Kündigungsschutz unter Druck

Über die (fehlende) Notwendigkeit einer Reform des Kündigungsschutzgesetzes

Am 1. Januar 2004 traten zahlreiche Gesetzesänderungen im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts in Kraft. Dem gingen intensive Debatten voraus, in denen, so kontrovers sie auch geführt wurden, die AkteurInnen von Bundestag und Bundesrat sich in einem Punkt einig waren: "Wir werden das Arbeits- und Sozialrecht in den Bereichen reformieren, in denen sich im Laufe der Jahre Beschäftigungshemmnisse entwickelt haben." Mit diesem Satz aus seiner "Agenda-Rede" vom 14. März 2003 leitete Bundeskanzler Schröder die nachfolgende Deregulierungsdebatte ein, in deren Zuge auch das Kündigungsschutzgesetz (KSchG) teilweise ein neues (altes!) Gesicht bekam. Allerdings sind die politischen AkteurInnen bislang handfeste empirische Belege für die beschäftigungshemmende Wirkung des Kündigungsschutzes schuldig geblieben.

Geschichte des KSchG
Das KSchG hatte von seinem Inkrafttreten 1951 bis zu den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts keine besonders bewegte Geschichte. Zu seiner Einführung unter einer konservativen Regierung Adenauer war es noch umkämpft. In der Weimarer Republik war der Kündigungsschutz noch im Betriebsrätegesetz verankert und setzte die Existenz eines Betriebsrates voraus. Durch das KSchG sollte der Schutz vor willkürlicher Entlassung auf eine breitere Basis gestellt werden. Gerade die SPD-Fraktion im deutschen Bundestag wollte das Gesetz bereits in Betrieben mit drei Beschäftigten gelten lassen, was wiederum die Liberalen auf den Plan rief. Letztendlich kam es zu dem Kompromiss, das Gesetze ab mehr als fünf Beschäftigten greifen zu lassen. Zum ersten mal ins Zentrum der politischen Deregulierungsdebatte geriet das KSchG Mitte der 90er Jahre, als die Kohl-Regierung 1996 den Schwellenwert für die Anwendbarkeit des KSchG auf zehn Beschäftigte anhob und die betriebsbedingte Kündigung stark vereinfachte. Nach dem rot-grünen Wahlsieg wurde das KSchG ab 1. Januar 1999 wieder auf den alten Stand gebracht.

