NATO: Einer für alle oder alle für einen?

Im November 2002 wird der Prager NATO-Gipfel über die nächste Erweiterung der Organisation entscheiden. Zehn Länder haben sich beworben, und alles sieht nach einem "Big Bang" aus. ...

... Vermutlich werden nur die instabilen Kandidaten Mazedonien und Albanien, möglicherweise auch Kroatien, das Nachsehen haben. Es ist davon auszugehen, dass die baltischen Staaten, Slowenien, die Slowakei, Bulgarien und Rumänien so genannte Einladungen erhalten. Während 1990 der damalige US-Außenminister Moskau zugesichert hatte, dass die NATO sich nicht über Ostdeutschland hinaus ausdehnen werde, und die erste Erweiterungsrunde vor allem in Russland Widerstand hervorrief, wird der bevorstehende Mitgliederzuwachs als fait accompli ohne ernsthafte Bündnisdebatte behandelt. Nicht Russlands Psychosen, die Nationalismen in Südosteuropa oder die sicherheitspolitischen Ambitionen der EU sind derzeit das beherrschende Thema, sondern die Frage, ob es zum eigenen Vorteil gereicht, in einer Pax Americana zu leben. Die künftige Rolle der NATO und die Effekte der Erweiterung sind zum Unterthema der Debatte geworden.

Putins Lernfähigkeit

Vor der ersten Erweiterung hatten sich Kritiker noch vor den fahrenden NATOZug geworfen. Sie warnten vor den Gefahren einer nationalistischen oder pro-chinesischen Wende Russlands, vor der Erosion der NATO, einem Ende der Rüstungskontrolle einschließlich nuklearer Abrüstung sowie der Vertagung einer europäischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik. Die Prophezeiungen trafen durchaus zu. Die Pessimisten (darunter auch ich) hatten jedoch Putins Lernfähigkeit unter-, vor allem aber die Bedeutung von Kohäsion und Egalitarismus in der NATO überschätzt. Zähneknirschend hat sich Russland in seinen Status als begrenzte Regionalmacht gefügt, den gekränkten Widerstand gegen die NATO-Erweiterung und den US-Unilateralismus aufgegeben und stattdessen den eigenen Vorteil beim "Anti-Terror-Krieg" erkannt. Für die beispiellose Freigabe seines zentralasiatischen Hinterlandes erhält Moskau zum Ausgleich einen neuen "Russland-Nordatlantik- Rat". Dieser soll nun, im Unterschied zum seinerzeit hochgelobten, aber belanglosen "NATO-Russland-Rat", eine qualifizierte Mitsprache in den Bereichen Anti-Terrorismus, Krisenmanage- ment, Nicht-Weiterverbreitung, Rüstungskontrolle, taktische Raketen, Seenotdienst, zivile Katastrophen und Militärzusammenarbeit ermöglichen. Spätestens seit dem 11. September 2001 hat Putin erkannt, dass Einfluss auf einige Politikbereiche mehr zählt als Fundamentalopposition. Ob die neue NATORussland- Freundschaft den Test im bevorstehenden Irak-Krieg überlebt - immerhin würde er in den Kernbereich der vereinbarten "konsensualen" Kooperation fallen - bleibt allerdings nüchtern abzuwarten. Die osteuropäischen Eliten wollen derweil einer NATO beitreten, die bleibt, was sie historisch immer war - ein Mittel, die Russen draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten zu halten. Sie sehen im NATO-Beitritt eine Überwindung von "Jalta", eine symbolische Westbindung angesichts langwieriger EU-Anwartschaften und den Import von Sicherheit. Da die NATO ihren Widerpart Anfang der 90er Jahre verloren hatte, kamen ihr die osteuropäischen Erwartungen als Ausweg aus der eigenen Sinnkrise sehr zupass. Vollmundig erbot sich die Allianz, Osteuropa in den Westen "zurückzuholen", die Demokratie zu fördern, die zivil-militärischen Beziehungen zu verbessern, Minderheitenkonflikte und Grenzstreitigkeiten zu regeln sowie Sicherheit für Investoren zu gewährleisten. Leistungen, die sie zuvor noch nie erbracht hatte. Die NATO, so hieß es weiter, würde die Osteuropäer von einer teuren nationalen Verteidigung entlasten und sogar dazu beitragen, die Russland-Phobien zu überwinden. Unter derartigen Versprechungen wurden Polen, die tschechische Republik und Ungarn vor drei Jahren in die Organisation aufgenommen. Tatsächlich aber hat die NATO den Kandidaten umfangreiche und kostspielige Hausaufgaben gestellt. Sie betreffen die Interoperabilität, Zuwachsraten der Militärausgaben, den Erwerb NATO-kompatiblerBewaffnung,die Infrastruktur und Logistik für Bünd- nisoperationen, den Ausbau von Flughäfen, interne Befehlsabläufe und nicht zuletzt Geheimhaltungsvorschriften. Gleichzeitig fehlt es jedoch an nachvollziehbaren Bedrohungsanalysen, die belegen, warum und in welchem Umfang man derartige Militärinvestitionen benötigt, um die ein Exportwettbewerb vornehmlich westlicher Anbieter entbrannt ist.

