Perspektiven des Protestes gegen Sozialabbau

Es scheint, dass sich der Protest gegen Sozialabbau mit deutlicher Verspätung gegenüber anderen europäischen Ländern auch in Deutschland formiert. Die Demonstration am 1. November 2003, ...

... deren TeilnehmerInnenzahl von 100.000 nicht nur die Medien, sondern auch viele Funktionsträger in den Gewerkschaften überrascht hat, erweist sich als wichtiger Türöffner für weitere Proteste und Aktionen.
Dass ohne offiziellen Aufruf der gewerkschaftlichen Bundesgremien so viele Menschen nach Berlin gefahren sind, hat die Verzagtheit und Unsicherheit vieler gewerkschaftlicher Funktionsträger zurückgedrängt.

Der überwiegende Teil der DemonstrantInnen wurde über gewerkschaftliche Gliederungen vor Ort mobilisiert. Vielfältige regionale Bündnisse hatten viel Vorarbeit in den Städten und Regionen geleistet. Nach dem 1. November gab es zahlreiche weitere Kundgebungen und Aktionen.

Die wohl beeindruckendste hat sicherlich in Wiesbaden stattgefunden, wo sich 45.000 Polizisten, Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes, Beamte, Lehrer etc. gegen die Sozialkahlschlagspläne von CDU-Ministerpräsident Koch in Hessen zur Wehr setzten. Beeindruckend und neu sind auch die vielen Studentenproteste gegen Kürzungen im Bildungsbereich.

Zum Teil gibt es gemeinsame Demonstrationen (Kassel) von Studenten, Gewerkschaften und Erwerbslosen. Ohne in Euphorie verfallen zu wollen, scheint sich mit vielen Auf- und Abwärtsbewegungen eine außerparlamentarische Protestbewegung zu entwickeln, die sich aus ganz unterschiedlichen sozialen Gruppen zusammensetzt.

Sie eint im wesentlichen die Ablehnung der Agenda 2010 und die Einschätzung, dass von den im Bundestag vertretenen Fraktionen nichts mehr zu erwarten ist.

Die einzige Chance wird im Anwachsen des sozialen Protestes gesehen. Immer mehr Menschen erkennen, dass sich die herrschenden ökonomischen und politischen Eliten nicht mit etwas Sozialabbau oder etwas schlechteren Tarifverträgen zufrieden geben, sondern dass das gesamte System der sozialen Beziehungen und Regulierungen so angegriffen wird, dass kein Stein mehr auf dem anderen bleibt.

Die betrieblichen Arbeitsniederlegungen und Kundgebungen von weit über 200.000 Beschäftigten für den Erhalt der Tarifautonomie machen deutlich, dass auch in dieser Frage der Bundesregierung keine große Standfestigkeit zugetraut wird.

In den Gewerkschaften ist die verstärkt wahrnehmbare Orientierung auf weitere Proteste durchaus widersprüchlich.

Zum einen gibt es in vielen Bereichen keine wirklich lebendige Tradition, politische Auseinandersetzungen in die Betriebe zu tragen; zum anderen gehen die Gewerkschaften in ihrer praktischen Betriebs- und Tarifpolitik häufig pragmatische Konzessionen ein, die den gesellschaftspolitischen Aussagen widersprechen und die Glaubwürdigkeit bei den Mitgliedern weiter erschüttern. Trotz allem sind die Resignation und Unsicherheit, die nach den Protesten im März 2003 um sich gegriffen hatten, einer größeren Bereitschaft gewichen, Gegenwehr zu entwickeln.

Europäische Protesttage am 2. und 3. April 2004

Die auf Betreiben des DGB vom Europäischen Gewerkschaftsbund beschlossenen Protesttage am 2. und 3. April 2004 bieten eine wichtige Chance, den Protest aus der nationalen Beschränktheit herauszuführen. Das Signal, dass wir uns nicht in einen Dumpingwettbewerb zu unseren italienischen, französischen, belgischen u.a. KollegenInnen treiben lassen und zusammen mit ihnen (oder zumindest am gleichen Tag) gegen den Sozialabbau demonstrieren, ist nicht hoch genug einzuschätzen, wenn dies keine Einmalaktion bleibt. Die inhaltliche Perspektive des Protestes muss auch im weiteren Fortgang auf die europäische Bühne gebracht werden, ohne die nationalen Regierungen aus ihrer Verantwortung zu entlassen.

Es ist jedoch keinesfalls so, dass die Mobilisierung für diese Protesttage ein Selbstläufer wäre. Vielfältige regionale und betriebliche Aktivitäten müssen dem vorgelagert werden. Auch muss überlegt werden, ob der 2. April nicht durch betriebliche Aktionen ausgefüllt werden kann. Insbesondere müssen die Gewerkschaften und auch die regionalen Bündnisse ihre Aufklärungs- und Informationsarbeit fortsetzen oder gar verstärken. Die soziale Bewegung wird sich dabei kaum auf die Kritik an der Agenda 2010 beschränken können. Inhaltliche Ziele und Forderungen, die über den 2./3. April hinausreichen, müssen herausgearbeitet und in die gesellschaftliche Diskussion eingebracht werden, wie z.B.

Einführung der Vermögensteuer und eine Gemeindefinanzreform, die die Finanzkraft der Kommunen stärkt,
eine paritätisch finanzierte und solidarische Bürgerversicherung,
Ausbau unser Bildungs- Erziehungs- und Kultureinrichtungen (keine Studiengebühren),
Verringerung des Renteneintrittsalters,
gesetzlicher Mindestlohn, der zum Leben reicht,
Umverteilung von Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung.

Die Frage nach der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums wird unweigerlich in den Mittelpunkt der weiteren Auseinandersetzungen rücken. Nachdem große Teile der Bevölkerung ohnehin keine Erwartungen daran knüpfen, dass die Agenda 2010 zu einem nachhaltigen wirtschaftlichen Aufschwung oder gar zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit führen wird, könnten glaubwürdige Gegenpositionen und Alternativen auf stärkeres Gehör stoßen als noch im Frühjahr 2003. Die von einem breiten Bündnis getragene Aktionskonferenz am 17./18. Januar in Frankfurt bietet die Möglichkeit, sowohl über die weiteren inhaltlichen Perspektiven des Protestes als auch über die konkreten Schritte in den nächsten Monaten zu diskutieren.

Bernd Riexinger ist Geschäftsführer des ver.di-Bezirks Stuttgart

aus Sozialismus Heft Nr. 1 (Januar 2004), 31. Jahrgang, Heft Nr. 273