Inhalt und Praxis des deutschen Kündigungsschutzes
Der Begriff "Kündigungsschutzgesetz" ist letztlich missverständlich. Denn es "schützt" nicht grundsätzlich vor Kündigungen. Wie jedes Dauerschuldverhältnis im deutschen Recht ist natürlich auch das Arbeitsverhältnis einseitig kündbar. Aufgrund der besonderen sozialen Bedeutung des Arbeitsverhältnisses auf der Beschäftigtenseite wird aber durch das KSchG ein Schutz vor willkürlicher Kündigung geschaffen. Es stellt damit einen Gegenentwurf zum so genannten "hire and fire"-System dar. ArbeitgeberInnen sollen lediglich in sachlich begründeten Fällen rechtswirksam kündigen können. Außerdem gilt dieses Gesetz nicht für alle. Zum einen muss das betreffende Arbeitsverhältnis länger als ein halbes Jahr bestehen und zum anderen müssen im Betrieb eine Mindestanzahl an ArbeitnehmerInnen beschäftigt sein. Diese Mindestanzahl ist, wie bereits erwähnt, schon Inhalt von Reformen des KSchG gewesen und war es auch im aktuellen Fall.
Tragende Säule des KSchG ist das Bestandsschutzprinzip, welches im Gegensatz zu einem Abfindungsrecht steht. Denn die im Gesetz vorgesehene Rechtsfolge eines Kündigungsschutzverfahrens ist an sich die Weiterbeschäftigung auf dem selben Arbeitsplatz. Tatsache ist jedoch, dass - sofern es überhaupt zum Kündigungsschutzverfahren kommt - nur wenige Verfahren diesen Ausgang nehmen. Der Grund dafür liegt natürlich darin, dass Gegenstand dieser Verfahren zerrüttete Arbeitsverhältnisse sind und auch auf Beschäftigtenseite nur ein geringes Bedürfnis besteht, auf den alten Arbeitsplatz zurückzukehren. In der Praxis lässt sich aber beobachten, dass diese mögliche Rechtsfolge auf Seiten des/der ArbeitgeberIn die Bereitschaft zum Abschluss sogenannter Abfindungsvergleiche erhöht, auch wenn die Möglichkeit des Obsiegens nicht unwahrscheinlich erscheint.
Die Formulierungen im Gesetz sind so offen gehalten und derart gespickt mit unbestimmten Rechtsbegriffen, dass mittlerweile eine umfassende Rechtsprechung zu allen drei Kündigungsgründen existiert, welche die Praxis des Kündigungsschutzes entscheidend geprägt hat und den Ausgang von Kündigungsschutzverfahren nur schwer prognostizierbar macht. Auch dies ist wohl ein Grund für die durchaus vorhandene Bereitschaft auf Seiten des/der ArbeitgeberIn, in Abfindungsvergleiche einzuwilligen.
Das Gesetz bedient sich einer Dreiteilung der Kündigungsgründe in die verhaltens-, die personen- und die betriebsbedingte Kündigung. Während die ersten beiden Kündigungsgründe, die sich auf vertragswidriges Verhalten oder persönliche Umstände (Krankheit etc.) des/der ArbeitnehmerIn beziehen, in die Risikosphäre der Beschäftigten fallen, ermöglicht die betriebsbedingte Kündigung dem/der ArbeitgeberIn die Kündigung für Sachverhalte, die allein in seinen/ihren Verantwortungsbereich fallen. Schließlich haben es nicht die Beschäftigten in der Hand, ob Aufträge ausbleiben oder der/die ArbeitgeberIn sich entschließt, eine Fertigungslinie und die damit verbundenen Arbeitsplätze aufzugeben. Die betriebsbedingte Kündigung ist also das arbeitsrechtliche Instrument zur Durchsetzung ökonomischer Anpassungsprozesse.
Und gerade weil dies Gründe sind, die nicht in die Sphäre der Beschäftigten fallen, soll es dem/der ArbeitgeberIn auch nicht freigestellt sein, ob und wer gekündigt werden soll. Vielmehr müssen anderweitige Beschäftigungsmöglichkeiten der zu kündigenden Beschäftigten ausgeschöpft sein. Wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, muss unter den Beschäftigten eine Sozialauswahl getroffen werden, um die am wenigsten sozial schutzwürdigen Personen ausfindig zu machen. Gerade die betriebsbedingte Kündigung war neben der Diskussion um den Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes seit den 1990er Jahren Gegenstand von Reformbemühungen und ist es auch heute bei der aktuellen Debatte.

Inhalte der aktuellen Reform des KSchG
Die jetzige Reform ist letztlich nur ein Neuaufguss der von 1996 bis 1998 geltenden Rechtslage. Der Schwellenwert des KSchG, der den Anwendungsbereich des Gesetzes bestimmt, wurde wieder auf Betriebe mit mehr als zehn Beschäftigten heraufgesetzt. Bei betriebsbedingten Kündigungen muss der Arbeitgeber bei einer etwaigen Sozialauswahl in Zukunft nur vier im Gesetz genannte Kriterien berücksichtigen: Lebensalter, Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderteneigenschaft. Diese Kriterien mussten zwar zum Teil auch zuvor zwingend berücksichtigt werden, jedoch hatte die Aufzählung früher keinen abschließenden Charakter. Schließlich können ArbeitgeberIn und Betriebsrat bei betriebsbedingten Kündigungen Namenslisten der zu kündigenden Beschäftigten erstellen. Dies wird die Erfolgschancen der Kündigungsschutzklagen der Beschäftigten drastisch reduzieren, denn anders als bei einer ohne Namensliste ausgesprochenen Kündigung besteht die gesetzliche Vermutung, dass der Namensliste eine "gerechte" Sozialauswahl zu Grunde liegt. Das Arbeitsgericht prüft die Sozialauswahl dann nur noch im Hinblick auf eine grobe Fehlerhaftigkeit, während bisher auch einfache Verstöße berücksichtigt wurden.
Im Unterschied zur Reform von 1996 sollte bei der aktuellen Neuregelung jedoch nicht in den Bestand laufender Arbeitsverhältnisse eingegriffen werden. Hierfür wurde eine Übergangsregelung geschaffen, wonach in Betrieben zwischen sechs und zehn Beschäftigten das Gesetz nur auf solche Arbeitsverhältnisse Anwendung findet, die nach dem 1. Januar 2004 geschlossen wurden. Tatsächliche nennenswerte Auswirkungen auf die Praxis des Kündigungsschutzrechts wird allenfalls die Möglichkeit der Namenslisten nach sich ziehen. Da Betriebsräte allerdings eher in Großbetrieben vorkommen, wird diese Möglichkeit in Kleinbetrieben, d.h. solchen mit bis zu 50 Beschäftigten, wohl kaum genutzt werden. In den Großbetrieben bleibt abzuwarten, wie oft sich Betriebsräte auf einen solchen "Kuhhandel" einlassen werden. Alles in Allem sind von dieser Reform keine bedeutsamen Auswirkungen zu erwarten, zumal das das KSchG tragende Bestandsschutzprinzip unangetastet geblieben ist.
Die Debatte um die Deregulierung des KSchG ist damit aber noch nicht verstummt. Die jüngsten Präsidien-Beschlüsse von CDU/CSU legen nahe, dass bei einem Machtwechsel im Jahre 2006 das KSchG wohl erneut zur Schlachtbank getragen werden soll. Die CDU/CSU ist in die abgelaufenen Verhandlungen im Bundesrat noch mit einem Schwellenwert von 20 Beschäftigten gegangen. Was das quantitativ bedeutet, wird deutlich, wenn man diese Zahl mit den aktuellen Betriebs- und Beschäftigtenzahlen abgleicht. 91% der Betriebe würden nicht mehr unter den Kündigungsschutz fallen. Dies betrifft neun von insgesamt ca. 27 Mio. Personen, die in der Bundesrepublik sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Wohin die (Deregulierungs-)Reise noch gehen kann wird deutlich, wenn man sich die Bemerkungen etwa des Direktors des Wirtschaftsforschungsinstitutes IFO, Hans-Werner Sinn, ansieht: Er äußerte, dass man doch gänzlich auf das KSchG verzichten könne.

