Wie Europa sich abschottet

in (25.08.2006)

Hauptthema der innenpolitischen Debatte war in den letzten Wochen der Ausbau des Überwachungsstaates: noch mehr Videoüberwachung auf Bahnhöfen und in Zügen, die Nutzung des Mautsystems Toll Collec

als Überwachungs- und Fahndungssystem, der Entwurf des "Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetzes" (Kandidat für das Unwort des Jahres) und die Überprüfung des Zuwanderungsgesetzes mit dem Ziel, den Druck auf Migranten noch zu verstärken. Einer solchen repressiven Innenpolitik entspricht die zynische Haltung der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD zum millionenfachen Flüchtlingsleid im Libanon, in Afrika, überall, wo Krieg geführt wird, wo Menschen enteignet, entrechtet, gedemütigt, bedroht werden.

Ein Viertel der Bevölkerung des Libanon ist auf der Flucht vor den Bombardements der israelischen Luftwaffe. Die existentielle Not ist unermeßlich. Israel bombardiert zivile Ziele und zerstört bewußt die Infrastruktur des Libanon. Daher können die obdachlos gewordenen Menschen unmöglich im Lande selbst untergebracht werden. Wie aber reagiert die Bundesregierung? Flüchtlingen aus dem Libanon wird der Zugang in die Europäische Union (EU) gnadenlos versperrt. Schon auf der Innenministertagung der EU am 24. Juli machte sich die Bundesregierung dafür stark, das "bewährte Konzept" aus den Jugoslawien-Kriegen auch diesmal zu praktizieren, nämlich die Flüchtlinge nahe der Krisenregion unterzubringen. In Klartext übersetzt heißt das: Die BRD, die den völkerrechtswidrigen Krieg Israels politisch unterstützt, weigert sich, wenigstens ihre humanitäre Verpflichtung zur Aufnahme von Kriegsflüchtlingen zu erfüllen.

Was die deutschen Innenpolitiker wirklich bekümmert, zeigt eine Meldung des dem Bundesinnenministerium nahestehenden Newsletter Netzwerk Sicherheit vom 4. August. Danach machen sich die Sicherheitsbehörden, insbesondere die "Staatsschützer", Gedanken darüber, wie sie unter den nach Deutschland kommenden deutsch-libanesischen Familien "Hisbollah-Sympathisanten" identifizieren können. Der Newsletter lobt den Berliner Innensenator Ehrhart Körting (SPD), weil dieser "mit Blick auf mögliche Flüchtlingsströme libanesischer Staatsbürger aus Nahost in Richtung Europa" deutlich anspreche, daß er "ein Einsickern von Terroristen" befürchte.

Die Hilfsorganisation medico international wirft der israelischen Armee vor, fliehende Libanesen mit Hubschraubern zu verfolgen und zu beschießen - ein Kriegsverbrechen. "Die Überlebenden erzählten mir, daß sie fortgesetzt und gezielt beschossen wurden, obwohl sie weiße Fahnen trugen", berichtet medico-Mitarbeiter Martin Glasenapp aus der südlibanesischen Stadt Saida. Die Menschen seien den Bombardierungen schutzlos ausgeliefert. Doch was geht das einen verantwortlichen deutschen Politiker wie Körting an? Er faselt von Erkenntnissen, denen zufolge die Hisbollah daran interessiert sei, den Konflikt auf andere Staaten auszuweiten, "gegebenenfalls durch terroristische Anschläge", und macht sich Gedanken darüber, wie man die Demonstrationsfreiheit einschränkt und das Zeigen von Fotos des Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah auf Veranstaltungen in Berlin verhindert.

Ebenso teilnahmslos und unverantwortlich verhalten sich die regierenden Politiker gegenüber afrikanischen Flüchtlingen - hoffnungslosen, verzweifelten Menschen, die ihr Leben riskieren, um durch Migration nach Europa für sich und ihre Familien und die in Afrika zurückbleibenden Angehörigen ein winziges Stück Zukunftsperspektive zu erlangen. Die Antwort der EU und der BRD: Verschärfung von Abwehrmaßnahmen, obwohl sie wissen, daß das für Hunderte und Tausende Flüchtlinge den Tod bedeuten kann.

