Oder: Über An- und Enteignungsverhältnisse im aktivierenden Sozialstaat
Der Kommunismus nimmt keinem die Macht, sich gesellschaftliche Produkte anzueignen, er nimmt nur die Macht, sich durch diese Aneignung fremde Arbeit zu unterjochen.(Karl Marx/Friedrich Engels: ...
... Das kommunistische Manifest)
Aneignung findet statt. Sie muss nicht erst gefordert werden, und schon gar nicht bedarf sie einer Erhebung zu einem "Projekt". Damit ist noch nichts über die Art und Weise ausgesagt, wie "Aneignung" unter konkreten historischen Bedingungen stattfindet und worauf sie gerichtet ist, wodurch sie begrenzt ist und "wer" oder "was" diese Grenzen zieht. Wir reden also über Aneignungsweisen und Aneignungsverhältnisse.1
Es geht um nicht mehr und nicht weniger als eine andere Weise der Aneignung. Unter dem aneignungsmotivierten Motto "Was wir brauchen, müssen wir uns nehmen!" betriebene Praxen, wie z.B. Häuserkampf oder kostenloses Einkaufen, sind - gewollt oder nicht - gegen die Logik einer kapitalistischen Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums gerichtet. Diese Aktionsformen werden nach wie vor als "besonders aneignend" betrachtet, weil sie als direkte Aktionen mit einem konkreten Gegenstand verbunden sind. Ihre Besonderheit und Direktheit soll hier nicht in Frage gestellt werden. Aber um zu verstehen, wie gegenwärtige Aneignungsweisen von statten gehen, genügt es nicht, auf marginale Gegenaneignungspraktiken zu verweisen.
Aneignungsverhältnisse im aktivierenden Sozialstaat
Im März 2002 hatte Bundeskanzler Schröder die fünfzehnköpfige "Kommission moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" eingesetzt, besser bekannt unter dem Namen ihres Leiters, des VW-Managers Peter Hartz. Fünf Monate später lag als Ergebnis ein dreizehn Module und 343 Seiten umfassender Bericht vor, der einschneidende Veränderungen in den Strukturen der Arbeitsmarktpolitik vorsah. Ein Jahr später rief Schröder zu "Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung" auf. Mit dieser Regierungserklärung formulierte er den an Hartz anschließenden und darüber hinausreichenden Reformbedarf einer "Agenda 2010"2 in den drei Bereichen Konjunktur und Haushalt, Arbeit und Wirtschaft sowie soziale Absicherung im Alter und bei Krankheit. Vorschläge der Hartz-Kommission, wie vor allem die Streichung der Arbeitslosenhilfe zugunsten eines neuen Systems von Arbeitslosengeld II und Sozialgeld, die im "Ersten" und "Zweiten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" vom Dezember 2002 noch nicht umgesetzt wurden, kamen erneut zur Sprache und liegen inzwischen als Gesetzesentwürfe vor.
Was zurzeit im Bereich der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik unter "Hartz"- und "Agenda 2010"-Reformen diskutiert wird bzw. bereits umgesetzt worden ist, lässt sich mit dem Begriff der "Aneignung", genauer: als Bestandteil von Änderungen in der Aneignungsweise bzw. den Aneignungsverhältnissen fassen. Sozial- und Arbeitsmarktpolitik können in diesem Rahmen als Bestandteile eines Aneignungsverhältnisses interpretiert werden, mit denen sowohl die Bedingungen der Existenzsicherung über den Arbeitsmarkt reguliert, als auch Anreize für bestimmte "Normalbiographien" und Lebensstile gesetzt werden. Einerseits entwickelt sich fortschreitend eine neue Aneignungsweise im Kapitalismus, die Ausdruck ökonomischer Entwicklungen und auch Kämpfe um diese "Aneignungsverhältnisse" sind. Zu diesen Kämpfen zählen tarifpolitische Auseinandersetzung ebenso wie z.B. der Kampf um Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sowie Kämpfe um geschlechterhierarchische Rollenverteilungen im Rahmen einer an Männern orientierten "Normalbiographie". Andererseits kann sowohl die neu entstehende, ebenso wie die vorherige Aneignungsweise als "Enteignung" beschrieben werden: erstens im grundsätzlichen Sinne des zwar formal freien, d.h. vertragsmündigen, aber von der Kommandogewalt über seine Arbeitskraft und der Produktionsziele sowie der Produktionsmittel enteigneten Lohnarbeiters, zweitens im Sinne einer durch "Sozialabbau" betriebenen Verschlechterung der Bedingungen, unter denen der "doppelt freie Lohnarbeiter" seine Arbeitskraft verkaufen muss.
