Raus aus dem Schwitzkasten!

Thesen zur Rolle der Gewerkschaften in der globalen Ökonomie.

Raus aus dem Schwitzkasten!
1. Strukturelle Krise der Gewerkschaften
Dass die Gewerkschaften seit fast 20 Jahren in der Defensive sind - besonders folgenreich in Sachen Arbeitszeit und Arbeitsumverteilung - ist nicht in erster Linie Folge mangelnden Willens oder programmatischer Defizite. Die Gewerkschaften haben keine Antwort gefunden (nicht einmal ernsthaft gesucht) auf die strukturellen Herausforderungen der ökonomischen Globalisierung, die eine neue Übermacht des Kapitals begründet und die Gewerkschaften strukturell ins Hintertreffen gebracht hat.

2. Das Funktionsprinzip von Gewerkschaften
Â…ist die Herstellung eines Angebotsmonopols von Arbeitskraft auf Branchenarbeitsmärkten. Die damit möglich werdende Drohung des kollektiven Vorenthaltens von Arbeitskraft (Streik) versetzt sie in die Lage, dem strukturell überlegenen Kapital (Privateigentum an Produktionsmitteln) Paroli zu bieten und ermöglicht den Lohnabhängigen das materiell angemessene (Über-)Leben im Kapitalismus und - zweite Seite der tarifpolitischen Medaille oder "tarifpolitische Königsdisziplin" - die Verkürzungen der Arbeitszeit und damit die Kompensation und Vergesellschaftung von Produktivitätsfortschritten durch Arbeitsumverteilung (Vermeidung/Begrenzung/Abbau von Arbeitslosigkeit).

3. Globalisierung der Arbeitsmärkte
Die Revolutionierung der Produktivkräfte infolge von Digitalisierung und Internet hat die ökonomischen Prozesse beschleunigt und entgrenzt. Durch neue Formen von Migration wurden die nationalstaatlichen Grenzen des Arbeitsmarkt aufgeweicht. Die operative Fähigkeit des Kapitals, mit immer geringerem Risiko und Aufwand die Produktionen oder Dienstleistungen überall dorthin auf der Welt zu verlagern, wo Arbeitskraft billiger ist, macht den Preis der Arbeitskraft weltweit viel direkter vergleichbar und stellt damit zunehmend einen nach Branchen segmentierten globalen Arbeitsmarkt her, der zunächst völlig dereguliert und angesichts von weltweit etwa 1 Milliarde Erwerbsloser einseitig zu den Nachfragebedingungen des Kapitals funktioniert.
Auf die ökonomische Globalisierung und die Herausbildung globaler Arbeitsmärkte reagieren die Gewerkschaften mit zwei gleichermaßen hilflosen Argumentationen: von den einen werden die neuen Optionen des Kapitals als üblicher Arbeitgeberbluff abgetan und damit ignoriert, von den anderen als Naturgesetz verstanden, dem man sich letztlich unterwerfen müsse, dies allerdings geschickt, d.h. mit einer sozial verträglichen Standortsicherungspolitik (z.B. durch mehr Innovation und Qualifikation).

4. Neoliberalismus als "adäquate" Ideologie
Die alltägliche praktische Erfahrung der Beschäftigten, durch die Anpassung an die Marktüberlegenheit des Kapitals (d.h. durch Lohnverzicht oder unentgeltliche Arbeitszeitverlängerung) betrieblich ihre Arbeitsplätze retten zu können, ist die materielle Wurzel der neoliberalen Ideologie. Die Gewerkschaften dagegen erscheinen widersprüchlich und unglaubwürdig, weil sie am Ende gezwungen sind, das zu praktizieren, was in flagrantem Widerspruch zu ihrer an sich makroökonomisch richtigen Auffassung steht, dass Lohnverzicht keine Arbeitsplätze sichert, sondern insgesamt und am Ende die Arbeitslosigkeit erhöht. Neoliberalismus kann also nicht im Kampf der Ideologien in die Knie gezwungen werden, sondern nur, indem der Widerspruch, aus dem er sich speist und ständig reproduziert, aufgelöst wird.

5. Global Unions und gewerkschaftlicher Nachholbedarf
Auf tendenziell globalisierten Arbeitsmärkten werden Gewerkschaften erst wieder funktionieren können, wenn sie sich durch Weiterentwicklung zu oder Restrukturierung als global unions in die Lage versetzen, in der neuen Ausdehnung des Arbeitsmarkts das Monopol über das Arbeitskräfteangebot wieder herzustellen.
Dass diese Anforderung sich heute als erstes dem Utopievorwurf ausgesetzt sieht, ist vor allem die Folge jahrelanger gewerkschaftlicher Ignoranz. Statt sich dem Kapital an die Fersen zu heften und sich transnational auszurichten, haben die Gewerkschaften ein Jahrzehnt damit verbracht, unpolitisch, nämlich fast ausschließlich betriebswirtschaftlich auf die strukturellen Probleme zu reagieren, namentlich durch Zusammenschlüsse zu nationalen Multibranchengewerkschaften.

