Gefährliche Dominospiele im Mittleren Osten

"Blätter"-Gespräch mit Navid Kermani

"Blätter": Herr Kermani, Sie haben für eine von außen erzwungene Demokratisierung des Irak, allerdings mit friedlichen Mitteln, plädiert. Das war vor den Bombardierungen. ...

... Wie hätte diese Alternative zum jetzt doch überraschend schnell militärisch gewonnenen Krieg aussehen sollen?
Kermani: So, wie man mit anderen Diktatoren verfahren ist. Wie sind denn die Umbrüche in Indonesien, in Südkorea oder, in den 70er Jahren, in Spanien, in Portugal oder im Iran geschehen? Natürlich zunächst durch Veränderungen von innen, aber auch durch entsprechenden Druck von außen. Dieser war zum Teil wirtschaftlich, aber vor allem diplomatisch und hat einen Dialog in Gang gesetzt. Das geeignete Instrumentarium wäre also das ganze Arsenal der Entspannungspolitik von Boykottmaßnahmen, ökonomischen Druck einerseits und der in Aussicht gestellten Annäherung andererseits, also etwa parlamentarischer Austausch und Förderung zivilgesellschaftlicher Strukturen.
"Blätter": Hätten Menschenrechtskommissionen bei einem Diktator vom Kaliber Saddam Hussein denn wirklich Aussicht auf Erfolg gehabt?
Kermani: Im Falle des Iraks wäre es mit einer ziemlich fest im Sattel sitzenden Diktatur natürlich nicht so einfach gewesen wie bei bereits absterbenden Diktaturen. Aber nach dem zweiten Golfkrieg war entschiedener Druck sehr leicht möglich, der Saddam Hussein zu Konzessionen hätte bewegen können. Er ist ja auch in der Frage der Abrüstung sehr weit entgegengekommen. Allerdings, und darin liegt der Kardinalfehler, der ganze Druck richtete sich lediglich auf die Vernichtung von Massenvernichtungswaffen und nicht auf die innere Entwicklung des Irak. Um es auf eine einfache Formel zu bringen: Es wurden Waffenkontrolleure geschickt, aber keine Menschenrechtskommissionen. Dabei lehrt die Geschichte, wie die Beispiele Indonesien und Südkorea, dass auch solche, zunächst nur aus taktischen Gründen, um das Ausland zu beruhigen oder die innere Opposition etwas zu besänftigen, aufgenommenen Veränderungen eine demokratisierende Eigendynamik entwickeln. Bei dem Außendruck, der am Ende auf diesem Regime lastete, wäre es auch möglich gewesen, Saddam Hussein zu zwingen, in einen Dialog mit der Exilopposition, den Schiiten und den Kurden zu treten. Hussein hat auf Grund dieses Drucks in einer Weise mit der internationalen Gemeinschaft zusammengearbeitet, wie es meiner Erinnerung nach noch nie ein Diktator getan hat - bis hin zur eigenen Demütigung, wenn man sieht, wie schnell in den letzten Tagen vor Kriegsbeginn noch Raketen vernichtet worden sind.
"Blätter": Hatte die so genannte Drohkulisse also doch ihre Berechtigung?
Kermani: In der Tat hat die Drohkulisse natürlich einen riesigen Druck auf das Regime ausgeübt. Andererseits war es danach praktisch nicht mehr möglich, die Soldaten zurückzurufen. Tatsächlich wäre es auch nicht gut gewesen, sie einfach wieder abzuziehen. Der Eindruck wäre gewesen: Saddam Hussein hat gesiegt.
Die Beibehaltung des Status quo wäre jedenfalls keine Alternative zum Krieg gewesen. Dafür reicht schon ein Blick auf die Opferzahlen: Um 700 000 Kinder, wie sie das Embargo getötet hat, in einem Krieg umzubringen, hätte dieser schon sehr blutig sein müssen. Trotzdem: Es wäre anderes als Krieg möglich gewesen - selbst und gerade als die Militärmaschine schon stand. Wir dürfen nicht vergessen: Dieser Krieg war und bleibt völkerrechtswidrig. Deshalb hätte man diese extreme Drohkulisse nicht nur für die erfolgreiche Abrüstung nutzen sollen, sondern auch, um Saddam Hussein und dem System einen Dialog aufzuzwingen, natürlich in Verbindung mit einer klügeren Sanktionspolitik.