Der gegenwärtige Prozess des Wandels von der einen zur anderen Aneignungsweise verläuft mit den Mitteln sich zuspitzender Enteignung von Rechten, von sozialen Standards und in Formen von Privatisierung, De- bzw. Re-Regulierung und Flexibilisierung. Die verwendete Rhetorik ist die des "Empowerment", der Selbstbestimmung und der Eigenverantwortung; die Perspektive ist der Wohlstand durch Wettbewerb, das Versprechen des künftigen Wohlergehens durch gegenwärtiges Kürzertreten. Der Gerechtigkeitsdiskurs wird mit den Begriffen "Leistung", "Teilhabe" und der "Verantwortung" gegenüber künftigen Generationen geführt, während der politische Herrschaftsmodus die parlamentarisch-demokratische Expertokratie und die Legitimationsbasis der Erfolg bei geringen Kosten für den Staatshaushalt ist.
Rhetorik der neuen Aneignungsverhältnisse
Seit der Sozialhilfereform Bill Clintons nach dem Motto "to end welfare as we know it" und dem vom Theoretiker und Vordenker des "Dritten Weges", Anthony Giddens, propagierten "social investment state" bis zur Verkündung des "Weges nach vorne für Europas Sozialdemokraten" durch Tony Blair und Gerhard Schröder wird ein zentrales Anliegen, hier wörtlich durch die letztgenannten, formuliert: "Moderne Sozialdemokraten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln." Der Staat betreibt als Moderator und Schiedsrichter eine demokratische "Verantwortungsteilung": Dem Individuum wird die Eigenverantwortung zugeschoben, wobei es mal gefördert, mal gefordert wird; die Gesellschaft insgesamt muss sich um eine Zukunftsverantwortung bemühen und heute den Gürtel enger schnallen, damit morgen der Wohlstand ausbricht und Deutschland - so Schröder in seiner "Agenda 2010"-Rede - "wieder an die Spitze der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Europa" kommt. Wofür das gut sein soll und wem es nützt, wird nicht näher bestimmt. Wie das Ziel erreicht werden kann, wird dagegen offen benannt: "Wir werden die Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen."
Offenbar leben wir in Zeiten eines allumfassenden Verantwortungs-Diskurses. Ein Kernthema dieses neuen Diskurses lautet: "Mehr Beschäftigung schaffen!". Wenn der Begriff der "Vollbeschäftigung", wie z.B. in der "Agenda 2010"-Rede benutzt wird, dann erschließt sich die Bedeutung in der Regel aus den Maßnahmen, mit denen Vollbeschäftigung erreicht werden soll. Kurz gesagt weisen diese Maßnahmen darauf hin, dass vollbeschäftigungsflankierende oder -herstellende Politik auf neue, sowohl qualitative als auch die quantitative Aspekte des Begriffs zielt. Arbeitsmarktpolitisch findet eine Abkehr von der bisherigen Prämisse statt, dass der über den Arbeitsmarkt zu erzielende männliche "Familienlohn" zumindest die Existenz des Arbeitnehmers selbst sichern muss. Ihre faktische Aushöhlung ist unter der Formel "Erosion des Normalarbeitsverhältnisses" bekannt, die bisher verwendet wurde, um wachsende Massenarbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigungsverhältnisse als Entwicklungstendenzen des Arbeitsmarktes quantitativ zu beschreiben und um qualitativ eine Abkehr vom fordistischen Gender-Regime der Familienernährer- und Hausfrauenehe zu bezeichnen. Inzwischen ist sie eher zu einer neuen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Strategie avanciert, die sowohl national als auch auf EU-Ebene forciert wird. Hohe Beschäftigungsquoten lösen niedrige Arbeitslosenquoten als Maßstab "guter Praxis" ab, vom "Normalarbeitsverhältnis" abweichende Beschäftigungsverhältnisse werden staatlich gefördert und im Hinblick auf eine hohe Beschäftigungsquote mit Mitteln der Zwangs staatlich gefordert.3 Begrifflich kann der Modus der neuen Aneignungsverhältnisse als Wechsel von der Regulation der Kontinuität zur Regulation der Diskontinuität von Erwerbsbiographien gefasst werden.