Das KSchG als Beschäftigungshindernis?
Mittlerweile gehört es sowohl in der Politik als auch in den Wirtschafts- oder Rechtswissenschaften zum nicht hinterfragten Mainstream, dem aktuellen KSchG eine beschäftigungshemmende Wirkung zuzuschreiben. Dem entsprechend soll eine Deregulierung des Gesetzes auch einen entsprechenden positiven Arbeitsmarkteffekt erzielen können. Dies will erst einmal nicht einleuchten. Warum soll die Erleichterung von Kündigungen, also die Erleichterung beim Abbau von Beschäftigung, deren Aufbau fördern? Die Argumentation lautet durchweg, dass ArbeitgeberInnen aufgrund der Schwierigkeiten bei der Entlassung von Beschäftigten bzw. ihrer negativen Erfahrungen, vor Einstellungen zurückschreckten.
Nun könnte man erwarten, dass die Deregulierungs-Befürworter mit entsprechenden empirischen Belegen für diese Behauptung aufwarten können. Dem ist jedoch mitnichten so. Dies verwundert an sich nicht, da die Fragestellung, unter welchen Bedingungen zusätzliche Neueinstellungen vorgenommen werden, äußerst komplexer Natur ist. Grob gesprochen geht es darum, was einen oder eine ArbeitgeberIn dazu bewegt, eben solche zusätzlichen Stellen zu schaffen und was letztlich den Ausschlag für oder gegen eine Einstellung gibt. Dabei spielen einerseits rein ökonomische Betrachtungen eine Rolle. Dies sind z.B. die wirtschaftliche Lage des Unternehmens oder die Zukunftsprognosen hinsichtlich der Auftragslage. Weiterhin werden organisationstheoretische Erwägungen von erheblicher Bedeutung sein. So muss ein/e ökonomische/r EntscheidungsträgerIn sich im Klaren darüber werden, ob ein gestiegenes Auftragsvolumen mit internen (z.B. Überstunden) oder externen (z.B. Neueinstellungen) Flexibilisierungsmaßnahmen bewältigt werden soll. Das Kündigungsschutzrecht kann, wenn in ihm überhaupt ein relevanter Faktor gesehen wird, nur einer von mehreren sein. Diesen Anteil an der Entscheidung zu fassen und dann auch bezogen auf mögliche Arbeitsplätze zu quantifizieren, ist im Hinblick auf die Empirieforschung enorm schwierig.
Ein jüngstes Beispiel dafür, wie man es besser nicht macht, lieferte eine vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit in Auftrag gegebene und von dem Meinungsforschungsinstitut Forsa im März 2003 durchgeführte Umfrage unter 1001 Betrieben mit ein bis fünf Beschäftigten. Danach sollen durch Anhebung des Schwellenwertes rund 300.000 neue Stellen möglich sein - in welchem Zeitraum wird allerdings nicht gesagt, auch nicht, wie die Anzahl der Einstellungen errechnet wird, die Kleinstunternehmen mit bis zu fünf Beschäftigten vornehmen würden. Gegen die Validität dieser Befragung gibt es erhebliche Einwände. So wird bei der Interpretation der Ergebnisse außer Acht gelassen, dass die Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage die unbedingte und unumgängliche Voraussetzung für Neueinstellungen ist. Die Forsa-Fragen richteten sich nicht auf eine empirisch nachprüfbare konkrete personalpolitische Praxis, sondern lediglich auf Einstellungsabsichten. Zuverlässige Aussagen über das tatsächliche Verhalten von Kleinstbetrieben lassen sich auf Grundlage dieser Daten jedenfalls nicht treffen. Damit sind die Befunde von Forsa eher als das Ergebnis einer Meinungsumfrage zu bewerten, in der die politische Einstellung der Kleinstbetriebe zum Kündigungsschutz erhoben wurde.