"Blätter": Die Sanktionen der letzten zwölf Jahre waren bekanntlich desaströs. Sie trieben speziell die irakischen Mittelschichten in die völlige Verarmung.
Kermani: Die Sanktionen dürften nicht allgemeine Konsumgüter und Medikamente betreffen, sondern zielgerichtet die Privilegien der Oberschicht. Dafür gibt es längst Pläne, so genannte smart sanctions, die auf finanzielle Transaktionen oder den Import von Luxusgütern zielen. Diese Alternativen zu den bisherigen Sanktionen sind aber kaum gesucht worden.
Zweite Kolonialisation?
"Blätter": Besteht gerade nach dem schnellen Sieg der Bush-Administra-tion jetzt die Gefahr, dass sich im gesamten arabischen Raum die Geschichte der europäischen Kolonialisation wiederholt? So wie Europa dem Orient - ohne ihn wirklich zu begreifen - Zivilisation versprach, verheißt Amerika heute die Demokratie.
Kermani: Was momentan geschieht, trägt neokolonialistische Züge. Nur haben die früheren Kolonisatoren den Orient besser gekannt als die heutigen Amerikaner. Die Orientalistik entstand überhaupt erst im Kolonialismus; die unterworfenen Völker sollten auch studiert werden. Die Kenntnisse der US-Regierung über den islamischen Raum, bis hin zu Sprachfähigkeiten, scheinen doch äußerst begrenzt zu sein. Besonders auffällig ist die massive Missionierungsrhetorik, die ich mittlerweile ernster nehme als Anfang der 90er Jahre, als sie erstmalig von den Neokonservativen zu hören war. Neuerdings kommt ein religiöses Element hinzu, weniger bei den Neokonservativen als bei der christlichen Rechten und religiös angehauchten Politikern. Hier findet eine merkwürdige Verquickung von ganz banalen machtpolitischen und ökonomischen Interessen - betrieben von Leuten aus dem Regierungsapparat, wie beispielsweise Dick Cheney und seine Beziehung zu Halliburton - mit einer beinahe schon messianischen Vision, wonach die Welt besser wäre, wenn sie von Amerika beherrscht würde, besser auch für die Menschen außerhalb Amerikas. Ähnliches gab es auch im Kolonialismus.
"Blätter": Der pakistanische Autor und Filmemacher Tariq Ali fordert, der Westen solle sich angesichts seiner Geschichte in der Region ganz zurückhalten.
Kermani: Wenn sich der Westen zurückhielte, wäre das tatsächlich besser als sein derzeitiges "Engagement". Vereinfacht gesagt: In der jetzigen Situation ist es ja so, dass man Diktatoren entweder unterstützt oder sie bekriegt. Dazwischen gibt es wenig. Es gibt aber Alternativen. Insbesondere in Europa wächst die Einsicht, nicht nur bei den intellektuellen Eliten, sondern auch bei Politikern, dass es den eigenen Interessen letztlich nicht dienlich ist, wenn man sie so kurzfristig versteht, wie etwa die Vereinigten Staaten in Afghanistan, als sie die Taliban unterstützten. Man erkennt auch, dass die Ausbildung eines Turbokapitalismus wie in Ägypten zur Verarmung breiter Schichten führt und damit dem Westen langfristig selbst schaden wird - sei es mit Blick auf Terrorismus, auf Absatzmärkte oder Einwanderungsströme, sei es mit Blick auf Fragen der äußeren und der inneren Sicherheit in Europa. Diese Einsichten werden heute ernster genommen als noch vor zwei oder drei Jahren. Wie sich Europa letztlich engagiert, bleibt letztlich eine Frage der Macht und der Organisation der europäischen Außenpolitik. Und derzeit ist die Machtkonstellation schlicht so, dass die Europäer nicht sehr einflussreich sind.
"Blätter": In Ihrem neuen Buch schreiben Sie: "In vielen Gesellschaften steht die humane Größe der je eigenen Kultur im Widerspruch zu der Stupidität jener, die sie am lautesten vertreten." Warum kann der Orient seinen Stärken heute nicht weltweit mehr Anerkennung verschaffen und flüchtet sich stattdessen gerne in die Opferrolle?