Sinnigerweise setzt eine hohe Beschäftigungsquote ein hohes Maß an Übereinstimmung zwischen Arbeitsnachfrage und -angebot voraus. Bei Hartz u.a. konzentrieren sich die Vorschläge nahezu ausschließlich auf die Angebotsseite (die Arbeitnehmer und Arbeitslosen), was zu einer Verschiebung der ursächlichen Zusammenhänge führt: Ein hohe Beschäftigungsquote setzt jetzt ein hohes Maß an Beschäftigungsfähigkeit voraus, wobei suggeriert wird, dass mangelnde Fähigkeiten stets bei den Arbeitskräften zu beheben sind. "Employability" ist deswegen der Dreh- und Angelpunkt der deutschen Arbeitsmarktpolitik, die teilweise auch auf die "Europäische Beschäftigungsstrategie" (EBS) zurückgeführt werden kann. Sie zielt auf die Fähigkeit der Einzelnen, die eigene Existenz durch Arbeit selbst sichern zu können. Mit dem Konzept werden deshalb Qualifikationen im Rahmen eines "Lebenslangen Lernens" ebenso vermittelt wie Fähigkeiten des Selbst-Managements und des Selbst-Marketing. Letztendlich resultiert daraus, so die Hoffnung, eine höhere "Anpassungsfähigkeit" - an eine flexibilisierte Produktionsorganisation, deregulierte Arbeitsmärkte und privatisierte, also marktförmig umgebaute Sozialversicherungen. Es handelt sich um ein staatliches "Empowerment"4 oder anders gesagt: um die staatliche Vorgabe, wie sich die Einzelnen die neuen Bedingungen marktoptimal aneignen müssen.
In der gegenwärtigen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Diskussion formt "Aktivierung" das begriffliche Dach all jener Bemühungen, und grenzt die neue Politik zugleich von der des alten Sozialstaatsmodells ab. Soziale Leistungen der Arbeitslosenversicherung und der Sozialhilfe fallen unter das Adjektiv "passiv"; "aktiv" sind die bisherigen Maßnahmen der Arbeitsförderung. "Aktivierung" hingegen durchkreuzt beide Felder als neues Leitbild in Richtung von Prävention und Anreizen zur Arbeitsaufnahme.
Leitbild Aktivierender Staat
In ihrer ersten Amtszeit gab sich die rot-grüne Bundesregierung das Leitbild des "aktivierenden Staates", dessen Kern in der so genannten "Verantwortungsteilung" besteht. Zwei Ebenen lassen sich hierbei unterscheiden: eine steuerungstheoretische und eine gesellschaftlicher Ordnungspolitik.
Zum einen geht es um die Frage, wie gesellschaftliche Prozesse gesteuert werden können, also um so genannte steuerungstheoretische Überlegungen. Konkret läuft dies auf eine Verwaltungsreform hinaus, die jedoch nicht als so langweilig abgetan werden sollte, wie sie sich anhört. Es ist in der Regel die Verwaltung, die den BürgerInnen direkt gegenübertritt und z.B. als Arbeits- oder Sozialamt aufgrund von gesetzlichen Bestimmungen die Politik der Regierung durchführt. Die eine Seite der Verwaltungsreform besteht in einer Entbürokratisierung, die nicht grundsätzlich des Teufels sein muss. Die andere Seite umfasst eine Neustrukturierung der Handlungslogik der Verwaltung hin zu einem "modernen Dienstleister"5, was wiederum zweierlei bedeutet: einmal eine interne Neuordnung, die sich bis auf eine "leistungsgerechte" Entlohnung der MitarbeiterInnen auswirken kann, dann eine Neuordnung der Beziehungen zwischen den Angestellten des Amtes und den BürgerInnen. Aus dem ehemaligen "Klienten" der Sozialverwaltung, der einen sozialrechtlich verbürgten Anspruch gegenüber dem Amt geltend machen konnte, wird ein "halbierter" Kunde, der mit einem erfolgsorientierten, weil leistungsentlohnten Dienstleister einen Vertrag schließt. "Halbiert" ist der "Kunde", weil er keineswegs über die Möglichkeiten eines vollen Markteilnehmers verfügt: Er kann nicht "nein" sagen. Wenn ein Arbeitsloser sein Geld will, muss er künftig einen Eingliederungsvertrag schließen, sich einer Verwertbarkeitsvermessung, dem so genannten Profling, unterziehen und zusätzlich jedes ihm angebotene "Produkt" (sprich: Arbeit oder Qualifizierungsmaßnahme) annehmen. Und der "Kunde" kann nicht einfach den Dienstleister wechseln, da er seinen nach wie bestehenden Rechtsanspruch auf Arbeitslosengeld nun einmal nicht beim Pfandleiher einlösen kann. Drittens gibt es keine Rückgabegarantie und viertens verfügt die andere Seite des "Eingliederungsvertrages", das Amt, über repressive Instrumente, mit denen sie die Geldleistungen kürzen oder streichen kann, während der "Kunde" auf den langen Weg zum Sozialgericht verwiesen bleibt. Den gestärkten Verkehrsmitteln Recht und Geld auf der Seite des "Dienstleisters" steht ein rechtlich geschwächter und ökonomisch impotenter "Kunde" gegenüber. Ebenso gut kann "Aktivierung" im Rahmen einer Work-First-Strategie mit dem auf den Arbeitsmarkt zielenden "Empowerment" als "neuer Paternalismus" beschrieben werden. Während der "alte Paternalismus" die Ungerechtigkeiten des Arbeitsmarktes und der Verteilung insgesamt "korrigieren" wollte, zielt der "neue Paternalismus" nur noch auf die Befähigung der BürgerInnen, ihre "Selbstbestimmung" und "Eigenverantwortung" bei Mangel an Alternativen bedingungslos6 auf dem Arbeitsmarkt zu suchen.
Die "neue Balance von Rechten und Pflichten" hat eindeutig Schlagseite zugunsten der Pflichten. Das Sozialrecht, das einst die Funktionen von Arbeitskräfteregulierung für den Arbeitsmarkt plus einen gewissen Ausgleich in Form von z.B. Arbeitslosengeld und Sozialhilfe innehatte, dient nunmehr allein der Arbeitskräftezufuhr zum Arbeitsmarkt. Das Element des "Ausgleichs" verliert seine Funktion7 als "Gegengewicht": Aus den vormaligen Lohnersatzleistungen werden Lohnergänzungsleistungen8, die zusammen mit Qualifizierungsmaßnahmen und Kürzungsmöglichkeiten vornehmlich zur "Employability" und damit zur "Aktivierung" beitragen. Kurz: Die Aneignungsverhältnisse im Bereich der "Aneignung menschlicher Arbeit" haben sich dabei zugunsten der ArbeitgeberInnen verschoben.
Gerechtigkeit und Aktivierung
Die zweite Ebene der neuen "Verantwortungsteilung" betrifft das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Während unter dem Begriff der "Verantwortungsteilung" zum einen die neue Balance von Rechten und Pflichten sowie das Fördern der Selbstregulierungspotenziale der Gesellschaft verstanden wird, behandelt das Leitbild der Bundesregierung unter dem Stichwort der "Bürgernähe" zum anderen ein neu zu gestaltendes Verhältnis von BürgerInnen und Staat. Die Bundesregierung rückt die Frage, wie Staat und BürgerInnen als "gleichberechtigte Partner" Aufgaben für das "Gemeinwohl" übernehmen können, in den Mittelpunkt. Die Beziehung von BürgerInnen und Staat als Herrschaftsverhältnis, wobei nach herrschender Lehre staatliche Herrschaft der Legitimation durch die BürgerInnen bedarf, wird ausgeblendet zugunsten eines vermeintlich gleichen Interesses an einer Standortgemeinschaft.
