Befreiung von der Arbeit

Schöpferische Lebenstätigkeit beruht auf Entfaltung der Individualität, oder sie findet nicht statt. Über den Unterschied zwischen Arbeit und Lebenstätigkeit von Aristoteles über Goethe bis heu

"Wenn jedes Gerät in der Lage wäre, auf Befehl oder auf eigene Wahrnehmung selbständig eine Arbeit auszuführen, wenn gleich den sagenhaften Statuen des Daidalus die Weberschiffchen aus eigenem Antrieb weben und das Plektron von selbst auf der Gitarre spielen würde, so hätten die Baumeister keine Arbeiter und die hohen Herren keine Sklaven mehr nötig." Darauf folgt eine knappe Klarstellung des fundamentalen Unterschieds zwischen Arbeit ("Erzeugen") und Lebenstätigkeit ("bloßes Tun"). Mit dieser Triade Arbeit - Befreiung von der Arbeit durch automatisierte Produktionsprozesse - Lebenstätigkeit hat vor über zweitausenddreihundert Jahren in seinen "Aufzeichnungen zur Staatstheorie" Aristoteles das Grundthema der modernen Zivilisation angeschlagen.

In der gegenwärtigen Debatte zum Tätigkeitsbegriff wird nicht selten versucht, die aristotelische Triade auf die Dimension Arbeit zu verkürzen. Bereits Marx hatte in seinen "Grundrissen zur Kritik der politischen Ökonomie" diese Verkürzung gegeißelt, indem er voraussagte, dass im nachindustriellen Zeitalter der automatisierten Produktionsprozesse der Arbeiter aus dem Produktionsprozess heraustreten und die Arbeit in unmittelbarer Form aufhören wird, die große Quelle des Reichtums zu sein. Wir erleben heute den Übergang zu diesem Zeitalter. Einerseits wirkt das Kapital, so Marx über diesen Übergang, dahingehend, "die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren", weil es durch immer intelligentere Technologien unablässig die Produktivkräfte revolutioniert, andererseits setzt es unverändert, als gäbe es diese Umwälzungen nicht, "die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums". Unsere Epoche ist also im Grunde genommen nichts anderes als die Epoche dieses "prozessierende( n) Widerspruch(s)" des Kapitals, und das Festhalten an der Arbeit Ausdruck der konservativen Seite dieses Widerspruchs, der Wertschöpfungsseite, das allerdings in dem Augenblick ins Reaktionäre umzuschlagen droht, sobald es der Sphäre der Lebenstätigkeit die Achtung versagt.

Einen frühen Fall des Scheiterns eines Individuums an den Mauern einer solchen Verachtung stellte ein vierundzwanzigjähriger promovierter Rechtsanwalt aus Frankfurt am Main am Vorabend der industriellen Revolution in Deutschland zur Diskussion.

Dieser Mann hieß Goethe, und sein Briefroman "Die Leiden des jungen Werthers" war die erste literarische Kritik an der Herrschaft der Arbeit in der deutschen Literatur überhaupt. Es ist schon erstaunlich: Dieser bis dahin völlig unbekannte Autor unternahm den waghalsigen Versuch, um die Achse einer individuellen Revolte, gerichtet gegen die Zumutungen einer geschlossenen Arbeitsgesellschaft, die Themen Arbeit und Lebenstätigkeit so kreisen zu lassen, als lebte er bereits im Zeitalter des Heraustretens des Arbeiters aus dem Produktionsprozess. "Meine Mutter möchte mich gern in Aktivität haben", schrieb dieser Anwalt des befreiten Individuums, "das hat mich zu lachen gemacht, bin ich jetzt nicht auch aktiv? und istÂ’s im Grund nicht einerlei: ob ich Erbsen zähle oder Linsen? Alles in der Welt läuft doch auf eine Lumperei hinaus, und ein Kerl, der um anderer willen, ohne dass es seine eigene Leidenschaft ist, sich um Geld oder Ehre oder sonst was abarbeitet, ist immer ein Tor." Aber die Tretmühlen der Lohnarbeit, so diagnostizierte dieser Anwalt, gründen sich nicht nur auf Betrug, nicht nur auf Eigentum "anderer" an Produktionsmitteln, sondern auch auf Angst, auf Angst derer, die willfährig genug sind, sich blindlings anwenden zu lassen. Kennen wir eine ähnliche Angst nicht zur Genüge aus eigener Bilanz? Jene stumme Einschüchterung durch Arbeitsplatzverlustangst? Was mache ich, wenn ich keine Arbeit mehr habe? Wer bin ich ohne Arbeit? Muss ich mich nicht für bloße Lebenstätigkeit schämen? Mache ich mich nicht schuldig, lediglich existieren zu wollen, wo es doch heißt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen? Scharfsinnig wie kaum ein anderer Beobachter deckte der Anwalt diese Grundsituation des Lohnarbeiters auf: "Es ist ein einförmig Ding ums Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bisschen, das ihnen von Freiheit übrigbleibt, ängstigt sie so, dass sie alle Mittel aufsuchen, umÂ’s loszuwerden. O Bestimmung des Menschen!"

