Wo bleibt die Verkehrswende? Der Börsengang führt die Deutsche Bahn aufÂ’s Abstellgleis
Vor zehn Jahren führte die Deutsche Bahn AG das Schöne-Wochenende-Ticket ein. Kein Angebot des einstigen Staatskonzerns hat seitdem größere Resonanz gefunden als die Fahrkarte, die es bis zu fünf Personen möglich machte, ein ganzes Wochenende zum Preis von damals nur 15 Mark die bundesweit verkehrenden Nahverkehrszüge zu nutzen. Seitens der Bahnführung verband sich mit dem viel beworbenen Fahrschein die Hoffnung, neue Kundenkreise zu erschließen. Doch die Zeiten und mit ihr die Preisstrategie der Bahn haben sich geändert: Das einstige Aushängeschild ist mittlerweile auf einen Wochenendtag beschränkt und kostet 32 Euro (bzw. 30 Euro bei Internet- oder Automatenkauf). Aber damit nicht genug: Zum 12. Dezember letzten Jahres schlug das laut Eigenwerbung "Unternehmen Zukunft" bei den Tickets für Fernverkehrszüge um durchschnittlich 3,1 Prozent auf, im Regionalverkehr stiegen die Tarife im Mittel um 3,5 Prozent. Dieser "Fahrpreisanpassung" im Fern- und Regionalverkehr war nur ein Jahr zuvor ein Preisanstieg in vergleichbarer Größenordnung vorausgegangen.
Die Auslastung der Fernzüge liegt bei mageren 42 Prozent - da nützt es auch nichts wenn auf zahlreichen Loks der Slogan steht: "Unsere Züge schonen die Umwelt. Unsere Preise schonen Ihren Geldbeutel". Die neuerlichen Tariferhöhungen machen deutlich, dass die Bahnverantwortlichen alles daran setzen, die Bahn endgültig für avisierten Börsengang zu trimmen. Das rückläufige Fracht- und Fahrgastaufkommen nehmen sie dafür in Kauf. Eine Unternehmenspolitik, die sich ohne staatliche Korrekturmaßnahmen ausschließlich an Gewinn- und Effizienzkriterien orientiert, beschränkt letztlich die Zugangsmöglichkeiten für die, die den am Markt entstehenden Preis nicht zahlen können. Immer mehr Menschen - zum Beispiel die stetig steigende Zahl Erwerbsloser und älterer Leute - können sich kein Bahnticket mehr leisten. Aber auch PKW sind mit der Einführung der Ökosteuer für viele Menschen unerschwinglich geworden.
Der eingeschlagene Weg stimmt aber nicht allein vor dem Hintergrund traurig, dass die Grünen als Urheber der ökologischen Steuerreform noch im Jahr 2001 auf ihrer Bundesdelegiertenkonferenz festschrieben, ökologische Wahrheit müsse "stets auch sozial und politisch buchstabiert werden". Wer staatliche Steuerungsmöglichkeiten preisgibt verzichtet auf staatliche Einnahmen. Der Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge merkt an, dass die im Zusammenhang mit der Veräußerung staatlicher Beteiligungen bzw. ganzer Unternehmen häufig gebrauchte Metapher vom "Verkauf des Tafelsilbers" die Privatisierung verharmlost, "weil letzteres unnütz im Schrank herumsteht", während staatliche Unternehmen der öffentlichen Hand laufende Einnahmen bescheren. Die französische Staatsbahn SNCF beweist dies ebenso eindrucksvoll wie die schweizerische SBB als spezialrechtliche Aktiengesellschaft im Eigentum der Eidgenossenschaft. Die Züge der SBB leisten 87 Prozent der gefahrenen Personenkilometer und annähernd 90 Prozent der Tonnenkilometer, bilden mithin eine verlässliche Einnahmequelle.
Seit Beginn dieses Monats hat sich der Vermittlungsausschuss des Bundestages darauf geeinigt, dass der Zugang zum Trassennetz künftig von einer Regulierungsbehörde überwacht werden soll. Obwohl das bis 2001 gültige Trassenpreissystem durch ein vereinfachtes ersetzt wurde, konnte die Bahn bislang durch eine Strategie des raising rivalsÂ’ costs potenzielle Konkurrenten vom Marktzutritt abhalten. Wenn nun eine Trassenagentur eingerichtet wird, heißt das jedoch nicht zwangsläufig, dass sich Verkehr auf die Schiene verlagert. Die Entwicklung, wie sie in Großbritannien innerhalb weniger Jahre nach der Vergabe von Trassenabschnitten an 25 private Betreibergesellschaften in Gang kam, lässt anderes erwarten.
So hatten umfassende Investitionen in das rollende Material und die durch das Franchising-Verfahren entstandenen Kosten die britischen Betreiber zu Fahrpreisanhebungen und Einsparungen bei Personal und Sicherheitsvorkehrungen genötigt. Miserabler Service und tragische Unfälle wie die in London Paddington (1999, 31 Tote), Hatfield (2000, vier Tote) und Selby (2001, 13 Tote), die eindeutig mit Sicherheitsmängeln bei der Instandhaltung der Bahntrassen inklusive Signalanlagen zu erklären waren, ließen die Fahrgäste von den Bahnsteigen in die Autos zurückkehren. Vor diesem Hintergrund votierten im September 2004 zwei Drittel der Delegierten auf dem Labour-Parteitag für eine Wiederverstaatlichung des gesamten Bahnbetriebs - obwohl wenige Jahre zuvor die Rail Authority als Regulierungsbehörde für den Netzzugang eingerichtet worden war.
Weitere zentrale Fragen bleiben bei der Diskussion um die Einrichtung einer Trassenagentur in Deutschland außen vor. Wie sollen private Betreibergesellschaften dazu gezwungen werden, unrentable Streckenabschnitte zu betreiben, die für fern eines Ballungsraums angesiedelte Bewohner notwendig sind? Eine materiell privatisierte Bahn, die sich gemeinwirtschaftlichen Aufgaben entzieht, verstieße unweigerlich gegen die im Grundgesetz verankerte Allgemeinwohlverpflichtung des Verkehrträgers Schiene. Wer garantiert, dass das Schienennetz auf den durch die EU-Osterweiterung drastisch zunehmenden Transitverkehr hin optimiert wird? Schon jetzt liegt der Anteil der Bahn am grenzüberschreitenden Transportvolumen bei weniger als 15 Prozent.
Auch mit Blick auf den Personenverkehr muss der in den Bundesverkehrswegeplänen der vergangenen Jahre angelegte Ausbau des Straßennetzes zu Lasten der Bahntrassen mit den Worten des Verkehrswissenschaftlers Peter Krebs als der "in Beton erstarrte Ausdruck der perspektivlosen europäischen Verkehrs- und Umweltpolitik" gewertet werden. Räumt der Bahnvorstand dem nunmehr für 2008 avisierten Börsengang Priorität ein, wird die viel beschworene Verkehrswende zugunsten des umwelt- und sozialverträglichsten Verkehrsmittels ausbleiben. Der amtierende Bundesverkehrsminister Manfred Stolpe dürfte sich somit demnächst zu einer ähnlichen Offenbarung genötigt sehen wie sein Amtsvorgänger Kurt Bodewig, der im Verkehrsbericht 2000 einräumen musste: "Das wichtigste Ziel der Bahnreform, mehr Verkehr auf die Schiene zu bekommen, konnte nicht erreicht werden."
Der Beitrag ist am 4. März 2005 im FREITAG auf S. 5 erschienen und ist nach wie vor abrufbar unter: http://www.freitag.de/2005/09/05090502.php