Kermani: Zunächst muss gesagt werden, dass dies viele Gesellschaften praktizieren, nicht nur der Orient. Gerade Deutschland ist immer stark darin gewesen, sich als Opfer der Geschichte darzustellen. Oder denken Sie an Samuel Huntingtons These vom "Clash of Civilizations": Auf beiden Seiten, im Westen wie im Orient wähnt man sich in einem Konflikt, in dem der andere jeweils der Angreifer ist. Was den Orient betrifft, muss man nicht besonders selbstmitleidig sein, um festzustellen, dass man im Augenblick tatsächlich in allen Bereichen unterlegen ist: Man ist militärisch chancenlos, wie im Irak bewiesen und zuvor schon vielfach im Konflikt mit Israel; politisch werden fast alle Regime vom Westen dominiert und westliche Kultur bis hin zur Pornographie strömt auf rasante Weise ein. So entsteht das Bild: Allerorten werden wir vom Westen, also von Christen, unterstützt durch Israel, angegriffen. Da wird auch der Tschetschenienkrieg, Somalia, Kaschmir und was weiß ich noch alles schnell zum Bestandteil im flächendeckenden Angriffskrieg des Westens gegen die Muslime, so wie hierzulande jeder Gewaltakt, der von Muslimen begangen wird, oft genug als Teil des Kampfes gedeutet wird, den der Islam gegenden Westen führe. Dass es die Amerikaner waren, die den bosnischen Muslimen letztlich beigesprungen sind, das hat kurzfristig eine Irritation des Feind-Freund-Bildes herbeigeführt, ist aber sehr schnell wieder überlagert worden durch die Art und Weise, insbesondere durch die Rhetorik, wie die Bush-Regierung den Kampf gegen den Terrorismus führt, und wie sie vor allem die extremistischste Regierung in der Geschichte des Staates Israel unterstützt.
Gibt es demokratische islamische Staaten?
"Blätter": Behindert diese Selbstwahrnehmung als primär passives Objekt der Geschichte auch die erforderlichen demokratischen Reformen? Anders gefragt: Warum gibt es immer noch keinen demokratischen islamischen Staat?
Kermani: Wenn man den europäischen Standard von Demokratie anlegt, wobei man derzeit Italien wohl ausschließen und auch die Vereinigten Staaten sehr, sehr zurückhaltend bewerten müsste, dann findet man außerhalb der kapitalistischen Wohlstandsinseln, einschließlich jener im Fernen Osten, keinerlei funktionierenden Demokratien, die diesem Maßstab entsprechen. Es gibt allerdings demokratische Entwicklungen, wie beispielsweise in Brasilien, aber auch in der islamischen Welt, zum Beispiel in Indonesien oder in der Türkei oder im Iran, wo eine breite gesellschaftliche Strömung für Demokratie vorhanden ist. In diesem Sinne verläuft die demokratische Linie nicht zwischen Islam und restlicher Welt, sondern viel eher zwischen der Ersten Welt und der so genannten Zweiten, Dritten und Vierten Welt, wo Demokratien zwar an vielen Orten auf dem Vormarsch sind, aber eben noch nicht auf europäischem Niveau. Kurzum, lediglich am europäischen Maßstab gemessen, gibt es also keine Demokratien in der islamischen Welt. In besonderer Weise problematisch ist die Situation in der arabischen Welt, mit der Ausnahme vielleicht vom Libanon. Die Ursachen liegen sicher nicht nur in der falschen Politik des Westens, sondern zuallererst in dem Scheitern demokratischer Bestrebungen und in den Geisteshaltungen innerhalb der arabischen Welt selbst.
"Blätter": Welche Rolle spielt hier der von Ihnen beschriebene Opfermythos?
