Über die Hintergründe und Ergebnisse des G20-Weltfinanzgipfels in London
Die Akteure des G20 (1) selbst lobten ihre Beschlüsse über den grünen Klee: Von "historisch" sprachen Obama und Merkel, Sarkozy hatte eine "neue Seite" wahrgenommen, die aufgeschlagen worden sei und Brown sah einen "neuen globalen Konsens". Mothlante freute sich über "mehr Geld für Afrikas Infrastruktur" und Fernandez de Kirchner über einen "Sieg für Lateinamerika". Strauss-Kahn schließlich jubelte: "Der IWF ist wieder da!" Er dürfte damit am nächsten an der Wirklichkeit liegen.
Wenn man das Geplänkel im Vorfeld betrachtet, hat es in der Tat an einigen Punkten Ergebnisse gegeben, mit denen nicht unbedingt gerechnet werden konnte. Besonders die Konfliktlinie zwischen "Konjunkturprogramm" und "Regulierung" war von den Medien und den Staats- und Regierungschefs hochgespielt worden.
Tatsächlich haben einige Länder diesbezüglich erkennbar unterschiedliche Interessen. Die USA und in weniger starkem Maße Großbritannien haben in den vergangenen Jahren hohe staatliche und private Verschuldungen in Kauf genommen und damit die inländische und internationale Konjunktur am Laufen gehalten. In der Krise waren die privaten Kreditkreisläufe weitgehend zusammengebrochen, vor allem US-amerikanische Immobilien- und Konsumentendarlehen gerieten in Not. Mehr als 3,5 Millionen Betroffene mussten ihre Häuser räumen, bis zu sechs Millionen weiteren Menschen steht dieses Schicksal bevor.
Längst trifft es nicht mehr nur diejenigen, die sich angeblich über ihre Verhältnisse verschuldet haben und nie Kredite hätten bekommen sollen (die angeblichen "subprime", die "suboptimalen" Hypotheken), sondern auch viele vormals mit guten Einkommen Beschäftigte, die nunmehr arbeitslos sind und Zinsen und Tilgungen nicht mehr aufbringen können. Da liegen staatliche Konjunkturprogramme nahe.
Deutschland und mit Abstrichen auch Frankreich hatten zu den Gewinnern dieser Situation gehört. Hier wurden viele der Waren produziert, die anderswo konsumiert wurden und damit die Arbeitslosigkeit und die Verschuldung in andere Weltgegenden transportierten. Dies stellt aus Sicht des Exportweltmeisters durchaus ein erfolgreiches Wirtschaftsmodell dar. Zu dessen Fortsetzung braucht man in erster Linie eine Stabilisierung der (globalen wie der nationalen) Nachfrage - und Regeln, die so angelegt sind, dass sie das Funktionieren des Systems begünstigen.
Und so konnte, wer genau hinhörte, auch im Medienstreit der Tage vor dem Gipfel die Untertöne hören: Die deutsche Position hieß - trotz manch anderer Darstellung - nie, dass es keine Konjunkturprogramme geben dürfe, sondern dass kein Land gezwungen werden dürfe, "noch ein Konjunkturprogramm vom Stapel zu lassen" (Steinbrück). Zwar inszenierten die "Chefs", wie es in der Gipfelsprache heißt, noch am Abend des 1. April eine öffentliche Show, die die Financial Times Deutschland zu der Unkerei veranlasste, "im Kampf um ihre Positionen" hätten sich "Staatenlenker, die nicht miteinander konnten" verbündet. Aber gleichzeitig saßen die Finanzminister und die "Sherpas", also die Fachbeamten, längst an der Ausarbeitung der späteren Beschlüsse.
Und da mussten die Chefs dann nur noch kurz Hand anlegen und ein paar Ingredienzien zu dem oben angedeuteten Cocktail dazugeben, die Interessen weiterer Beteiligter ins Spiel brachten. Die Schwellenländer hatten starke Einbußen gehabt, weil ihnen die Märkte im kapitalistischen Norden wegbrachen und weil die Rohstoffpreise dramatisch gefallen waren.