Teure Mitgliedschaft

Die NATO-Mitgliedschaft ist also teuer, und zwar auf lange Zeit. Sie bindet Mittel zu Gunsten von Logistik und Personal für den Aufbau von NATO-Strukturen und bewirkt, dass in den jeweiligen Ländern notwendige Investitionen in den Bereichen der inneren Sicherheit, des Aufbaus wirksamer Grenzregime und dem Katastrophenschutz ausbleiben. Sie führt zur Umwidmung knapper Ressourcen zu Gunsten von NATOPrioritäten, entzieht sie somit der notwendigen wirtschaftlichen und sozialen Modernisierung der Beitrittskandidaten, und ignoriert dabei die Tatsache, dass es kein fundamentales osteuropäisches Sicherheitsproblem mehr gibt. Die ökonomische Leistungs(un)fähigkeit ist das eigentliche Problem. Die NATO-Erweiterung konnte also die Grunderwartung eines kostengünstigen Imports von Sicherheit nicht erfüllen. Eine Lösung für die hausgemachten Sicherheitsgefahren wie illegale Grenztransfers, das organisierte Verbrechen, ökologische Bedrohungen und Konflikte mit ethnischen Minderheiten bietet die NATO-Integration den Anwärtern nicht. Eine regionale sicherheitspolitische Zusammenarbeit gibt es kaum - wie etwa das Baltikum zeigt - und wird eher pro forma abgehandelt, um den Weg in das Bündnis zu ebnen. Zwischen einer Sicherheitspolitik, die sich an identifizierbaren Gefährdungen orientiert, und den Zwängen der Integration entsteht ein Widerspruch, und angesichts fehlender Bedrohungen hat die NATO-Anwartschaft in erster Linie Sozialisationseffekte. Eine große und schnelle Erweiterungsrunde wird weitere Nebeneffekte haben. Zweifellos gewinnen mit zunehmender Größe die bilateralen Beziehungen an Gewicht. Die Erweiterung wird die Sicherheitspolitik in Osteuropa nationaler Kontrolle entziehen, da der Legitimationskontext von der Innenpolitik auf Großmachtinteressen verlagert wird. Schließlich können sich die finanzschwachen osteuropäischen Militärs nicht gleichzeitig Beiträge zur NATO und zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik leisten. Allerdings mag in einigen Fällen auch der militärische Reformdruck und die Aufgabenlast der "Mitglieder-Aktions- Pläne" nachlassen. Erst einmal Mitglied, kann man sich zurücklehnen - Ungarn und die tschechische Republik haben dies bereits illustriert.