Kermani: Natürlich hängt die Ablehnung des Westens mit dem ewigen Erinnern an die eigene, vergangene Größe und der dramatischen Erfahrung zweier Niederlagen zusammen. Einerseits die historische Niederlage im Kolonialismus, wo man als vermeintliche Großmacht, die man dem bis ins Mittelalter reichenden kulturellen Gedächtnis nach war, den Barbaren, also Europa, plötzlich hoffnungslos unterlegen war. Das hat sich als historisches Schlüsselereignis festgesetzt und ist durch die Niederlage gegen Israel im Sechstagekrieg von 1967 noch einmal wiederholt worden. Dadurch wurde allen Hoffnungen auf eine eigene arabische Moderne der Garaus gemacht; vor allem den Versuchen von Nasser, aber auch der Baath-Partei, säkulare Modelle zu entwickeln, in denen die arabische Welt bestehen können sollte. Auf das Scheitern folgte der Fundamentalismus. In weiten Teilen der arabischen Welt ist deshalb eine breite zivilgesellschaftliche Bewegung, vergleich-bar jener in der Türkei, im Iran oder in Indonesien, nicht zu beobachten - und wenn, dann äußert sie sich eben religiös. Denn auch im Fundamentalismus können durchaus zivilgesellschaftliche Ansätze entstehen; allerdings nicht nicht vergleichbar mit der Entwicklung der Türkei hin zu einer wirklichen Säkularisierung. Die Probleme sind hingegen immens - wie zuletzt die UNDP-Studie1 präzise beschreibt: der soziale Absturz der Mittelklassen, das Problem der Bildung, die nicht ausgeweitet wird, sondern immer mehr zurückgeht. Die Bildungssituation in den arabischen Ländern, speziell in Ägypten, ist eine einzige Katastrophe. Autoritäre und patriarchale Strukturen spielen eine große Rolle, vor allem das Militär. Insofern gibt die innere Verfassung der arabischen Welt nur wenig Anlass zu der Hoffnung, dass sich von selbst etwas tief Greifendes entwickeln könnte. Insofern teile ich nicht Tariq Alis Auffassung, dass man die arabische Welt nur sich selbst überlassen sollte.
"Blätter": Muss man sich ohne westliche Interventionen für die nächsten zehn bis 20 Jahre also auf die Verfestigung des Status quo einrichten?
Kermani: Nicht ganz. Es gibt ja Ansätze einer Verbesserung, die aus der veränderten Öffentlichkeit folgen. Das ganze Segment der Informationsbeschaffung und -verbreitung ist längst nicht mehr so monopolisiert wie noch vor einigen Jahren. Insofern haben Al Dschasira und seine Nachfolgesender mit ihrer Debattenkultur und ihrer kritischen Berichterstattung mehr zur demokratischen Entwicklung beigetragen als die gesamte Politik des Westens in den vergangenen 30 Jahren. Dennoch sollte der Westen Druck ausüben für zivilgesellschaftliche Veränderung, insbesondere auf Regime wie Syrien, Jordanien, Ägypten oder Marokko.
Im Falle Ägyptens schaut der Westen jedoch tatenlos zu und unterstützt sogar noch Mubaraks Politik der letzten Jahre, die gezielt den zivilgesellschaftlichen Einfluss zurückschraubt. Tausende, wahrscheinlich sogar zehntausende Menschen, die in Opposition zum Regime standen, wurden unter dem Vorwurf des Islamismus und des Staatsumsturzes bekämpft und ins Gefängnis geworfen. Ägypten ist heute, was Strukturen der Zivilgesellschaft angeht, sicher rückständiger als noch vor ein oder zwei Jahrzehnten.
"Blätter": Die Amerikaner proklamieren im Irak ja gerade eine Art Dominotheorie: der Irak als großes Vorbild für die Demokratisierung im ganzen Nahen Osten. Glauben Sie, dass das wirklich so funktionieren kann?
Kermani: Ein demokratisierter Irak hätte zweifellos Auswirkungen auf Iran, auf Jordanien und viele andere Länder. Die Frage ist nur: Wie fällt der erste Stein? Wenn es den Amerikanern nicht gelingt, eine stabile, halbwegs demokratische Nachkriegsordnung zu errichten, dürfte dieser Dominoeffekt gerade nicht eintritt - obwohl er nicht auszuschließen ist, speziell im Fall Iran. Dort wurde die Irakkrise sehr ambivalent aufgenommen. Die Konservativen nutzen sie, indem sie sagen: Wir müssen zusammenstehen. So unterbinden sie Kritik. Aber auch die Reformkräfte versuchen zu profitieren, indem sie postulieren: Wenn wir uns nicht verändern, dann wird uns das geschehen, was Saddam Hussein geschehen ist. Man kann also den Druck auf andere Staaten nicht abstreiten. Auch in dieser Hinsicht ist die Drohkulisse keineswegs nur schlecht. Eine ernsthafte, unter ganz eng umrissenen Umständen auch militärische Drohung, kann viel Positives bewirken. Entscheidend ist das konkrete Vorgehen. Wenn von vornherein klar ist, dass es nicht darum geht zu drohen, sondern nur zu bekriegen, wenn also von vornherein klar ist, dass es gar keinen Spielraum gibt für eine mögliche Veränderung der Politik, sondern das Land ohnehin überfallen wird, dann verhindert man, dass diese Regime sich aus sich selbst heraus verändern. Wenn man also die Diplomatie völlig beiseite lässt und nur auf militärische Mittel setzt, dann wird der Dominoeffekt vielleicht eintreten, aber leider in die andere Richtung, nämlich als Kampf gegen den Westen.