China und Japan stimmten mit dem deutsch-französischen Anliegen der Sicherung ihrer Exportmärkte ohnehin überein, Russland und Australien schlossen sich dem an. Alle Schwellenländer wollten nicht nur mehr faktischen, sondern auch mehr institutionellen Einfluss in der Regulierung der Weltwirtschaft. Die USA, aber auch andere G7-Länder, hatten dem IWF eine starke Rolle dabei zugedacht, China ging darauf mit dem Vorschlag einer perspektivisch beim Währungsfonds anzusiedelnden neuen Weltwährung ein. Aus all dem besteht der beschlossene Kompromiss.
Deutschland baut auf eine Stabilisierung der Nachfrage
Die Eigenkapitalausstattung des IWF wird von 250 auf 750 Milliarden US-Dollar verdreifacht. Im Vorfeld war man von einer Verdoppelung ausgegangen, hier wurde also der weitestgehende Vorschlag der USA beschlossen. Damit die Schwellenländer auf die Aufwertung des Fonds eingehen konnten, wurde erstens beschlossen, dass die Neuberechnung von dessen Quoten, die identisch mit Stimmrechten sind, um zwei Jahre auf 2011 vorgezogen wird. Einen in der Höhe noch nicht endgültig bestimmten Teil der zusätzlichen Mittel kann der IWF ohne die bisher üblichen Bedingungen bezüglich Strukturanpassungsmaßnahmen vergeben, allerdings nur dann, wenn er die Länder vorher so einschätzt, dass "good governance" bei ihnen ohnehin gegeben sei - das allerdings würden die G20-Staaten aus dem Süden für sich selbst ja selbstverständlich in Anspruch nehmen.
Die 500 Milliarden sind im Wesentlichen Garantien und Kredite, nur etwa die Hälfte soll sofort wirksam werden; zu deren Finanzierung übernahmen Japan (100 Mrd.) und die EU (105 Mrd.) feste Finanzierungszusagen. Zweitens kann der Währungsfonds die Sonderziehungsrechte (2) um 250 Milliarden Dollar erhöhen. Drittens wird die Weltbank und die ihr angeschlossenen regionalen Entwicklungsbanken mit 100 Milliarden Dollar ausgestattet, die zur direkten Armutsbekämpfung dienen sollen. Nur bei einem Teil dieser Mittel handelt es sich unzweifelhaft um frisches Geld, und zwar sechs bis sieben Milliarden aus Goldverkäufen des IWF.
Vom Rest ist die Aufbringung noch völlig ungesichert, teilweise wurden bilaterale Zusagen recycelt, die schon vor Jahren beim G8 in Schottland gegeben worden waren. Und schließlich wurde noch ein Paket von 250 Milliarden US-Dollar zur Stabilisierung des Welthandels beschlossen. Es soll im Laufe der nächsten zwei Jahre ausgearbeitet werden und im Kern aus Versicherungen und Exportbürgschaften bestehen.
Sehr weitgehend handelt es sich bei den Beschlüssen also um Absichtserklärungen und so begann gleich der Kampf um die Interpretation. Selbstverständlich heulten die Marktfetischisten und Monetaristen auf. "Helikoptergeld" war die am häufigsten gebrauchte Formulierung, die auf Milton Friedmann zurückgeht und meint, da wird Geld aus dem Flugzeug abgeworfen, das jedem zur Verfügung steht und damit lediglich zur Aufblähung der Preise, also zur Inflation führt.
Ich möchte mich jetzt keinesfalls in die Phalanx der Propheten einreihen, die Prognosen abgeben, von denen sie wenige Monate später sagen, man habe ja die Zukunft nicht voraussehen können. Deshalb werde ich auch nicht leugnen, dass die Entwertung der irrwitzigen Mengen aufgehäufter Schulden durch Inflation ein denkbares Szenario ist. Aber fest steht das nicht. Die monetaristischen Voraussagen, die einen engen und unlösbaren Zusammenhang zwischen Geldmenge und Geldentwertung hergestellt haben, treffen schon seit Jahren nicht ein. Währungen sind seit der Aufgabe des Goldstandards keine Waren im klassischen Sinne mehr. Sie funktionieren nicht auf der Basis irgendeiner realen Deckung, sondern ausschließlich auf der Grundlage von Vertrauen ("Kredit" sagen die Nationalökonomen), also deshalb, weil wir alle glauben, dass sie funktionieren. Da sind Entwicklungen noch schwerer vorhersagbar als ohnehin schon.