Abwehrrechte der einzelnen gegenüber dem Staat unterliegen im Modell des aktivierenden Staates dem Stillschweigen, werden dafür an anderer Stelle zwecks "Verbrechensbekämpfung" oder im Namen der "Terrorbekämpfung" stetig ausgehöhlt. Soziale Rechte, die der Integration in die bürgerliche Gesellschaft dienen und demokratietheoretisch auf eine "soziale Homogenität" als Voraussetzung für eine materielle Unterfütterung der formalen Gleichheit zielen, werden durch Sozialpflichten überlagert oder ersetzt. Führende Politikberater in Sachen "aktivierender Staat" formulieren die Ausgangslage der Einzelnen punktgenau, indem sie fordern, dass "weniger nach der Verantwortung des Sozialstaates als nach der Verantwortung für den Sozialstaat gefragt"9 werden soll. In diesem Diskurs führen sowohl Sozialdemokraten als auch Grüne ihre Debatte um einen neuen Gerechtigkeitsbegriff, wobei wahlweise von "Teilhabe-" oder von "Zugangsgerechtigkeit" gesprochen wird. Damit ist nicht etwa die Teilhabe an oder der Zugang zu gesellschaftlich produziertem Reichtum im Sinne einer sozialreformistischen Verteilungsgerechtigkeit gemeint.10 Vielmehr sollen jene Chancen zugänglich sein, die über den Arbeitsmarkt vermittelt werden. Deswegen zielt eine Zugangsgerechtigkeit primär auf die Chancen, überhaupt auf den Arbeitsmarkt zu gelangen und dort zu bestehen. Von einem so verstandenen Begriff von "Gerechtigkeit" führt der direkte Weg zum arbeitsmarktpolitischen Ziel der "Employability" und von dort zu der Frage, ob es nicht die bisherigen sozialstaatlichen Institutionen selbst sind, die diesem Ziel und dieser Art von Gerechtigkeit im Wege stehen. SozialleistungsempfängerInnen sind in diesem auf Empowerment bezogenen Diskurs nicht mehr nur "TäterInnen", die den Sozialstaat betrügen. Sie werden zusätzlich als "Opfer" dargestellt: Faktische Mindestlöhne in Form von Sozialhilfe und Arbeitslosenleistungen entmächtigen Arbeitslose und Arme; sie werden um die Verwirklichung ihrer potenziellen Chancen geprellt und zur Passivität gezwungen. Um diese "Hindernisse" geht es, wenn die Arbeitslosenhilfe im Zuge ihrer Zusammenlegung mit der Sozialhilfe abgeschafft oder wenn der Kündigungsschutz abgebaut und die Leistungsdauer des Arbeitslosengeldes verkürzt wird. "Der" Staat aktiviert eine neue Phase von Aneignungsverhältnissen, die mit ihrer Schlichtheit beeindruckt: "work first!". Das Ergebnis ist eine größere Marktabhängigkeit bei niedrigeren und ungesicherteren Löhnen.
Aneignungskämpfe im aktivierenden Sozialstaat
Aneignungskämpfe im aktivierenden Sozialstaat finden in dem Sinne statt, dass das Verhältnis von Lohnarbeit und Existenzsicherung umgestaltet wird. Staatliche Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik generiert diese Prozesse nicht in dem Sinne, dass dem Struktur- und Funktionswandel staatlicher Regulation ein neue Aneignungsweise entspringt. Der Wandlungsprozess begann zum einen in den Fabriken. Fertigungsabläufe wurden u.a. aufgrund von Kostendruck mittels neuer Technologien ebenso umgestellt wie die Arbeitsabläufe (Gruppen- und Projektarbeit). Zum anderen änderten sich die Lebenseinstellungen: Sowohl die geschlechterhierarchische Arbeitsteilung als auch die als starr empfundene Normalerwerbsbiographie mit dem Ablauf von Ausbildung - Arbeit - Rente gerieten in die Kritik von den heute so genannten neuen sozialen Bewegungen. All diese Gründe werden jedoch ergänzt durch die seit Mitte der siebziger Jahren bestehende Massenarbeitslosigkeit. "ArbeitskraftunternehmerInnen"11 tauchen als neue Figur von Arbeitskräften auf: Sie sind selbst-kontrollierend, weil sie ambitioniert ihre Leistung optimieren wollen; sie sind selbst-ökonomisierend, weil sie ihre Arbeit möglichst autonom gestalten wollen oder zumindest ihre Karrierechancen nicht nur an ein und demselben Betrieb ausrichten; und sie sind selbst-rationalisierend, weil sie ihr Privatleben und ihre Arbeit entweder miteinander verbinden oder diese Trennung gleich ganz aufheben. Als UnternehmerInnen in Sachen eigener Arbeitskraft sind bisher Freelancer oder Scheinselbständige bekannt; sie arbeiten in der Medien- und Bildungsbranche oder waren KünstlerInnen. Sie gibt es inzwischen auch unter den so genannten "Festangestellten", allerdings noch als Minderheit. Als Mehrheit agieren sie allenfalls in den Leitbildern von Zukunftskommissionen, aber auch - dafür umso wirkungsvoller - in den Leitbildern der gegenwärtigen Regierungspolitik von Hartz bis zur Agenda 2010.