Die deutsche Debatte unter der empirischen Lupe
Internationale Studien haben vielmehr gezeigt, dass eine eindeutig negative Wirkung der Rigidität von Kündigungsschutzregeln auf das Beschäftigungsniveau auch im internationalen Vergleich nicht nachweisbar ist.1 Sie kommen allerdings auch zu dem Ergebnis, dass die Beschäftigungsschwelle in der Bundesrepublik im Vergleich relativ hoch ist. Das bedeutet, dass es hierzulande länger dauert, bis sich ein wirtschaftlicher Aufschwung in Beschäftigungszuwächsen niederschlägt. In Zeiten wirtschaftlichen Abschwungs dauert es jedoch auch länger, bis Beschäftigung abgebaut wird. Ob das KSchG hierfür eine Ursache ist, lässt sich anhand dieser Daten aber nicht sagen. Vielmehr greifen deutsche ArbeitgeberInnen in wirtschaftlichen Schwankungsphasen offenbar bevorzugt auf Mittel interner Flexibilisierung (Arbeitszeitausweitungen/-einschränkungen, Qualifizierung von Beschäftigten etc.) anstelle von Mitteln externer Flexibilisierung (Einstellungen, Leiharbeit, Outsourcing etc.) zurück. Die Ursachen hierfür sind auch auf Grund dieser Studien nicht klar.
Der Frage, ob das KSchG beschäftigungshemmende Wirkungen haben kann, ist also nicht auf dem Wege von Meinungsumfragen ohne gleichzeitige Beleuchtung der tatsächlichen Einstellungspraxis beizukommen. Auch internationale Studien helfen hier nur bedingt. Jedenfalls spielt ein rigides Arbeitsrecht für das Beschäftigungsniveau eines Landes offenbar keine Rolle.
All das wird in der Bundesrepublik bei der aktuellen Debatte um die Reform des Kündigungsschutzes weitgehend ignoriert. Gerade aus der Rechtswissenschaft tönen immer wieder dieselben Stimmen und behaupten, der deutsche Kündigungsschutz sei teuer, da die ArbeitgeberInnen in häufigen und teuren Kündigungsschutzprozessen in Abfindungsvergleiche getrieben würden, die ihre Existenz bedrohten. Angesichts dieser Probleme würden sich Kleinstbetriebe hüten, in den Anwendungsbereich des KSchG "hineinzuwachsen" und vermieden tunlichst die Einstellung des/der 11. Beschäftigten. Wie sieht es aber mit Belegen hierzu aus?

Klagequoten sind gering
In der Bundesrepublik sind Studien zu diesem Thema rar gesät. Die letzte Studie, die sich mit der Kündigungspraxis und dem Kündigungsschutz beschäftigte, stammt aus dem Jahre 1981 (!).2 Aus dem Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung kommen in Zusammenarbeit mit Infratest Sozialforschung zwei repräsentative Studien jüngeren Datums. Die eine beleuchtet die Beendigung von Arbeitsverhältnissen durch Befragung von 2000 repräsentativ ausgewählten Beschäftigten näher3, die andere beschäftigt sich mit der Personalpolitik 2000 repräsentativ ausgewählter Unternehmen.4 Alle aufgezählten Studien zeichnen ein anderes als das behauptete Bild von der Praxis des Kündigungsschutzrechtes.
Hiernach gehen zwischen 11 und 15 % der gekündigten Beschäftigten im Wege einer Kündigungsschutzklage gegen eine arbeitgerberseitige Kündigung vor.5 Zahlen von 25 %, die von anderer Seite herausgegeben wurden,6 beruhen auf einer fehlerhafter Berechnung der Anzahl von Kündigungen durch Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Es wurden statt 2 nur 1 Mio. Kündigungen zu Grunde gelegt und dann die Quote aus den Angaben der Arbeitsgerichte über die Anzahl der jährlichen Kündigungsschutzklagen errechnet.7 Mit letzteren Zahlen lässt sich schon eher eine Politik der Deregulierung rechtfertigen als mit den erstgenannten. Letztlich bleibt jedoch festzuhalten: Kündigungsschutzprozesse sind bei weitem nicht die Regel.