Eine Ende des Dollars als Weltwährung ist nicht in Sicht
Es ist keineswegs zufällig, dass andere Experten gleichzeitig die Gefahr der Deflation diskutieren, also einer Entwicklung, in der die Preise immer weiter sinken und wo jeder, der es sich erlauben kann, Käufe und Investitionen auf morgen verschiebt, weil sie dann ja billiger sein werden. Die Einbrüche in der Produktion könnten durchaus eine solche Entwicklung ankündigen und die niedrigen Zinsen der Zentralbanken weisen in die gleiche Richtung.
Den nach Meinung vieler Ökonomen Kern des Problems ist der Gipfel ohnehin nicht angegangen. Der Welthandel ist ein Nullsummenspiel, was der Eine exportiert, muss der Andere importieren, die Überschüsse des Einen sind die Defizite des Anderen. Stark exportorientierte Volkswirtschaften wie die deutsche, chinesische oder japanische können ihre Produkte nur verkaufen, weil und wenn in anderen Ländern zahlungsfähige und -bereite Märkte dafür zur Verfügung stehen. Das war bisher in den USA der Fall und hat zu erheblichen Ungleichgewichten und neuen Formen der gegenseitigen Abhängigkeit geführt.
Am deutlichsten wird das im Falle Chinas sichtbar, das Ende letzten Jahres knapp zwei Billionen US-Dollar an Devisenreserven hielt und damit der größte Gläubiger der USA war. Es konnte dieses Geld aber im Prinzip nicht anders einsetzen, als es den US-Märkten als Kredit zur Verfügung zu stellen, weil jede andere Verwendung das Risiko erhöht hätte, die Dollarmenge so sehr zu erhöhen, dass er in einen Abwärtstrend geraten würde, der auch die chinesischen Reserven entwertet hätte. So entstehen Druckmöglichkeiten der beiden Volkswirtschaften gegeneinander. Zwar kann keine der beiden Seiten diese frei und beliebig einsetzen, aber ihr Interesse an einer Beseitigung der Ungleichgewichte wird dadurch gebremst.
Die anderen Exportnationen haben ein solches Interesse ebenfalls nicht und so spielte eines der zentralen Probleme der heutigen Weltwirtschaft in den Diskussionen des Gipfels gar keine Rolle. Zwar hatte der chinesische Ministerpräsident seinen Vorstoß für eine neue internationale Reservewährung so platziert, dass er die Sonderziehungsrechte (SZR) des IWF dafür als Basis vorgeschlagen hatte, aber die oben erwähnte Erweiterung der SZR nahm diese Initiative nicht auf. Lediglich Russland erklärte, man halte den Vorschlag für interessant, und es könnte sein, dass der IWF oder eine andere Institution damit beauftragt wird, eine Studie darüber anzufertigen.
In der alternativen Diskussion und auch in Teilen des Mainstreams geht es seit einiger Zeit unter dem Stichwort von "Bretton Woods II" um Vorschläge, wie eine neue Verrechnungseinheit geschaffen werden kann, die einen Teil der Funktion des Dollars als Weltgeld übernimmt. Dabei wird, anknüpfend an Ideen von J. M. Keynes, meist an eine internationale Institution gedacht, die für bestimmte Teile des Welthandels als Vermittlerin auftreten würde. Alle Anbieter würden sozusagen nur an sie verkaufen und nur bei ihr kaufen, so dass ein Ausgleich der Überschüsse und Defizite möglich würde. Ob die Chinesen soweit gehen wollten, ist allerdings mehr als fraglich. Ihr Interesse besteht vorerst einmal darin, dass nicht nur der Dollar alleine die Funktion der Reservewährung inne hat.