Linksradikale Kämpfe um Aneignungsweisen können auch dort ansetzen, wo eine linksliberale Öffentlichkeit schon längst nicht mehr interveniert: bei einem sozialen Leben jenseits der Arbeitskraftverwertung und, als dessen politische Voraussetzung, bei der Verankerung sozialer Rechte, kurz: bei der Entkopplung von Lohnarbeit und Existenzsicherung im Sinne eines arbeitszwangfreien Existenzgeldes.
Christian Brütt
1 Die Nähe der Begriffe "Aneignungsweise" und "Aneignungsverhältnisse" zu dem Begriff der "Produktionsweise", der bekanntlich die "Produktionsverhältnisse" und die "Produktivkräfte" umfasst, liegt auf der Hand und ist insofern beabsichtigt, als dass damit ein begriffliches Hilfsmittel zur Verfügung steht. Eine Gleichsetzung der Begriffe ist jedoch nicht beabsichtigt; sie genügen als Erklärungs- und Differenzierungsrahmen.
2 Bundesregierung: Agenda 2010. Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung. Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder am 14. März 2003. Berlin: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2003.
3 Die Diskussion um diese Art sozialpolitischer Neu-Normierung wird unter dem Kunstwort "Flexicurity" geführt, das sich aus den Begriffen "Flexibility" und "Security" zusammensetzt.
4 Beim Begriff des "Empowerment" ergibt sich eine interpretatorisch nützliche Analogie zur Aneignung: "Die Linke benutzte Empowerment, um politischen Widerstand zu mobilisieren, die Rechte, um ökonomisch rationale und unternehmerische Akteure zu erzeugen." Ulrich Bröckling: Bröckling, Ulrich: "You are not responsible for being down, but you are responsible for getting up." Über Empowerment. In: Leviathan, 31 (2003), 3, 323-344, hier: 325.
5 Diese Verwaltungsreform wird unter dem Stichwort "Neues Steuerungsmodell" seit Anfang der 1990er Jahre diskutiert und ausprobiert.
6 Zur Bedingungslosigkeit zählt die sog. "Neue Freiwilligkeit", die mit verschärften bis ganz gelöschten Zumutbarkeitskriterien und schnelleren Einsatz von Sanktionen im Sinne von Leistungskürzungen oder Leistungsentzug einhergeht.
7 Bevor es seine Funktion verliert, hat es seine Funktionalität verloren: Im sog. fordistischen Sozialstaatskonzept diente es u.a. der Stabilisierung des Massenkonsums als Ergänzung zur Massenproduktion. Das heißt jedoch nicht, dass heute eine durch Sozialeinkommen gestützte Binnennachfrage vollkommen sinnlos ist. Sie wird im gegenwärtigen ökonomischen Denken jedoch nicht mehr als notwendig bzw. als machbar erachtet. Die inzwischen weggefallene Systemkonkurrenz mit den realsozialistischen Ländern ist dabei einer der Gründe, in der Veränderung des Akkumulationsregimes sind weitere Gründe zu finden.
8 Beispiele hierfür sind die schon seit 1996 in der Sozialhilfe bestehenden Möglichkeiten von Kombilöhnen, deren Prinzip konsequent in der Diskussion um die "Zusammenlegung" von Sozial- und Arbeitslosenhilfe und inzwischen im "Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" (dem sog. Hartz-IV-Gesetz) verfolgt wird.
9 Wolfram Lamping u.a.: Der Aktivierende Staat. Positionen, Begriffe, Strategien. Studie für den Arbeitskreis Bürgergesellschaft und Aktivierender Staat der Friedrich-Ebert-Stiftung. Bonn: FES 2002, 29.
10 Das ist der Gerechtigkeitsbegriff, wie ihn die "alte" Sozialdemokratie pflegte. Er beinhaltete eine Umverteilungspolitik ergänzend zum Markt, war sowohl auf den Marktzugang als auch die Marktergebnisse gerichtet, während der neue Gerechtigkeitsbegriff nahezu ausschließlich auf den Marktzugang zielt.
11 Vgl. Hans J. Pongratz / G. Günter Voß: Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen, Berlin: Edition Sigma 2003.
aus arranca Dezember 2004