Die seelische Kettung der Individuen an das Galeerendenken der Arbeitswelt verhindert die Entfaltung der Sphäre der Lebenstätigkeit. Diese Kettung evozierte alle Empörungskraft des Anwalts, denn er bestritt kategorisch, dass die Arbeit die Quelle allen Reichtums ist, wie dies die Galeerensprecher weismachen wollten und auch heute noch wollen: Die Natur, die menschliche wie außermenschliche, ist ebenso Quelle der Gebrauchswerte.

"Sie allein ist unendlich reich", führte der Anwalt dazu aus. "Man kann zum Vorteile der Regeln viel sagen, ohngefähr was man zum Lobe der bürgerlichen Gesellschaft sagen kann. Ein Mensch, der sich nach ihnen bildet, wird nie etwas Abgeschmacktes und Schlechtes hervorbringen, wie einer, der sich durch Gesetze und Wohlstand modeln lässt, nie ein unerträglicher Nachbar, nie ein merkwürdiger Bösewicht werden kann; dagegen wird aber auch alle Regel, man rede, was man wolle, das wahre Gefühl von Natur und den wahren Ausdruck derselben zerstören! Sagst du, das ist zu hart! Sie schränkt nur ein, beschneidet die geilen Reben etc. Guter Freund, soll ich dir ein Gleichnis geben: es ist damit wie mit der Liebe, ein junges Herz hängt ganz an einem Mädchen, bringt alle Stunden seines Tags bei ihr zu, verschwendet all seine Kräfte, all sein Vermögen, um ihr jeden Augenblick auszudrücken, dass er sich ganz ihr hingibt. Und da käme ein Philister, ein Mann, der in einem öffentlichen Amt steht, und sagte zu ihm: ›Feiner junger Herr, Lieben ist menschlich, nur müsst Ihr menschlich lieben! Teilet Eure Stunden ein, die einen zur Arbeit, und die Erholungsstunden widmet Eurem Mädchen, berechnet Eurer Vermögen, und was Euch von Eurer Notdurft übrigbleibt, davon verwehr ich Euch nicht, ihr ein Geschenk, nur nicht zu oft, zu machen. Etwa zu ihrem Geburts- und Namenstage etc.‹ - Folgt der Mensch, so gibtÂ’s einen brauchbaren jungen Menschen, und ich will selbst jedem Fürsten raten, ihn in sein Kollegium zu setzen, nur mit seiner Liebe istÂ’s am Ende, und wenn er ein Künstler ist, mit seiner Kunst."

Aber es ist nicht nur staatsgeschützte Arbeitsverehrung - "Ehret die Arbeit!" stand noch vor gar nicht langer Zeit in den Arbeitsbüchern deutscher Arbeitnehmer -, die der Sphäre der Lebenstätigkeit die ihr zukommende Anerkennung verweigert. An selbstbestimmter Lebenstätigkeit, präzisierte der Anwalt, gebricht es den Individuen schon deswegen, weil ihre materielle Grundlage, die Natur, bereits okkupiert worden ist, bevor sie sich ihrer überhaupt vergewissern können, okkupiert durch Arbeit und Kapital: "O meine Freunde! warum der Strom des Genius so selten ausbricht, so selten in hohen Fluten hereinbraust und eure staunende Seele erschüttert. Lieben Freunde, da wohnen die gelassnen Kerls auf beiden Seiten des Ufers, denen ihr Gartenhäuschen, Tulpenbeete und Krautfelder zugrunde gehen würden und die daher in Zeiten mit Dämmen und Ableiten der künftig drohenden Gefahr abzuwehren wissen."