Islamisten an die Macht?
"Blätter": Im Iran ist ja mittlerweile eine neue Generation herangewachsen, die die Errungenschaften der islamischen Revolution ablehnt. Glauben Sie, dass dort am ehesten die Chance besteht, das Regime zu überwinden?
Kermani: Der Iran ist ein sehr eigener Fall. Erstens, weil er die Erfahrung einer vollständigen religiösen Ideologisierung durchgemacht hat. In anderen Ländern existiert das Phantasma eines islamischen Staates immer noch, weil es niemals angewendet worden ist. Aber der Iran hat das erlebt, und der ausgeübte Druck führte zu einer rasanten Modernisierung und Säkularisierung der iranischen Gesellschaft. Im Iran ist die Verbreiterung einer gewissen Intellektualität von kleinen Eliten auf die Gesellschaft insgesamt im Gange. Das gibt Anlass zur Hoffnung, weil tatsächlich die Gesellschaft dabei ist, sich von unten zu demokratisieren und demokratisierende Mechanismen zu entwickeln. Die Gesellschaft ist also zunehmend unten fortschrittlicher als oben, an der Staatsspitze, so dass spätestens mit dem Abtreten der jetzigen Generation konservativer Führer die Demokratisierung massiv voranschreiten dürfte.
"Blätter": Heißt das, man sollte aus dem Beispiel Iran die Konsequenz ziehen, die Islamisten überall an die Macht zu lassen, damit sie sich verbrauchen und wieder an gesellschaftlicher Basis verlieren?
Kermani: Das wäre eine ziemlich zynische Schlussfolgerung, weil das Regime viele Menschen im Iran das Leben gekostet hat und auch ökonomisch katastrophal war. Man sollte die islamische Bewegung aber in der Tat in das politische System einbinden. Wo das in der arabischen Welt geschehen ist, zeigen sich eher positive Folgen, vor allem in Jordanien, in der Türkei, auch in Marokko. Oft waren sie nur kurz eingebunden und sind dann rasch abgewählt worden bzw. konnten keine Mehrheit mehr erringen. In allen Fällen hat die Einbindung zu einer deutlichen Mäßigung der Positionen geführt. Das gegenteilige Vorgehen im Falle Algeriens hat dagegen zu einer Radikalisierung und zum Tod Tausender Menschen geführt.
"Blätter": Einzubinden hieße dann also auch, die Islamisten an die Macht zu lassen, wenn sie, wie in Algerien, einen Wahlsieg erreichen.
Kermani: Wenn ein Staat demokratisch verfasst wäre, wäre die islamische Bewegung ein Teil dessen. Demokratien, selbst unsere europäischen, sind allerdings nicht dagegen gefeit, gekapert zu werden von undemokratischen Kräften - wie man in Italien sieht oder an der Art und Weise, wie Bush jr. an die Macht gekommen ist und wie er die Macht vor allem auch medial nutzt. Das ist ein Risiko der Demokratie. Als Alternative jedoch keine Demokratie zuzulassen, ist ungleich gefährlicher als dieses Risiko einzugehen und zu versuchen, gewisse Mechanismen einzubauen, die einen solchen Missbrauch verhindern. Wenn man die Entwicklung der islamistischen Bewegung in den letzten Jahren sieht, erkennt man, dass sich der Hauptstrom in den letzten zehn Jahre verbürgerlicht hat, den Marsch durch die Institutionen angetreten und der Gewalt entsagt hat. Das ganze Phänomen Al Qaida ist letztlich eine Reaktion darauf, dass die radikale islamistische Strömung rapide an Zulauf verloren hat.
"Blätter": Kann man Al Qaida mit der RAF vergleichen, im Hinblick auf dieses Radikalisierungsmoment, das einsetzt, wenn die eigentliche Bewegung schon abebbt?