Die NATO als Reservoir

Der 11. September 2001 hat jedoch einen Sinneswandel bewirkt. Die zuvor noch auf russische "Restgefahren" eingeschworenen NATO-Anwärter mussten sich schleunigst auf die Rhetorik des Anti-Terror-Kampfes umstellen. Entscheidender ist aber, dass sich in der Bush-Administration eine Sicht globaler militärischer Arbeitsteilung durchgesetzt hat, die die NATO instrumentell als Reservoir von ad hoc-Bündnissen begreift. Wie der Afghanistankrieg und die Vorbereitung auf den Irakkrieg belegen, wollen die USA auch ohne Rücksicht auf Alliierte und bestehende Verträge Kriege - sogar präventiv - führen können. Kriege, die als "gerecht" gelten, sofern sie dem amerikanischen Ethos dienen - nicht aber, weil NATOGremien oder der UN-Sicherheitsrat sie gutheißen oder das Völkerrecht sie erlaubt. Die Allianz kann deshalb erweitert werden, selbst wenn ihre militärische Effizienz als kollektiver Akteur darunter leidet. Aber: Überlebt die Allianz die euro-atlantischen und innereuropäischen Gegensätze, die mit der Ausweitung zunehmen? Die NATO-Logistik ist für europäische Nachkriegsprotektorate und außer-europäische Interventionen unabdingbar - am Hindukusch, im Nahen Osten und irgendwann im Kaukasus oder am Kaspischen Meer. Selbst die USA benötigen die Flughäfen, Nachschubbasen, Überflugrechte und die Geheimdienstkooperation der Mitgliedsländer. Die NATO ist darüber hinaus die einzige Organisation, mittels derer die USA Europa zu Wohlverhalten und Lastenteilung nach militärischen Operationen verpflichten können, unbeschadet der Abneigung gegenüber "wars by committee". Umgekehrt bleibt die NATO für die Europäer das einzige Forum, durch das die USA zu Konsultationen aufgefordert werden können. Solange Europa keine eigene Sicherheits- und Verteidigungspolitik entwickelt, verkörpert die Allianz jenes Gremium, das den Goliath wenigstens potentiell "einbinden" kann. Zudem behält die US-Militärübermacht ihren gewohnten Vorteil für die Westeuropäer, die eigenen Rüstungsausgaben im Vergleich zu den USA niedrig halten zu können. Der "europäische Pfeiler", die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), wird der out of area-NATO deshalb keine Konkurrenz machen. GASP und ESVP werden sich voraussichtlich auf Prävention und das Management von Nachkriegsprotektoraten in Europa beschränken, Regelungen für die erweiterte EU-Ostgrenze suchen sowie hin und wieder im Nahen Osten gute Dienste anbieten. Akademische Schulen sind seit langem über die Logik der Allianz zerstritten. Neorealisten prophezeiten in den 90er Jahren das Ende der NATO - ohne greifbare Gefahr habe sie ihren Zweck erfüllt. Institutionalisten sahen dagegen in der Kooperation und Selbstbindung der Mitglieder einen Zweck an sich. Konstruktivisten wiederum erhoben die NATO zu einer Sicherheitsgemeinschaft gleichgesinnter Demokraten, zu einer Wertegemeinschaft. Die wohletablierten akademischen Sichtweisen übersahen wohl einiges. "Einfluss" ist für die Außenpolitik großer und mittlerer Mächte ein Zweck an sich - warum hätte die NATO ohne Not als Mittel der Einflussnahme zu Gunsten möglicher Konkurrenten, etwa der OSZE, preisgegeben werden sollen? Zudem suchen sich etablierte formale Bündnisse schon aus Eigeninteresse neue Zwecke. Dafür brauchen und erfinden sie konstante und elementare Bedrohungen. Dass der deklarierte Krieg gegen den Terror nicht auf einer klaren Definition der kollektiven Bedrohung, gemeinsamer Interessen und der Mittel zu ihrer Bekämpfung, geschweige denn der Angemessenheit der NATO für diese asymmetrische Bedrohung basiert, ist für den Selbsterhalt der Organisation nebensächlich. Die Brisanz liegt nun in der Frage, ob die Europäer - die Osteuropäer eingeschlossen - sich die entgrenzten Bedrohungsbilder der USA zueigen machen und sich dem militärischen "roll back" von Schurkenregimen anschließen oder an der kontinentaleuropäischen Präferenz für Kriegsprävention und der führenden Rolle der UNO festhalten wollen. Die alten Muster der Großmachtfixierung lassen vermuten, dass die Ost-Erweiterung nicht das europäische, sondern das amerikanische Gewicht in der NATO stärken wird. Polen gilt bereits als "trojanisches Pferd" der USA in der NATO und die baltischen Staaten, Rumänien und Bulgarien dürften mitziehen. Der amerikanische Druck auf Deutschland, einen Irakkrieg gutzuheißen, könnte den Osteuropäern einen Vorgeschmack darauf geben, welches Gewicht ihre Stimme in der NATO haben wird.

erschienen in Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2002