martialisch ausgestatteten Polizeiketten an den Blockaden singen Jugendliche "Eure Kinder werden so wie wir, eure Kinder werden so wie wir". Später wird am Ost-Tor zur Melodie von Guantanamera den Wasserwerferbesatzungen mitgeteilt "Ihr habt nur neun tausend Liter, ihr habt nur neuntausen Li-ter!"
Beschluss, sie beim nächsten Mal "runterzusingen".
Die Räumungen werden brutaler, der Wasserwerferstrahl heftiger. Ein Freund wird gezielt abgeschossen, am Brustkorb getroffen, knallt er mit dem Kopf auf dem Betonboden - Rippenprellung und Gehirnerschütterung.
Er fährt sofort nach Hause.
Im Camp geblieben höre ich viele Erlebnisse. Die zwei jungen Männer, die in ihrer Sammelstelle erst einmal kurzerhand die Zellentür aushängten - um dann nach vergeblichen Versuchen der Beamten, dies rückgängig zu machen, wieder beim Einhängen halfen - gedankt mit freundlicher Behandlung.
Sehe Schürfwunden und Hämatome am Hals einer Frau, ihr Arm ist in Gips - es wurde fester zugegriffen.
Höre den Bericht von einem, der sich im Wald verstecken konnte, und der zusehen musste, wie ein Demonstrant auf der Straße mit vorgehaltener Waffe zum Hinlegen gezwungen wurde.
Treffe einige Leute aus der Gruppe, auf die im Laufschritt mehrere Polizisten mit erhobenen Schlagstöcken zurannten. Als die Gruppe die Hände in die Höhe nimmt und alle "sich ergeben", kriegen sie zu hören: "war nur Spaß". Einem rutscht ein Fluch raus - der mit Schlagstock beantwortet wird.

Und noch mehr...

G8-tv.org zeigt Eindrücke vom Tag.
Bis in die Nacht werden Entlassene abgeholt. Vor den Gefangenensammelstellen sind Infopunkte eingerichtet, mit Kaffee und Essen, das leider nicht immer reicht. Auch wenn manches nicht 100%ig klappt- die Sicherheit, nicht allein zu bleiben, lässt sich gegen nichts aufwiegen.
Es gibt ein kleines Konzert, die Bands sind okay, doch ein großer Teil der Leute bleibt lieber vor den Feuern und tauscht Erlebnisse aus.

Freitag

Manche gehen noch mal in die Blockaden und danach zur Abschlusskundgebung. Die meisten bereiten jedoch ihre Abfahrt vor. So wie wir. Ob wohl alle ihren Campbeitrag noch gezahlt haben? Gestern sah es für die OrganisatorInnen und die Volxküchen ziemlich düster aus.
Wird es genug Hilfe für den Campabbau geben?

Wichmannsdorf - Leben in der möglichen anderen Welt

"Ich will hier bleiben. Kann der Gipfel nicht noch länger dauern?" Oft waren solche Sätze von Abreisenden zu hören.
Wiechmannsdorf war etwas besonderes.
Im Gegensatz zu Reddelich ziemlich abseits gelegen, trotz Shuttleservice nicht so gut zu erreichen und anfangs deutlich leerer als die anderen Camps - erst in den letzten zwei Tagen füllte es sich etwas. Und die Ankommenden waren jedesmal begeistert.
Eine hervorragend vorbereitete Infrastruktur.
Der Platz war überschaubar. Die Einweisung verständlich. Hilfsbereitschaft selbstverständlich.
Wie lässt sich die Atmosphäre beschreiben, wenn so viele Menschen sich sowohl für sich selbst als auch für das Camp und das Gelingen der Aktionen wirklich verantwortlich fühlen und zeigen?
Wo sich Wendlanderfahrung mit bundesweiten Aktionswillen trifft?
Hier war der Platz um Kraft zu tanken für "die nächste Runde". Danke an die, die das ermöglicht haben.

Die Volxküche Hannover

Auch spät abends stand noch Kaffee bereit, gab es etwas Leckeres für müde Zurückkehrende. Mit den anderen Volxküchen wurden auch die Blockaden versorgt. Nie werde ich vergessen, wie Leute zum Kartoffelschälen, Möhrenschrabschen und Paprikaschneiden motiviert wurden. Und auch nicht die Gespräche.