Kosten halten sich in Grenzen
Sie sind auch nicht besonders teuer. Lediglich 15 % aller befragten Beschäftigten, die ihren Arbeitsplatz durch Kündigung des Arbeitgebers/der Arbeitgeberin verloren haben, erhielten eine Abfindung. Allerdings erhöht sich die Chance, eine Abfindung zu erhalten, enorm, wenn die betroffene Person gegen die Kündigung klagt. Hier erhalten dann 48 % eine Abfindung. Das verwundert allerdings nicht sonderlich. Selbstredend kommen oftmals gerade die besonders konfliktgeladenen Fälle vor das Arbeitsgericht.
Auch die Höhe der Abfindungen halt sich in Grenzen. Die juristischen PraktikerInnen gehen immer von der Faustformel aus, wonach eine Kündigungsabfindung ein halbes Bruttomonatsentgelt pro Beschäftigungsjahr beträgt. Die Beendigungsbefragung des WSI hat jedoch ergeben, dass die tatsächliche Praxis hiervon abweicht. Müsste man, um ein Monatsgehalt als Abfindung zu erhalten, rechnerisch zwei Jahre beschäftigt sein, so weist die Studie eine Dauer von 3,8 Beschäftigungsjahren hierfür aus. Um eine Abfindung in Höhe von zwei bis drei Monatsgehältern zu erhalten bedarf, es sogar einer Beschäftigungszeit von durchschnittlich 11 Jahren. Der oben genannten Faustformel nähert man sich erst ab einer Beschäftigungszeit von 24 Jahren (d.h. 12 und mehr Monatsgehälter). Außerdem ist deutlich geworden, dass gerade in kleineren Betrieben seltener Abfindungen gezahlt werden.8 Angesichts dieser Befunde muss also eher von einem Kostenrisiko denn von einer tatsächlichen Kostenbelastung gesprochen werden.

Wissensdefizite bei ArbeitgeberInnen
Wie sieht es aus mit der Reaktion der ArbeitgeberInnen auf diese "unhaltbaren" Zustände? Auch hier lassen sich erstaunliche Befunde finden. So wurden im Rahmen der WSI-Befragung zur betrieblichen Personalpolitik die Personalverantwortlichen gefragt, ob ihr Betrieb unter den Anwendungsbereich des KSchG fällt (zum Befragungszeitpunkt lag der Schwellenwert noch bei fünf Beschäftigten). 64 % der Befragten in der Betriebsgrößenklasse zwischen einem/einer und fünf Beschäftigten gingen fälschlicherweise davon aus, dass das KSchG für ihren Betrieb gelte. Immerhin 14 % aus der Größenklasse sechs bis neun Beschäftigte glaubten, es gelte für sie nicht.9 Da stellt sich die Frage, wozu eigentlich der Schwellenwert zum Nachteil der Beschäftigten geändert werden soll, wenn diejenigen, die darauf mit Einstellungen reagieren sollen, von der betreffenden Regelung gar keine Ahnung haben. Folgerichtig lässt sich so etwas auch nicht an dem Einstellungsverhalten der Beriebe unterhalb der Schwelle ablesen. Es unterscheidet sich eben gerade nicht besonders von dem der Betriebe oberhalb der Schwelle.10
Halten wir also fest: Kündigungsschutzprozesse sind eher die Ausnahme als die Regel. Abfindungen sind ebenfalls eher selten und fallen zudem meist nicht exorbitant hoch aus. Von einer rationalen Reaktion der Personalverantwortlichen kann schon aufgrund dieser Ergebnisse nicht ausgegangen werden, fehlt es ihnen doch zumeist an tatsächlichen Erfahrungen. Aber damit nicht genug: Gerade in den Kleinbetrieben herrscht offenbar massive Unkenntnis über das deutsche Kündigungsrecht. Die Unternehmen scheinen davon auszugehen, dass das KSchG immer gilt. Dementsprechend unterscheidet sich ihr Einstellungsverhalten dies- und jenseits der Anwendungsschwelle nicht.