Insgesamt kann der Teil der Beschlüsse des G20, der sich auf die Schaffung zusätzlicher Kaufkraft, Kredit und Liquidität bezieht, also keinesfalls als Niederlage der einen oder Sieg der anderen Seite dargestellt werden. Vielmehr sind aller Interessen im Ergebnis in mehr oder minder starkem Maße erkennbar.
Der IWF überwacht jetzt das Finanzsystems
Ähnlich verhält es sich mit der Regulierungsseite. Darauf hatte Deutschland im Vorfeld sehr stark gedrungen, ohne dass auch hier die durchaus moderaten Anregungen aus der Alternativdiskussion mitgeschwungen hätten - Tobinsteuer oder Ähnliches kam nicht vor. Beschlossen wurde eine Überwachung des Finanzsystems durch den IWF und das um alle G20-Mitglieder erweitere Financial Stability Board, die aber keine direkten Eingriffsmöglichkeiten erhält. Hedgefonds ab einer bestimmten Größe müssen sich registrieren lassen, Ratingagenturen werden national reguliert und durch eine eigene Risikobewertung der Banken ergänzt, die Eigenkapitalvorschriften der Banken werden angehoben und es soll Vorgaben für Managergehälter und Boni geben, um "Fehlanreize" zu vermeiden.
Besonderen Wert legten die Akteure darauf, dass sie nunmehr die Steueroasen kontrollieren, ja "austrocknen" würden. Beschlossen wurde lediglich, dass alle Staaten sich ab jetzt den OECD-Regeln (3) diesbezüglich unterwerfen müssten. Die "Schwarze Liste", auf der kooperationsunwillige Länder verzeichnet waren, ist inzwischen wieder geschlossen, nachdem sie ursprünglich Costa Rica, Malaysia, die Philippinen und Uruguay enthalten hatte. Hier macht sich selbst die Ankündigungspolitik der G20 lächerlich.
Insgesamt kann gesagt werden, dass es zwar einige Vereinbarungen gegeben hat, nachdem es lange so aussah, als komme wenig bis nicht heraus. Das aber wäre in der internationalen Öffentlichkeit schwer vermittelbar gewesen, wo doch nach den Protesten der letzten Wochen sichtbar wurde, dass es den Anfang einer internationalen Protestbewegung gibt. Also muss man Merkels Satz noch mal besondere Aufmerksamkeit widmen, mit der sie die Beratungen bilanziert: "Es ist dieses Mal eben nicht so wie in den Dreißiger Jahren, als die Welt nicht auf einer Konferenz beriet, wie die Krise gelöst werden muss, sondern dieses Mal wird gehandelt." Zumindest soll die Welt das glauben.
Werner Rätz
Anmerkungen:
1) Zur "Gruppe der 20" gehören neben den G8-Staaten USA, Kanada, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan und Russland noch Australien sowie die Schwellenländer China, Südkorea, Indonesien, Indien, Saudi-Arabien, Türkei, Südafrika, Mexiko, Brasilien, Argentinien und die Europäische Union. Diese wird durch die Kommission und das Land der EU-Ratspräsidentschaft vertreten, wenn das nicht selbst ein G20-Land ist (in diesem Falle also Tschechien). Zusätzlich hat am 2. April in London Spanien teilgenommen.
2) Sonderziehungsrechte wurden 1969 etabliert und sind eine Art Währung, die nur zur Verrechnung dient. Ihr Wert wird täglich entsprechend einem Währungskorb der wichtigsten Währungen neu berechnet. Sie werden den Ländern entsprechend ihrer Quoten beim IWF zugeteilt und können bei den Zentralbanken gegen deren Währung umgetauscht werden. Somit stellen sie zusätzliche Liquidität dar, die nicht vom Bankensystem geschöpft wird.
3) Diese sehen vor, dass es eine automatische Information zwischen den Vertragsstaaten gibt, damit eine Doppelbesteuerung oder eine doppelte Nichtbesteuerung vermieden wird. Es gibt keine Angleichung der tatsächlichen Steuer- oder Überwachungssysteme.
ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 538/17.4.2009