Clowns

Von ihrem Barrio aus wurden unbändige Freunde und völlige Respektlosigkeit vor jeglicher Macht in die Aktionen getragen. Überall waren sie präsent. Keine Polizeikette, kein Wasserwerfer war vor ihnen sicher. Schilde wurden poliert, Einsatzfahrzeuge staubgewedelt, Seifenblasen in den Himmel geschickt. Und wer einmal eine Gruppe von Clowns in einer Hundertschaft hat mitmarschieren gesehen, wo exakt Körperhaltung und Mimik kopiert und die Rituale von Befehl und Gehorsan karrikiert wurden, wird von jetzt ab wohl bei jedem Polizeieinsatz automatisch nach den Clowns Ausschau halten. Welch eine Vorbereitung und Arbeit hat da dahinter gesteckt! Heiligendamm ohne die Clowns ist gar nicht denkbar.

Polizei

Die unterschiedlichsten Erlebnisse gab es. Von den BeamtInnen, die davor warnten, ihren KollegInnen in die Arme zu laufen, die Verpflegung abgaben, eine durch Pfefferspray zeitweilig erblindete Person vorsichtig aus den Getümmel führten, oder einfach nur korrekt waren bis zu den miesesten Typen, Männer wie Frauen, denen die Freude an Herabwürdigung und Verletzung anderer anzusehen war.
Deeskalation war dort wohl oft ein Synonym für Nichtstun.
Das Gegenteil war dann heftiger "Einsatz", meist ohne Vorwarnung.

Die "Autonomen" - Der schwarze Block

Immer wieder im Camp und bei den Aktionen gab es Diskussionen zu Rostock.
Menschen kamen von dort traumatisiert ins Camp oder reisten vorzeitig ab.
Es gab Versuche herauszufinden, was wirklich passiert ist. Doch je nach Standort, Kamerastellung, Einstellung "belegen" Fotos und Videos mal das eine, mal das andere.
Die Wahrscheinlichkeiten lassen sich vierteln. Provokateure, Besoffene, Spaßkids, oder doch gewollt - immer wieder beteuern Leute der "Ich gehe in schwarz - Mode" mehr oder weniger glaubhaft, sie wollten und wollen keinen Stress.
In der Blockade dann das:
Auf den Gleisen der Molli tauchen zwei Kids in SB-Uniform auf, der eine quietscht erregt in sein Handy "hier sind viele Schwarze und unheimlich viele Steine", und die Beiden verschwinden unter gleich Uniformierten.
Einige "Schwarze" beginnen Steine zu wiegen, daraufhin verschwinden die ersten Leute aus der bunten Blockade, andere versuchen, genug Leute zum evtl. notwendigen Dazwischenstellen zu mobilisieren.
Angesprochen reagieren mehrere der dort anwesende "Schwarzen" ziemlich aggressiv, verständlich bei der Fahne - aus Alkohol - die sie vor sich her tragen. Einer brüllt rum, zeigt stolz seine Kampf-Wunden aus alten Schlachten, schubst, verteilt erste kleine Schläge - ein anderer tönt, einen Konsens habe es nie gegeben - und auch ich bleibe nicht mehr ruhig, werfe Macker- und Pseudoheldentum in das Wortgefecht und bin im Nachhinein froh, dass eine Ordnerin sowie die Leute, mit denen ich unterwegs bin, mich an einer handgreiflicheren Form der Auseinendersetzung gehindert haben.
Im Camp "erklärt" mir abends jemand den Sinn der Vermummung. Und beschwert sich drei Sätze später darüber, dass Idioten in den eigenen Reihen nicht zu erkennen seien. Ich denke erst mal: "Heul doch."
Einer erklärt, er habe immer Stress mit den Bullen beim Platte machen, ein anderer erzählt vom Wohnen im besetzten Haus und den Durchsuchungen und Räumungen. Da müsse man zurückschlagen.
Wieder einer erklärt, aus seiner Hafenstraßenerfahrung, dass es nur mir Gewalt geht. Es sei nicht schlimm, wenn auch mal Normalos so was mitkriegen.
Eine Frau aus "dem Block" läuft vorbei und meint "Heute konnte ich gar nicht meine Wut rauslassen, wie soll ich heute abend bloß schlafen."
Ich frage mich, wie der absprachefähige Teil des sogenannten "Schwarzen Blocks" diese Mischung aus Erlebnispädagogik, Sozialarbeit und Psychotherapie leisten will, die nötig wäre, um manche dieser Leute "einzubinden", vor allem bei Großdemonstrationen.

Ilka

Danach

Immer wieder gibt es Leute, die sagen "Ich wäre gern dabei gewesen". Mit 5 oder 10 oder mehr Euro können diese noch symbolisch in Heiligendamm vor Ort sein. Der Verein Kuckuk, Postbank Berlin, BLZ 100 100 10, Konto 45 48 80 103 ist die richtige Adresse, um das Risiko der Leute, die für Organisation und Verpflegung in Vorleistung und Bürgschaft gegangen sind zu verringern.

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 320, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, 36. Jahrgang, www.graswurzel.net