Anekdoten statt Belege
Die Behauptungen über die Praxis des Kündigungsschutzes bestätigen sich also nicht. Wer jedoch mit dem Argument der Beschäftigungsförderung die Deregulierung des KSchG rechtfertigen will, trägt für dieses Argument auch die Beweislast. Wenn es aber an solchen Belegen fehlt, woher nehmen die EntscheidungsträgerInnen dann diese Gewissheit und worin soll dann der Grund für eine Reform liegen, die ArbeitnehmerInnen-Rechte beschneidet?
Es drängt sich eher der Verdacht auf, dass das neoliberale Trommelfeuer der letzten 20 Jahre seine Spuren hinterlassen hat. Deregulierung ist zum Dogma geworden, wer es hinterfragt steht im Abseits. Empirische Belege werden nicht mehr verlangt. Man bedient sich lieber der anekdotischen Evidenz. Denn natürlich hat jede/jeder schon mal von jemandem gehört, der oder die von jemandem gehört hat, der unendlich hohe Abfindungen zahlen musste, die guten MitarbeiterInnen entlassen und die "faulen" behalten musste, auf gar keinen Fall eine zusätzliche Einstellung vorgenommen hat, weil "man die ja nie mehr los wird". Natürlich ist es legitim, darüber zu diskutieren, ob ein Gesetz geändert werden sollte, wenn seine vorgesehene Rechtsfolge (Weiterbeschäftigung) in der Praxis einem "Abfindungspoker" gewichen ist. Dann sollte aber die Diskussion auch aufgrund handfester Erkenntnisse geführt werden. Und wer glaubt, mit einer Änderung des Kündigungsschutzes Arbeitsplätze zu schaffen, wird sich auf eine Enttäuschung gefasst machen müssen.

Martin Kimmich ist Doktorand im Forschungsprojekt "Regulierung des Arbeitsmarktes" (REGAM) des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung.

Literatur:
Pfarr/Bothfeld/Kaiser/Kimmich/Peuker/Ullmann, REGAM-Studie: Die Einschätzung der Geltung des Kündigungsschutzgesetzes in den Kleinbetrieben, in: Betriebsberater (BB) 2003, 2061 ff.
dies., REGAM-Studie: Hat der Kündigungsschutz eine prohibitive Wirkung auf das Einstellungsverhalten der kleinen Betriebe?, in: Betriebsberater (BB) 2003, 2286 ff.
dies., REGAM-Studie: Die Kündigungs-, Klage- und Abfindungspraxis in den Betrieben, in: Betriebsberater (BB) 2004, 106 ff.

Anmerkungen
1 Truger / Hein, "Schlusslicht Deutschland": Resultat institutioneller Verkrustung?, in: Wirtschaftsdienst 8/2003, 509. OECD, Employment Outlook 1999.
2 Falke / Höland / Rhode / Zimmermann, Kündigungspraxis und Kündigungsschutz in der Bundesrepublik Deutschland, 1981.
3 Bielenski / Hartmann / Pfarr / Seifert, Die Beendigung von Arbeitsverhältnissen - Wahrnehmung und Wirklichkeit, in: Arbeit und Recht 2003, 81 ff.
4 WSI-Befragung zur betrieblichen Personalpolitik (2003). Die Ergebnisse sind teilweise bereits veröffentlicht, vgl. Pfarr / u.a. BB 2003, 2061 ff.; 2286 ff.; 2622 ff.; BB 2004, 106 ff..
5 Bielenski / u.a. Arbeit und Recht 2003, 81, 87. Pfarr / u.a. BB 2004, 106.
6 Vgl. Jahn / Schnabel, Bestandsschutz durch Abfindung: Höhere Rechtsicherheit und Effizienz, in: Wirtschaftsdienst 2003, 219. Die Autorin und der Autor sind Mitarbeiter des Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit.
7 Vgl. Bielenski, Wie viele Arbeitgeberkündigungen gibt es in Deutschland? Ein Vergleich von Daten aus unterschiedlichen Quellen, unveröffentlichtes Manuskript, Infratest Sozialforschung 2003.
8 Pfarr / u.a. BB 2004, 108.
9 Pfarr / u.a. BB 2003, 2061 f.
10 vgl. Pfarr / u.a. BB 2003, 2288.