Reflexionen zur attac-Kampagne "es ist genug für alle da"
Anders als noch vor wenigen Jahren ist die politische Landschaft in der Bundesrepublik Deutschland heute an ihrem vom Mainstream aus gesehen linken Rand durch eine Reihe von Aufbrüchen
gekennzeichnet. Die weit verbreitete Lethargie der 90er Jahre, nach dem Motto "man kann ja doch nichts machen", ist dem Versuch gewichen, neue Denk- und Handlungsansätze zu entwickeln
Beispielhaft für diese neue Tendenz stehen die globalisierungskritischen Bewegungen mit attac als populärstem Akteur in Deutschland, die studentischen Proteste der vergangenen Monate, die sich gerade entwikkelnde Bewegung gegen die Demontage des Sozialstaats und auch die zwar nur von wenigen Gruppen getragenen, aber breit ausstrahlenden "Umsonst-Kampagnen". Interessanterweise sind alle diese Bewegungsansätze mit Elementen verbunden, die zumindest in ihrer generellen Ausrichtung über einen reinen Appellcharakter hinausweisen.
Die Umsonst-Kampagnen bemühen sich auch in Deutschland, den in Italien oder Frankreich längst etablierten Gedanken der unmittelbaren Aneignung lebensnotweniger Güter zu popularisieren. GlobalsierungskritikerInnen verlassen in ihrer Mehrheit und bei fast allen ihren Aktivitäten den Rahmen der Aufforderung an Staat und Politik nach Reformmaßnahmen nicht, auch wenn sie gelegentlich mit allen drei genannten "radikaleren" Formen liebäugeln: Ziviler Ungehorsam, politischer Streik, Aneignung.
Vor allem im Teil innerhalb von attac Deutschland, der am Thema soziale Sicherung arbeitet, hat sich dabei ein erstaunlicher Grundkonsens herausgebildet. Die Kampagne beschreibt die soziale Wirklichkeit in der Bundesrepublik und weltweit, indem sie betont, noch nie sei eine Gesellschaft so reich gewesen wie die heutige. Weltweit stehen genug Nahrungsmittel und Güter zur Verfügung, um allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen, was aber nicht geschieht. Dem stellt sie den normativen Anspruch gegenüber, dass jeder Mensch ein Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum und dem gesellschaftlichen Leben habe, "einfach nur so, nur weil es ihn gibt".
Hatten die französischen Bewegungen Ende der 1990er Jahre noch betont, Arbeit sei ein Recht, Einkommen eine Notwendigkeit, so rückt bei der attac-Kampagne in Deutschland der Verweis auf die Arbeit in die zweite Reihe oder fehlt ganz. Das Recht auf Teilhabe gilt in diesem Verständnis unbedingt, für alle und unabhängig davon, ob andere Einkommensquellen vorhanden sind. Hier verschwindet die Arbeit aus ihrer Rolle als Vermittlerin des gesellschaftlichen Reichtums, auf den ein unmittelbares Teilhaberecht proklamiert wird. Konsequenterweise nennt sich die Kampagne deshalb "genug für alle".
Obwohl es erstaunlich ist, dass ein so breites und politisch vielfältiges Netzwerk wie attac sich auf einen solch offensiven Standpunkt zur sozialen Frage einigen kann darf man die Bedeutung nicht überschätzen. Denn es handelt sich "nur" um eine normative Orientierung. Der Konsens ist noch nicht politisch unter Druck geraten. Es gibt noch keine konzertierte Kampagne aus bürgerlicher Öffentlichkeit und zögerlichen Teilen am Rand von attac. Noch ist man sich einig, dass es hier um eine Zielbestimmung geht, nicht um eine Praxis für heute und morgen. Da denkt man auch bei attac eher an kleine Schritte. Obwohl, nebenbei gesagt, die Erhaltung einer den Lebensstandard sichernden Rente oder einer alle medizinischen Denkbarkeiten absichernden Gesundheitsversorgung, wie sie attac fordert, keine Kleinigkeiten wären und durch sie bereits ein nicht geringes Maß an Teilhabe realisiert würde. Die tatsächlichen Annäherungen an Praxen unmittelbarer Aneignung sind äußerst zurückhaltend. Höchstens einzelne "Attacies" unterstützen die Umsonst-Kampagnen. Immerhin wird jedoch in der Kampagne "Es ist genug für alle da" über Schritte in diese Richtung nachgedacht. Seit Monaten ist der Vorschlag in der Diskussion, einen bundesweiten Aktionstag in diesem Sinne zu organisieren. Manche denken da eher an kleine lokale Geschichten wie die symbolischen Besuche in SPD-Parteibüros am 20.10., dem Datum der Agenda 2010.