Kermani: Ganz eindeutig, das ist nicht erst seit dem 11. September zu sehen. Man erkennt dies ja schon daran, woher der Großteil der Rädelsführer kommt, nämlich aus Ägypten. Hier haben die Terroristen spätestens nach dem Anschlag in Luxor auf breiter Ebene verloren. Seither tendiert die Akzeptanz in der Bevölkerung gegen Null mit der Folge, dass der weitaus größere Teil der islamistischen Bewegung zwar nicht von der Vision eines islamischen Staates abgelassen, aber sich integriert hat und heute am lautesten die Forderung nach Demokratisierung erhebt.
"Blätter": Ist das nicht nur taktisch gemeint?
Kermani: Sicherlich ist es zum Teil taktisch gemeint. Die Türkei ist dafür ein gutes Beispiel. Natürlich gibt es unter den Leuten Erdogans solche, die ein bloß taktisches Verhältnis zur Demokratie haben. Wenn jedoch ein bestimmter Weg eingeschlagen ist, entwickelt dieser seine eigene Dynamik. Die Schriften und das Gedankengut von Denkern aus der islamistischen Bewegung wandeln sich, bestimmte radikale Optionen werden nicht mehr gedacht. Ein theokratisches Modell wie der Iran bietet keine Lösung mehr. Im Iran selbst ist ein Prozess im Gange, der zwar noch nicht so weit fortgeschritten ist wie in der Türkei, aber er kommt voran. Es geht nicht darum, von heute auf morgen eine Demokratie auszurufen und zu sagen, wer gewählt wird, der wird halt gewählt! Demokratie bedarf eines bestimmten Prozesses. Am dessen Ende wäre die Gesellschaft auch in der Lage, das islamische Potential in ein säkulares Staatswesen zu integrieren.
"Blätter": Warum sind die islamistischen Strömungen überhaupt erfolgreich?
Kermani: Weil sie erstens ein Vokabular anbieten zur Lösung realer sozialer und politischer Probleme, das noch nicht verbraucht ist, das zum Zweiten zutiefst aus der eigenen Gesellschaft zu stammen, also nicht importiert zu sein scheint wie das kommunistische, sozialistische oder liberale Vokabular. Faktisch geht es um politische und soziale Vorgänge, die aber in einem arabisch-religiösen Vokabular ausgedrückt werden. Man darf nicht - wie so häufig - den sozialen Faktor übersehen, dass alle islamistischen Strömungen zutiefst in der Gesellschaft verankert sind, vor allem auch durch ihre Wohlfahrtseinrichtungen. In Ägypten hat das beispielsweise dazu geführt, dass die Gesellschaft gar nicht mehr funktionieren könnte ohne das Netz an Wohlfahrtseinrichtungen der islamistischen Bewegung. Dies zeigte sich nach dem Erdbeben Anfang der 90er Jahre in Kairo, wo der Staat völlig versagte und die gesamte Versorgung fast ausschließlich über islamistische Organisationen funktionierte. Hinzu kommt: Wenn die Menschen den Eindruck bekommen, dass sie als Muslime angegriffen sind, sich ihr Widerstand natürlich auch in einem islamischen Vokabular definiert. Islamismus ist insofern ein Mitbringsel der Globalisierung, als in dem Maße, in dem sich Gesellschaften globalisieren, sich der Blick auf das eigene Vokabular, die eigenen Ressourcen fokussiert. Das ist ein weltweites Phänomen, das sich in der islamischen Welt in einer religiös-islamischen Weise äußert, auch stärker und besorgniserregender als in anderen Teilen der Welt.
Es ist ja nicht ganz Amerika verdummt
In Amerika äußert es sich als religiös fundierter Patriotismus, in Europa als Populismus. Aber nicht nur in der islamischen Welt ist dieser Trend Besorgnis erregend. In Indien sind zuletzt schlimme Massaker an Muslimen passiert, die von einem staatlichen Hindu-Extremismus beflügelt, teilweise auch direkt und offen unterstützt wurden. All das wiegt sicherlich schwerer als der Rechtspopulismus in Europa. Es ist leicht nachvollziehbar, dass in den Teilen der Welt, wo die Arbeitslosenquote über 30 % liegt, ohne Zukunftsaussichten, wo man vollkommen dominiert ist von einer fremden Kultur, politisch, kulturell und ökonomisch - dass dort der Anteil von Menschen, die für einfache Lösungen plädieren, größer ist als in so hoch entwickelten und immer noch sehr wohlhabenden Gesellschaften wie Europa oder den Vereinigten Staaten.