Einige Beispiele aus den letzten Tagen: "Mindestens 28 Flüchtlinge vor der Küste Westafrikas ertrunken" überschrieb die Nachrichtenagentur Agence France Press (AFP) eine Meldung vom 2. August. Die Flüchtlinge hatten auf die Kanarischen Inseln gelangen wollen. Ihre Leichen wurden an der Küste der Westsahara entdeckt. Die beiden Boote waren offenbar gekentert.

Am 4. August berichtete dpa, Urlauber auf der spanischen Ferieninsel Teneriffa hätten ankommenden Bootsflüchtlingen aus Afrika Erste Hilfe geleistet. 49 Afrikaner waren an einem Badestrand in Süden der Insel gelandet. Fünf Bootsinsassen mußten wegen starker Dehydrierung in ein Krankenhaus eingeliefert werden.

Eine Woche vorher hatte der spanische Seenotrettungsdienst vor der Küste Teneriffas aus einem sinkenden Boot 66 Afrikaner geborgen. Einer der Insassen war tot. Insgesamt kamen seit Anfang des Jahres 17 Flüchtlinge bei dem Versuch ums Leben, die Kanarischen Inseln zu erreichen. Die Gruppe war auf ihrer Überfahrt vom westafrikanischen Senegal auf die Kanaren elf Tage unterwegs gewesen. In letzter Zeit erreichten pro Tag etwa 200 afrikanische Flüchtlinge mit Booten die Inselgruppe, seit Jahresbeginn mehr als 13.000.

Ebenfalls am 4. August wurde berichtet, italienische Sicherheitskräfte hätten vor der Insel Lampedusa ein Boot mit 210 Flüchtlingen entdeckt. Das für 190 Menschen eingerichtete dortige Übergangslager sei ständig überfüllt. Erst am Vortag seien mehr als 240 Flüchtlinge in der Nähe der Insel entdeckt worden.

Neun Monate nach den massiven Einreiseversuchen in die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla an der nordafrikanischen Küste versuchten im Juli erneut Dutzende Migranten, die Grenzzäune von Melilla zu überwinden. Spanischen Presseberichten zufolge waren zwischen 40 und 70 daran beteiligt, vier von ihnen erreichten spanisches Territorium. Drei starben an den Verletzungen durch Schüsse marokkanischer Grenzschützer.

Und diese Aufzählung läßt sich beliebig fortsetzen.
Die deutsche Innenpolitik zeigt "Solidarität" nicht mit den Flüchtlingen, sondern mit dem Repressionsapparat. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble sagte Ende Juli seinem italienischen Kollegen Giuliano Amato Hilfe zu. "Als Zeichen europäischer Solidarität", so Schäuble, stelle er deutsche Grenzpolizisten für eine Gemeinschaftsaktion auf Lampedusa zur Verfügung. Wenige Tage später trafen die Beamten der Bundespolizei (ehemals Bundesgrenzschutz) auf Lampedusa ein.

Zugleich eröffnete Schäuble in Berlin das "Gemeinsame Analyse- und Strategiezentrum illegale Migration" (GASIM), woran das Bundeskriminalamt, die Bundespolizei, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die Finanzkontrolle Schwarzarbeit, der Bundesnachrichtendienst, das Bundesamt für Verfassungsschutz und das Auswärtige Amt beteiligt sind. Der technokratische Ungeist und die militante Inhumanität der heute dominierenden Flüchtlingspolitik kommen schon in der Sprache zum Ausdruck, in der das Bundesinnenministerium über diese Neugründung informiert: "Mit dem Zentrum wird der ganzheitliche Bekämpfungsansatz weiter ausgebaut. Entscheidende Voraussetzungen für eine effektive Aufklärung und Bekämpfung der illegalen Migration und der mit ihr verbundenen Kriminalitätsformen sind der schnelle Austausch und die umfassende Analyse der verfügbaren und relevanten Informationen sowie die Fähigkeit, bedrohliche Entwicklungen frühzeitig zu erkennen, um ihnen operativ und mit strategisch ausgerichteten und konzeptionell fundierten Maßnahmen wirksam entgegenzuwirken."

Die gleiche Abschottungspolitik auf der EU-Ebene: Die Europäische Kommission hat die Einrichtung von Kriseninterventionsteams zur Unterstützung nationaler Grenzschutzbehörden beschlossen. Die Teams mit 250 bis 300 Grenzschutzbeamten und Fachleuten sollen jeweils innerhalb von zehn Tagen mobilisierbar sein. Die europäische Grenzschutzbehörde Frontex soll die Teams ausbilden und koordinieren. Ein Pilotprojekt auf den Kanarischen Inseln ist schon gelaufen. Seit Anfang August finden vor den Küsten Mauretaniens, des Senegal und der Kapverden gemeinsame Patrouillen unter der Leitung von Frontex statt. Ihre Aufgabe ist es, mit Migranten besetzte Boote aufzuspüren, abzufangen und zur afrikanischen Küste zurückzubegleiten.