Und da ist auch die sattsam bekannte Mechanik des Marktes, die angebliche Lösung des menschlichen Existenzproblems: "Die Welt ist überall einerlei, auf Müh und Arbeit Lohn und Freude." Doch für den politisch denkenden Anwalt besaß das Individuum bereits ein der Leistungslogik vorgeordnetes Existenzrecht, und es wäre Aufgabe der Gesellschaft, dieses individuelle Existenzrecht ohne Ansehen der Person zu sichern. Und so forderte der Anwalt für damalige Verhältnisse etwas so unglaublich Kühnes, das straflos nicht aussprechbar war. Es war eine politische Vision, die erst heute auf der Tagesordnung der Bundesrepublik steht und in diesen Tagen von einer ganzen Reihe von europäischen Wirtschaftsethikern als ein Projekt Europas zur Diskussion gestellt wird: die Einführung eines allen Bürgern der Union garantierten Existenzgeldes, welches Leben, Leben jenseits von materieller Not, schöpferisches Leben, Leben in freigewählter Gemeinschaft mit anderen, überhaupt erst ermöglichen würde.

Wie schleuste nun aber der träumende Anwalt diese außergewöhnliche, von Verachtung der Arbeit inspirierte und deshalb alle blinde Wut des Staates anstachelnde Idee in seinen Text, ohne sich selbst zu gefährden? Dadurch, dass er einen Bruder im Geiste fand, der wie er sprach, einen durch Zwangspsychiatrisierung unschädlich gemachten Empörer, den jedoch keine noch so ausgliedernde Sonderbehandlung des Staates davon abhalten konnte, hochherzig und frei zu denken. "Wenn mich die Generalstaaten bezahlen wollten!", blitzte es in ihm auf, "ich wär ein anderer Mensch!", und er meinte mit den Generalstaaten als den Garanten des Existenzgeldes die republikanisch verfassten Niederlande, die damals einzige Demokratie auf dem europäischen Festland.

Diese Art radikaldemokratischer Verehrung des Lebens wurde zusammen mit anderen skandalösen Ideen des Buches mit dem Bannstrahl der politischen Klasse Deutschlands belegt. Es folgte Publikationsverbot. Als Therapie derartiger Verehrung empfahl man die Erziehung und Abstrafung mittels Arbeit: in Arbeitshäusern, den Vorläufern der späteren Lager.

Die aristotelische Triade ist unendlich in ihrem Formenreichtum. Während es bei den großen sozialen Revolutionen des vorigen Jahrhunderts darum ging, die Arbeit von der Ausbeutung zu befreien, geht es heute darum, sich von der Arbeit zu befreien. Weltweit werden bis 2010 nur noch zwölf Prozent der Arbeitnehmerschaft in Fabriken arbeiten, prognostiziert der renommierte Ökonom Jeremy Rifkin und Wirtschaftsberater der US-Administration, und bis 2020 werden es nur noch zwei Prozent sein. Nichtsdestoweniger stoßen die meisten Denkfabriken der politischen Klasse den Terminus Massenarbeitslosigkeit auf eine Weise aus, als lebten wir im Fabrikarbeiterkapitalismus. "Zurück ins Beschäftigungssystem!", tönt es den Überflüssigen entgegen, und die Begründungen, die diesem Appell folgen und sich in ihrer Schlagfertigkeit förmlich überschlagen, sind für das Tagesgeschäft politischer Gruppierungen und Parteien durchaus praktikabel, aber sie sind, auf weite Sicht gesehen, schnell verbraucht, weil sie nur den Horizont des Heute, nicht die Perspektive des Morgen im Auge haben. Lohnarbeit kann auf Dauer nicht mehr im Zentrum der Entwicklung einer Gesellschaft stehen. Die Arbeitslosen sind Befreite, denen eigentlich ein geistiges Abenteuer bevorsteht, denn es geht heute um nichts weniger als um die Wiedereroberung des verlorenen Kontinents der bewusst gestalteten Lebenstätigkeit, um eine Art Rückkehr der Antike ohne Sklaven, einer Antike mit denkenden Maschinen und automatisierten Sprachen. Schöpferische Muße, Meditation, wissenschaftliches Ingenium, künstlerische Aneignung der Wirklichkeit, Aussicht auf ein lebenslanges Lernen, Übernahme von Verantwortung innerhalb der Familie, tätige Sorge um die Schwachen und Kranken einer Gesellschaft, leidenschaftliche Teilnahme an der Entfaltung der politischen Lebensfähigkeit eines Dorfes, einer Stadt, einer Region oder eines Landes, Engagement für den Erhalt der natürlichen Ressourcen auf diesem Planeten - dies alles könnte zukünftig das Zentrum der zurückgekehrten Zivilisation bilden. Heute bildet dies alles eher den Rand der Zivilisation.