"Blätter": Warum sind scheinbar gerade die USA nicht in der Lage, sich in diese Situation hineinzuversetzen?
Kermani: Es ist ja nicht so, dass das gesamte Amerika verdummt ist. Die besten Informationen, die besten Think Tanks, die besten Experten, das beste Wissen über verschiedene Konflikte gibt es immer noch in den Vereinigten Staaten. Das Problem ist nur, dass dieses Wissen selten durchdringt zu den politischen Entscheidern oder sich zumindest selten in politischen Entscheidungen niederschlägt. Offensichtlich fällt es den meisten Amerikanern schwer, sich in die nicht-amerikanische Sicht der Welt hineinzuversetzen, ob in die arabische oder in die europäische. Das ist ein Problem: dass die Amerikaner offensichtlich nicht begreifen können, warum der Rest der Welt ihre Außenpolitik so extrem kritisch sieht und sich nicht von ihnen zivilisieren lassen möchte. Die Konfliktlinie verläuft ja nicht zwischen der arabischen Welt und Amerika, sondern zwischen Amerika und dem Rest der Welt. Und das hat sich deutlich verstärkt mit der jetzigen Regierung unter einem Präsidenten, der vor seinem Amtsantritt nur einmal im Ausland war und auch nie einen Hehl aus seinem Desinteresse gemacht hat. Bush interessierte sich bis zum
11. September demonstrativ für Amerika, nicht für den Rest der Welt.
"Blätter": Bei aller berechtigten Kritik an der Ignoranz der Bush-Adminis-tration sieht es trotzdem so aus, als hätten jene geirrt, die vor einem Flächenbrand im Nahen Osten durch den Irakkrieg gewarnt haben. War das bloße Lust an der Apokalypse oder steckte dahinter auch berechtigte Angst?
Kermani: Ich habe einen solchen Alarmismus nie recht ernst nehmen können. Es war klar, dass nicht alle Staaten kurz vor der Explosion stehen - was es im Übrigen nicht besser macht. Manchmal wünscht man sich geradezu eine Explosion, weil der Status quo so schlecht ist. Teil des Problems ist die Passivität der gesellschaftlichen Bewegung in der arabischen Welt. Ich bin also nicht davon ausgegegangen, dass nächste Woche der Sturz aller arabischer Regierungen bevorsteht - samt Aufstand der Fundamentalisten und deren Machtübernahme. Aber mittelfristig kann die Fortsetzung dieser US-Politik zur weiteren Akzeptanz radikaler Ideen führen. Dann würde eine nicht mehr vorhersehbare Entwicklung in Gang gesetzt. Das muss nicht katastrophal verlaufen, könnte aber, wenn man sich beispielsweise die Wirkungen eines Angriffs auf den Iran auf Nachbarstaaten wie Ägypten oder Jordanien vorstellt.
"Blätter": Da im Sinne der US-Administration der Krieg doch ziemlich "reibungslos" verlaufen ist: Stehen als Nächstes der Iran und Syrien auf der Tagesordnung?
Kermani: Fast alles hängt tatsächlich davon ab, wie die amerikanische Politik nach dem militärischen Sieg weitergeht. Wenn die Amerikaner weitere Länder angreifen, befinden sich bald die umliegenden Länder im "Krieg". Dann werden bestimmte Regime massiv unter Druck geraten. Dieser Angriff muss nicht einmal im Sinne einer Invasion gedacht werden. Ich halte ohnehin eine Invasion im Iran im Augenblick für nicht sehr realistisch. Aber man kann sich ja Druck auch anders vorstellen. Geschähe mit dem Iran das, was mit dem Irak in den vergangenen zwölf Jahren geschehen ist, würde dies das Land destabilisieren und zu Gegenreaktionen führen. Bei Syrien ist das ähnlich. Es ist also keineswegs so, dass die gegenwärtige amerikanische Politik nur mit militärischen Mitteln problematisch ist, sondern sie könnte auch in anderer Form ähnlich katastrophale Wirkung zeigen. Ich glaube in der Tat, wenn die USA über den Irakkrieg hinaus ihre Politik in dieser Art fortsetzen, erwächst uns ein Konflikt, der uns vermutlich so lange begleiten wird wie der Kalte Krieg. Sicherlich in anderer Form, aber genauso tief greifend und genauso schwer wieder aufzulösen. Ein solcher Konflikt wäre für den Westen sogar noch viel ungemütlicher, weil er unsere Gesellschaft viel direkter betrifft, in Fragen der Sicherheit, des Terrorismus, der Einwanderung, aber auch der Grund- und Bürgerrechte. Das Problem des Terrorismus zieht auch unsere europäischen Rechtsmaßstäbe und Toleranzvorstellungen stark in Mitleidenschaft. Wir werden sehen, dass wir auch in Europa auf relativ dünnem Eis stehen, wenn hier zwei, drei Attentate in schneller Folge geschehen. Und leider kann ich mir kaum eine geeignetere Methode vorstellen, den Terrorismus zu einem langfristigen Problem zu machen, als die gegenwärtige amerikanische Politik.