Aber es gibt auch die Vorstellung eines groß angelegten sozialen Wiederaneignungstages. Dafür würde sich der dritte Mittwoch im November (in diesem Jahr der 17.) anbieten, ein Datum, an dem früher der arbeitsfreie Buß- und Bettag im Kalender stand. Dessen Konnotation als evangelischer Feiertag macht noch ein wenig Schwierigkeiten und müsste aufgebrochen werden. Aber dieser freie Tag musste seinerzeit geopfert werden, um den Arbeitgeberanteil zur Pflegeversicherung rückzuerstatten. Der Tag ist also ein Symbol dafür, dass in Deutschland auch der Schein des Anspruchs, die Kapitalseite zur Finanzierung der sozialen Sicherung heranzuziehen, aufgegeben wurde. Schon jedes Fernbleiben von der Arbeit wäre also ein Akt unmittelbaren Widersetzens oder Ungehorsams. An diesem Tag könnten dann flächendeckend die vielfältigsten Umsonst-Aktionen durchgeführt, unterschiedlichste Partner dafür angesprochen und gewonnen werden. Eine Zusammenarbeit zwischen GlobalsierungskritikerInnen und eher linksradikaler Szene wäre leichter als zu anderen Anlässen denkbar.
Es gibt bisher eine recht zögerliche Reaktion auf den Vorschlag. Zwar sind viele AktivistInnen im Zentrum der Kampagne "Es ist genug für alle da" von seiner Sinnhaftigkeit überzeugt. Er könnte auch ein Beitrag zur Lösung des Problems darstellen, dass man nicht einfach immer wieder die Republik mit Großdemonstrationen überziehen kann, wenn man politische Erfolge erzielen will. Aber es gibt starke Vorbehalte und Ängste: Wer traut sich wirklich "illegale" Aktionen zu? Wer steht dafür in der Öffentlichkeit gerade? Was sagt mein unmittelbares persönliches oder berufliches Umfeld dazu?
Selbst wenn all diese Schwierigkeiten überwunden würden und der Aktionstag durchgeführt würde, bleibt ein wesentliches Problem bestehen: Ein einzelner erfolgreicher "Tag der Wiederaneignung" konstituiert noch lange keine (Wieder)Aneignungsbewegung. Sicherlich wäre es danach leichter, über eine solche Perspektive zu diskutieren, aber die Aktion selbst verharrt auf der Ebene symbolischer Politik. Sie verdeutlicht einen Anspruch, begründet aber keine Praxis. Allerdings muss, zumindest für Deutschland, gesagt werden, dass diese Unzulänglichkeit für alle Bemühungen in diese Richtung gilt. Auch die Umsonst-Kampagnen kommen bisher nicht über die symbolische Ebene hinaus. Gleiches gilt für Streiks und Zivilen Ungehorsam. Blockaden, Besetzungen, Schwarzfahraktionen - sie alle sind begrenzt und eröffnen keine langfristigen Handlungsoptionen.
Wir sollten beginnen, diese unterschiedlichen Herangehensweisen als Resultat dieser Situation und Teil einer gemeinsamen Suchbewegung zu akzeptieren. Selbstverständlich müssen wir auch eine Debatte um die Defizite der jeweiligen Praxen führen und ehrlich darüber streiten, wie weiter führende Schritte aussehen könnten. Deren Ziel müsste es sein, vielfältige Möglichkeiten, wie sich Denken und (zunächst sicher sehr weitgehend symbolisches) Handeln der oppositionellen Individuen radikalisieren könnnen, nebeneinander stehen zu lassen. Dabei gibt es meines Erachtens nicht grundsätzlich "das Bessere" oder "das Richtigere", das kann nur die jeweilige Situation und die jeweilige Gruppe entscheiden. Gemeinsam aber können und sollten wir einen Diskussionsprozess gestalten, der nach und nach Forderungen nach einem guten Leben, Zivilem Ungehorsam, Streik und unmittelbarer Aneignung als Teile einer umfassenden Strategie gesellschaftlicher Veränderung etabliert.