Unsere Bewegung quer durch die aristotelische Triade hin zur Sphäre der schöpferischen Lebenstätigkeit wird uns schwierig erscheinen, fremd, ja unmöglich. Ein wenig mehr von der Arbeitsverachtung des antiken Atheners, zumindest, was stupide Tätigkeiten anbetrifft, würde uns vielleicht helfen, diese Rückkehr wirklich anzunehmen. Und wenn diese Verachtung nur dazu da wäre, uns abzustoßen von unserer eigenen "dogmatischen Drahtpuppe", die unser Bewusstsein dirigiert und von der wir nicht wissen, woher sie stammt, und uns endlich zu öffnen für das Gefühl der Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit der eigenen individuellen Existenz. Schöpferische Lebenstätigkeit beruht auf Entfaltung der Individualität, oder sie findet nicht statt. "Wenn wir uns selbst fehlen, fehlt uns doch alles", gab uns jener schreibende Anwalt mit auf den Weg.

Antonín Dick - Jg. 1941, Dr. phil; geb. in Royal Leamington Spa (England) als Sohn antifaschistischer Emigranten; Studium der Theaterwissenschaft und Philosophie in Leipzig und Berlin, Theaterarbeit in Berlin und Gera; Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin bei Prof. Dr. Hermann Ley über moderne amerikanische Soziologie; wegen Inszenierung eines Theaterstückes gegen die Aufrüstung mit atomaren Mittelstreckenraketen in West- und Osteuropa Berufsverbot, 1987 Emigration aus der DDR und Wohnsitznahme in Berlin (West); 1988 Stipendiat am Literarischen Colloquium Berlin, 2001 Förderung eines Theaterprojektes über den frühexpressionistischen Dichter Jakob van Hoddis durch den Hauptstadtkulturfonds; 2005 Veröffentlichung von "Berlinisch Zeichen", einem von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der ABC Privatkunden-Bank geförderten Lyrikband mit Kreidezeichnungen von Christine Niederlag; z. Z. gemeinsam mit seiner Mutter Dora Dick (94jährig) Erarbeitung des Exilbuches "Es war mir in Deutschland zu still".

in: UTOPIE kreativ, H. 183 (Januar 2006), S. 73-76

aus dem Inhalt:

VorSatz; Essay ADOLF MUSCHG: Treppenrede; Gesellschaft - Analyse & Alternativen ARMIN BERNHARD: Antonio Gramscis Verständnis von Bildung und Erziehung; PARVIZ KHALATBARI: Demographie - eine Wissenschaft mit unterentwickelter Theorie; Utopie konkret RICHARD SAAGE: MorusÂ’ "Utopia" und die Macht. Zu Hermann Onckens und Gerhard Ritters Utopia-Interpretationen; GÜNTER WIRTH: Ausgeschlagene Chancen der Neuorientierung. Zwei Schriften aus dem Jahre 1948; Linkspartei DIETHER DEHM: Gegenöffentlichkeit contra BND-Medien. Die Linke braucht eigene Kulturarbeit, nicht Gnade der Verlagskonzerne; HORST GROSCHOPP: Die demokratische Linke und die Religion. PDS und Religionsgemeinschaften; Standorte ANTONÍN DICK: Befreiung von der Arbeit; Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau Bücher & Zeitschriften Karsten Rudolph: Wirtschaftsdiplomatie im Kalten Krieg. Die Ostpolitik der westdeutschen Großindustrie 1945-1991. (STEFAN BOLLINGER); Mathias Beer, Gerhard Seewann (Hrsg.): Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches. Institutionen - Inhalte - Personen, Südosteuropäische Arbeiten; (PEER HEINELT); Micha Brumlik: Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen. Hrsgg. von Michel Friedman (FLORIAN WEIS); Fernand Braudel: Modell Italien 1450-1650 (ULRICH BUSCH); Wolfgang Scheler, Ernst Woit (Hrsg.): Kriege zur Neuordnung der Welt. Imperialismus und Krieg nach dem Ende des Kalten Krieges (BERNHARD HEIMANN); Jahresinhaltsverzeichnis 2005; Summaries