"Blätter": Worüber wir bisher nur am Rande gesprochen haben, ist Israel. Das Palästina-Problem gilt als Schlüsselproblem für Nahost. Vielleicht könnte dessen Lösung tatsächlich als Katalysator oder Dominostein zur Lösung der anderen Konflikte dienen?
Kermani: Dem steht vor allem ein Tatbestand im Wege: Seit dem Amtsantritt von Bush besitzt Israel eine Freikarte für alles, was es tun will, obwohl in Israel ein Ministerpräsident an der Macht ist, der ungleich radikaler ist als alle seine Vorgänger. Ich glaube aber, dass diese Politik sich ändern könnte, auch und gerade aus israelischem Interesse. Andernfalls läuft die Fortsetzung der derzeitigen Politik in den nächsten zehn Jahren auf eine vollkommene Ghettoisierung Israels hinaus. Die Sicherheitslage wird in Israel damit noch viel weniger beherrschbar sein als sie es jetzt schon ist.
Natürlich lösen sich mit dem Palästina-Konflikt nicht alle anderen Konflikte gleich mit. Das Problem der Demokratisierung der arabischen Welt wäre nach wie vor da, auch wenn sich dieser Konflikt löst. Denkt man die Dominotheorie aber weiter, hätte ein demokratisches Palästina in der Tat enorme Auswirkungen auf die arabische Welt. Deshalb wird es von der arabischen Welt gerade nicht gewollt. Die arabischen Staaten haben Palästina ja niemals wirklich unterstützt, eben weil die palästinensische Gesellschaft weit demokratischer verfasst ist als die anderen arabischen Gesellschaften, schon aufgrund der zivilgesellschaftlichen Strukturen, die sich im Widerstand herausgebildet haben. Das geht bis zu der Art und Weise, in der Frauen in das politische System integriert sind, arabische Christen und viele andere mehr. An derartigen Reformen haben die arabischen Autokratien kein Interesse.
"Blätter": Trotzdem, bleiben wir beim Dominospiel. Was wären die Folgen der Lösung des Palästinaproblems?
Kermani: Dafür hilft ein Blick in die Vergangenheit. Allein die wenigen Jahre, in denen sich Clinton ernsthaft engagiert hat, hatten erhebliche Auswirkungen. Natürlich war das ungenügend und ist gescheitert, da hat Barak seine Spiele getrieben und Arafat ist darauf hereingefallen. Aber schon in dieser Zeit, verbunden mit dem Engagement der Vereinigten Staaten in Bosnien, haben sich bestimmte Wahrnehmungsmuster auf arabischer Seite enthärtet, aufgelöst oder waren zumindest nicht mehr so eindeutig. Wenn eine Lösung gefunden würde für diesen Konflikt, könnte dies den Prozess der arabischen Demokratisierung rapide beschleunigen. Wenn die internationale Gemeinschaft den Druck, den sie auf arabische Diktatoren zum Teil zu Recht ausübt, auch auf Israel ausübte, dann wäre die Akzeptanz für den Druck auf arabische Diktatoren natürlich sehr viel größer als im Augenblick. Es würde die politischen Konflikte zwar nicht von einem Tag auf den anderen lösen, aber die mentale Verfasstheit radikal umgestalten.
Das Gespräch führte Martin Reeh, die Textbearbeitung besorgten Albrecht von Lucke und Margund Zetzmann.

1 Vgl. Rudolph Chimelli, Der arabische Weg. Modernisierungsrückstände und Perspektiven einer Region, in: "Blätter", 3/2003, S. 307-313. - D. Red.