6. Global gleicher Lohn nur Fernziel
Global Unions heißt natürlich nicht (jedenfalls nicht in den ersten Schritten) gleiche Lohn- und Sozialbedingungen weltweit, sondern Neutralisierung der Lohnkostenkonkurrenz, sodass sie für Arbeitgeber keinen Ausschlag mehr bei Investitions- oder Verlagerungsentscheidungen gibt. Andere Wettbewerbskriterien wie Marktnähe, Produktivität, Währungsverhältnisse, politische Stabilität, Infrastruktur usw. bleiben konkurrenzentscheidend. In diesem Sinne heißt Beendigung der Lohnkostenkonkurrenz Stopp des Dumpingwettbewerbs nach unten (bei dem alle abhängig Beschäftigten verlieren), wobei einstweilig das Gefälle zwischen den Lohn- und Sozialniveaus mehr oder weniger konstant bleiben wird. Auch bei einer Trendumkehr, d.h. wenn Verbesserungen durchsetzbar werden, würde dies zunächst alle Niveaus betreffen, bevor deren Abstand abgebaut werden kann.

7. Brückenköpfe und erste Schritte
Es gab schon immer internationale gewerkschaftliche Dachverbände, es gibt Gewerkschaftskooperationen in Grenzregionen, es gibt europäische Betriebsräte und Bemühungen der Koordination von Tarifpolitik auf europäischer Ebene. Auch wenn jeder Weg spezifische Grenzen und Widersprüche aufweist, sind dies Schritte aus der nationalen Befangenheit heraus, mit denen sich die Gewerkschaften und die Arbeitenden selbst auf das internationale Parkett begeben, auf dem sich das Kapital schon lange sehr routiniert bewegt. Mit der ITF/Section Maritim gibt es eine erste, als solche aber gar nicht wahrgenommene Global Union für Seeleute - mit tarifpolitischen Erfolgen und Mitgliederzuwächsen. (Vgl. SoZ 3/05.)

8. Europa - kein Ausweg aus dem gewerkschaftlichen Dilemma
In dem Europa, wie es sich derzeit mit der Lissabon-Strategie und einem sich neoliberal festlegenden Verfassungsentwurf konstituiert, werden die Gewerkschaften von vornherein in der gleichen Defensive sein: statt des deutschen Standorts, wird es gelten, den europäischen Standort mit Verlängerung von Arbeitszeit, Absenkung von Löhnen, Steuern, Sozialsystemen gegen den südostasiatischen oder nordamerikanischen Wettbewerbsraum zu behaupten. Die Gewerkschaften müssen ihre Defensivrolle in Europa illusionslos angehen, konfliktbereit gegen Absenkung kämpfen und von vornherein die globale Ebene in den Blick nehmen, von der aus die Machtfrage in Europa entschieden wird.

9. Attac und Gewerkschaften - ein Bündnis mit Potenzial
Der Altermondialismus stößt mit seinen Mobilisierungsformen zunehmend an Grenzen. Um sich mit seinen Anliegen durchsetzen zu können, bräuchte er ein Erzwingungsmittel im Zentrum der Ökonomie, über das die Gewerkschaften theoretisch, aber nicht praktisch verfügen. Ein Bündnis, bei dem die Gewerkschaften nur die vorherrschenden Mobilisierungsformen des Altermondialismus quantitativ stärken und nicht ihr eigentliches Erzwingungspotenzial einbringen, ist platonisch und nutzt wenig. Attac und andere haben ein eigenes vitales Interesse an der Neuformierung der Gewerkschaften im globalen Kontext und hätten in ihren Netzwerken viele Möglichkeiten, diesen Prozess zu unterstützen - aber auch einzufordern.

10. "Wer sich selbst versteht, wie soll der aufzuhalten sein" (Bert Brecht)
Die Perspektive von Global Unions bedeutet nicht die Verabschiedung von den nationalen Verteilungskämpfen oder von der alltäglichen Gewerkschaftsarbeit unter Defensivbedingungen - im Gegenteil! Nur eine konfliktbereite Tarif- und Gewerkschaftspolitik ist in der Lage, die bestehenden Verteilungsspielräume auszuschöpfen und Lernprozesse im Sinne einer Globalisierung von Gewerkschaften in Gang zu setzen. Gewerkschaften, die sich klar auf ein solches Leitbild festlegen, werden zwar noch lange Niederlagen und Kompromisse verkraften müssen, aber sie würden sie verstehen, wüßten einen Ausweg und hätten damit eine überzeugende und solidaritätsstiftende Perspektive, die ihnen schon in kürzerer Frist den bisher nur erträumten "Turnaround" ermöglichen würde.

Werner Sauerborn veröffentlichte im Oktober 2004 zusammen mit Bernd Riexinger (beide Ver.di Baden-Württemberg): Gewerkschaften in der Globalisierungsfalle.