Die Teilnahme an der polizeilichen Spezialeinheit ist für die EU-Staaten freiwillig. Um so fragwürdiger, peinlicher ist ein Lob, das EU-Innenkommissar Franco Fratini der BRD aussprach: "Besonders Deutschland" habe bereits "großes Interesse gezeigt und ein außerordentlich großzügiges Angebot zur Teilnahme gemacht". Die Bundesregierung kämpft also an vorderster Front, wenn es darum geht, Europa flüchtlingsfrei zu halten.

Geringen Nutzen hatte die europäisch-afrikanische Migrationskonferenz in der marokkanischen Hauptstadt Rabat. Vertreter afrikanischer und europäischer Staaten lieferten sich dort heftige Wortwechsel über die Ausgrenzungspolitik der "Festung Europa". Der senegalesische Außenminister Cheick Tidiane Gadio kritisierte beispielsweise die "systematische Verweigerung" von Visa für Bürger afrikanischer Staaten; er sah darin eine Ursache der vermehrten illegalen Zuwanderung. Der französische Innenminister Nicolas Sarkozy hingegen provozierte: Er bescheinigte der Mehrheit der afrikanischen Migranten einen niedrigen Bildungsstand.

Daß in Rabat vorher, am 1. Juli, ein Gegengipfel stattfand, mochten uns die landesüblichen Monopolmedien nicht zur Kenntnis geben. Das dort verabschiedete "Manifest zu Migration, Grundrechten und Bewegungsfreiheit" verdient es aber, wahrgenommen und beachtet zu werden. Die beteiligten Nichtregierungsorganisationen sprechen darin vom "Krieg gegen MigrantInnen", der sich entlang den Mittelmeer- und Atlantikküsten von Jahr zu Jahr verstärke, und sie wenden sich gegen "die Aufteilung der Menschheit in diejenigen, die sich frei auf dem Planeten bewegen können, und diejenigen, denen das verboten ist". Sie weisen auf Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hin und argumentieren, das dort formulierte Grundrecht des Menschen, sein Land zu verlassen, bedeute notwendigerweise, sich in einem anderen Land niederlassen zu dürfen. Betroffen von den aktuellen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit seien nur die Ärmsten. Daran zeige sich nicht nur ausländerfeindlicher Nationalismus, sondern auch die Angst der Eliten vor den Benachteiligten.

Im Gegensatz zur vorherrschenden Meinung, daß die Afrikaner den Europäern für Hilfe dankbar zu sein hätten, erinnert das Manifest daran, daß nach Feststellungen der UN-Organisation für Entwicklung (UNCTAD) "immer noch Afrika Europa finanziert" - vornehm verzichtet es darauf, von Ausbeutung zu sprechen - und daß "die Differenzen der Einkommen pro Einwohner zwischen Europa und Afrika weiter wachsen".

Mit Sicherheitsmaßnahmen, so fährt das Manifest fort, seien die durch vielfache Faktoren verursachten Migrationsströme nicht zu stoppen. Historische Erfahrung zeige, daß die Bewegungsfreiheit von Menschen keine Gefahr für die Sicherheit und Souveränität von Staaten sei, heute seien sie vielmehr durch die Bewegungsfreiheit des Kapitals bedroht. In diesem Sinne fordern die beteiligten afrikanischen und europäischen Organisationen, Migration nicht länger zu kriminalisieren, alle MigrantInnen ohne Papiere zu legalisieren, alle einseitige Belastung und Diskriminierung afrikanischer Staaten in den politischen und ökonomischen Beziehungen zu beenden und die Schulden der afrikanischen Länder zu annullieren.

So argumentieren kluge Menschen.
Aber das deutsche Springer-/Bauer-/Burda-/Bertelsmann-/Holtzbrinck-/DuMont-/WAZ-Publikum weiß: Die Afrikaner haben jetzt besonders dankbar dafür zu sein, daß Bundeswehr-Soldaten im Kongo stehen, um ihnen das Wählen beizubringen.