Siege auf Parteitagen sind zweifellos wichtig für die politische Präsentation in der medialen Öffentlichkeit. Nur ist diese Öffentlichkeit nicht zu verwechseln mit der gesellschaftlichen Realität
... zumal dann nicht, wenn diese von Niederlagen und Scheitern zeugt. Genau das ist der Fall: Die Arbeitslosigkeit erreicht Monat für Monat historische Höchststände, die nur noch von denen in der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre übertroffen werden.
Im Mai 2003 meldeten sich 4,42 Millionen Menschen offiziell arbeitslos, fast eine halbe Million (475.000) mehr als ein Jahr zuvor. Der geringe Rückgang gegenüber dem Vormonat (-75.000) zeigt, dass die saisonbereinigten Arbeitslosigkeit kontinuierlich ansteigt.
Es hätte noch düsterer ausgesehen, wenn im Mai nicht 300.000 ältere Arbeitslose aus der Nürnberger Statistik herausgefallen wären - Arbeitslose ab 58 Jahre, die nicht mehr vermittelbar sind und bis zum Rentenbeginn Arbeitslosengeld beziehen. Gleichzeitig halten alle Parteien die Verlängerung der Lebensarbeitszeit für unabdingbar - welch ein Zynismus! Mehr noch: Durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe im Rahmen der so genannten Hartz IV-Gesetze werden voraussichtlich bis zu 700.000 BezieherInnen von Lohnersatzleistungen aus dem Leistungsbezug herausfallen (weil sie die Bedürftigkeitskriterien der Sozialhilfe nicht erfüllen). Hinzu kommen erhebliche statistische "Bereinigungen" in Folge der Verkürzung des Arbeitslosengeld-Bezugs und verschärfter Zumutbarkeit. Auf diesem Weg wird die statistisch ausgewiesene Arbeitslosigkeit irgendwann sinken; fragt sich nur, ob das die Realität dann noch abbildet.
Die Bundesanstalt für Arbeit schätzt den Rückgang der Erwerbstätigkeit in diesem Jahr auf 270.000 (IAB-Kurzbericht Nr. 5 v. 7.5.2003) - eine optimistische Annahme. Bei einem Wirtschaftswachstum von 0,5% erwarten die wirtschaftswissenschaftlichen Institute in ihrem jüngsten Frühjahrsgutachten "eine kräftige Abnahme der Erwerbstätigkeit um rund 380.000 Personen im Jahresdurchschnitt" - Arbeitsplätze, die wegrationalisiert, wegen fehlender Nachfrage "eingespart" oder konkursbedingt "wegfallen" (DIW-Wochenbericht 16/2003).
Zu diesem Zeitpunkt wollten der VW-Manager Peter Hartz und seine Kommission, die dem Kanzler im Herbst 2002 halfen, die Wahl auf den letzten Metern noch zu gewinnen, die Arbeitslosigkeit bereits kräftig verringert haben. Stillschweigend wurde dieses Ziel von der Bundesregierung längst kassiert. Statt 780.000 Arbeitslose in drei Jahren über Leiharbeit in den Ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln, geht Gersters Behörde für das erste Jahr nur noch von 50.000 aus. Die Wirtschaftsinstitute halten selbst das für "ehrgeizig" und sehen "erhebliche Verdrängungseffekte", wenn die Einkommen der LeiharbeitnehmerInnen deutlich unter denen der Stammbelegschaften liegen. Gleiches gilt für die Wunderwaffe Niedriglohnsektor. Auch hier dürfte es selbst nach Meinung der strikt angebotsorientierten Institute zu "erheblichen Substitutions- und Verdrängungseffekten kommen. So dürften vielfach die bisherigen 325-Euro-Jobs lediglich in 400-Euro-Jobs umgewandelt werden. Im Entlohnungsbereich zwischen 400 und 800 Euro könnte der Beschäftigungsanstieg sogar komplett durch einen Abbau von Teilzeit- und Vollzeitarbeitsplätzen neutralisiert werden." Und das Un-Wort des Jahres mag kaum noch einer hören: Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) erwartet von der Ich-AG nicht mehr als eine "Förderung von Kümmerexistenzen, Schulden und Pleiten".
Aber die negative Wirkung der so genannten Hartz-Gesetze geht noch über Verdrängungseffekte hinaus. Im jüngsten Wochenbericht (20/2003) kommt der Konjunkturexperte des DIW, Gustav Horn, zu dem Ergebnis, dass gegenwärtig deutlich negativere Beschäftigungseffekte zu registrieren sind als in früheren Krisen- oder Stagnationsphasen mit vergleichbaren Wachstumsraten. Er führt dies auf einen doppelten Effekt zurück. Erstens auf die Flexibilisierungsstrategien: "Für die Reduzierung der bezahlten Arbeitsstunden dürften die mittlerweile erheblich flexibleren Beschäftigungsformen wie Arbeitszeitkonten, geringfügige Beschäftigungsverhältnisse und befristete Arbeitsverträge verantwortlich sein, die eine raschere Anpassung der Beschäftigung an die konjunkturelle Lage ermöglichen." Und zweitens: "Damit verbunden ist dann auch eine schnellere Einkommenssenkung beim Auftreten konjunktureller Schwächephasen." Die fortschreitende Flexibilisierung der Arbeit hat sowohl beschäftigungs- wie nachfrageseitig prozyklische Effekte. Der seit dem Sommer 2000 das ökonomische Leben paralysierende "neue Typus nachfragebedingter Stagnation" (Horn) wird verlängert.
Dass unter Rot-Grün die Arbeitslosigkeit Kohl-Rekorde bricht, ist nicht zuletzt selbstverschuldet. Das erst Anfang 2002 in Kraft getretenen Job-Aqtiv-Gesetz wurde ebenso wenig in Anspruch genommen wie das "Kapital für Arbeit"-Programm (Job-Floater) aus dem November - zwei Maßnahmen, die mit propagandistischen Fafarenstößen angekündigt und dann schnell der Vergessenheit anheim gestellt wurden. Ähnlich wird es wohl "Jump plus" ergehen: 300 Millionen Euro für die Betreuung arbeitsloser Jugendlicher und für Fallpauschalen im Rahmen kommunaler Eingliederungsmaßnahmen. Angesichts der Ausbildungskatastrophe (im April waren 325.700 Bewerber um einen Ausbildungsplatz unversorgt) werden Placebos verabreicht, die arbeitsmarktpolitisches Therapieren vortäuschen sollen.
Unter Rot-Grün wird die registrierte Arbeitslosigkeit von 1999 bis 2004 um 400.000 steigen; in diesem Zeitraum werden die Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik um 435.000 abgebaut (im Osten um 356.000, im Westen um 79.000). Nicht, dass am Zweiten Arbeitsmarkt nichts zu verbessern wäre; Gewerkschaften und politische Linke haben umfangreiche Alternativkonzeptionen vorgelegt. Doch auch hier steuert die Bundesregierung auf Krisenkurs: Sie spart auf Kosten der Arbeitslosen den Binnenmarkt kaputt, um dann im nächsten Schritt erneute Sozialkürzungen wegen sinkender Steuereinnahmen als das non plus ultra moderner Regierungskunst zu verkünden.
Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass die vermeintliche "Starrheit" der Arbeitsmärkte und höhere Sozialstaatskosten wesentliche Ursachen anhaltend hoher Massenarbeitslosigkeit seien. Umgekehrt: Indem die beschäftigungs- und nachfragepolitische Stabilisatoren zunehmend geschwächt werden, führt die Politik immer tiefer in die Krise hinein.