EMPIRE.

Die neue Weltordnung

Rezension zu: Michael Hardt, Antonio Negri: EMPIRE. Die neue Weltordnung, Campus Verlag Frankfurt/ New York 2002, 462 S. ( 34,90 EUR)

›Empire‹ definieren die Autoren das "politische Subjekt, das den globalen Austausch reguliert, die souveräne Macht, welche die Welt regiert". "Mit dem globalen Markt und mit globalen Produktionsabläufen entstand eine globale Ordnung, eine neue Logik und Struktur der Herrschaft - kurz, eine neue Form der Souveränität." (S. 9) Damit grenzen sie sich prinzipiell von Konzepten ab, die Globalisierung auf die Vollendung des kapitalistischen Weltmarkts reduzieren. Die fundamentale Neuheit imperialer Herrschaft erklären Hardt/ Negri aus drei grundlegenden Veränderungen - der Globalisierung selbst, der Veränderung der Produktionsweise und der Veränderung der tätigen Subjekte. So haben wir es hier mit einer komplexen Gesellschaftsanalyse und Epochenkritik zu tun. Schließlich fragen die Autoren nach dem Widerstand der Beherrschten, nach Alternativen zum ›Empire‹. Sie wollen zeigen, wie die grundlegenden Wandlungen der letzten Jahrzehnte parallel und in gegenseitiger Beeinflussung verlaufen. Teil I analysiert die gegenwärtige politische Konstitution und führt tragende Begriffe ein. Teil II und III untersuchen die Herausbildung des Kapitalismus und den Übergang von seiner industrieökonomisch-fordistisch-nationalstaatlichen Form zur informationsökonomisch-toyotisch-globalisierten Form. Dies wird auch als Übergang von der Moderne zur Postmoderne bezeichnet. Damit geben die Autoren beiden Begriffen einen eigenen, noch diskussionsbedürftigen Inhalt. In Teil II werden die Passagen der Souveränität und in Teil III die der Produktion dargestellt. Teil IV ist dem Untergang und Fall des Empire, dem ›Gegen- Empire‹ gewidmet.

Bestimmende Übergänge sind die der Weltordnung insgesamt: Sie geht über vom Imperialismus zum Empire; auf rechtlichem Gebiet wird das internationale Recht überwölbt vom supranationalen, Macht wandelt sich von Disziplinarmacht zur Kontrollmacht, das Ordnungsprinzip der Hierarchie wird verdrängt durch Netzwerke, das Ontologische tendiert von Transzendenz und Dialektik zu Immanenz und Hybridität; Produktion geht über von der Industrialisierung zur Informatisierung und lebendige Arbeit wird vorrangig zu immaterieller Tätigkeit.

In allen diesen Übergängen decken die Autoren Gemeinsames auf: Räumliche und qualitative Grenzen werden jeweils überschritten und durchlässiger. Es entsteht Hybridität an Stelle von "reinen" Identitäten. Daß durch solche Übergänge eine neue Qualität der Herrschaft und Ausbeutung entsteht, wird zunächst am Beispiel der nationalstaatlichen Souveränität, des Imperialismus und des Kolonialismus dargelegt:

Kapitalistische Herrschaft bezieht sich anfänglich auf bestimmte Territorien. In diesem ›Raum‹ schafft die souveräne Macht Ordnungen, reguliert zunächst politisch die inneren ökonomischen und kulturellen Prozesse. Grenzziehungen, Innen-Außen-Beziehungen, Oben-Unten-Beziehungen sind dabei für die nationalstaatliche Souveränität bestimmend. Die Kapitalverwertung verlangt zugleich das Überschreiten solcher Grenzen, um Absatzmärkte, Rohstoffquellen, Kapitalanlage, koloniale Herrschaft zu sichern. Die Macht über andere Territorien ebenso wie die Kontrolle der Waren- und Kapitalströme werden allein mit nationalstaatlichen Mitteln realisiert. Im vorigen Jahrhundert ist die Kolonialherrschaft zusammengebrochen, es bildeten sich multinationale Konzerne und supranationale Regulationsorgane und global organisierte Produktionen heraus. Damit ist das Souveränitätsmonopol der Nationalstaaten gebrochen, Macht gewinnt eine gewisse ›Ort-Losigkeit‹. (Von aktuellster Bedeutung sind die Rolle der UNO und die der Hegemonialmacht USA.)

Analoge Grenzziehungen und Kontrollmechanismen wirken in der Industriegesellschaft innerhalb der Nationalstaaten - Familie, Fabrik, Gefängnis, Klinik (Foucault). Hier bildet sich die zweite Veränderungslinie, die der Produktionsweise: Im Zuge der Informatisierung und durch das neue Gewicht immaterieller Arbeiten werden Funktionen der Herrschaft und Kontrollmacht - Planung, Organisation, Wissenschaft, Kommunikation - immer stärker Bestandteil von Produktion. Die schon in Ansätzen vorhandene ›Biomacht‹ wird so perfektioniert - im Interesse des Kapitals und der Ausbeutung. Macht realisiert sich nicht primär als HobbesÂ’scher Leviathan, der über allen thront, sondern als ›Produktion‹ von Subjekten mit ihren Lebensbedürfnissen und Denkweisen gemäß den Kapitalverwertungsbedingungen. Vorrang immaterieller Arbeit und Biomacht bedeuten auch, daß Ökonomisches, Politisches und Kulturelles, Basis und Überbau sich fortschreitend durchdringen und tendenziell zusammenfallen.

In einer dritten Wirkungslinie verändern sich Verhalten der Arbeitenden, ihre Subjektivität, ihre Fähigkeiten, Bedürfnisse, Forderungen, historischen Potenzen. Hard/Negri verweisen insbesondere auf Mobilität und Flexibilität im weitesten Sinne und auf die Leitfiguren des Arbeiters. Im historischen Wandel dieser Leitbilder reflektieren sich alle anderen ›Passagen‹. In dem neuen Proletariat der ›gesellschaftlichen Arbeiter‹ wachsen die Potenzen heran, Biomacht schließlich im eigenen Interesse zu gestalten. Mit diesem Gedankengang ist der Begriff der ›Multitude‹ verbunden. Er ist wohl eher als ›Vielheit‹ zu übersetzen denn mit ›Menge‹. Die Autoren wollen sich von den Begriffen ›Volk‹ wie ›Masse‹ abgrenzen. Volk wurde von der Kontrollmacht gesetzt, dabei die Klassenwidersprüche überdeckend. Masse wird als Aggregat der von der Kontrollmacht genormten und überwachten Menschen gesehen. Die Multitude gewinnt mit der Globalisierung neue Möglichkeiten, ihr eigenes Begehren zu verwirklichen. "Das Biopolitische ist, vom Standpunkt des Begehrens aus betrachtet, nichts anderes als konkrete Produktion, menschliche Kollektivität in Aktion ... Von Begehren getragene Produktion ist Generation ... und die Akkumulation einer Macht, welche in die kollektive Bewegung singulärer Wesen einbezogen wird. ... In Wahrheit sind wir die Herren dieser Welt, weil unser Begehren und unsere Arbeit sie fortwährend neu erschaffen." (S. 394)

Damit haben Hardt/Negri ein defensives Verhalten zur Globalisierung überwunden. Sie wenden sich der Frage zu, welche neuen Möglichkeiten und Bedingungen für die Transformation der Gesellschaft mit dem ›Empire‹ entstehen - welche Subjekte in welchen Territorien mit welchen Formen und Graden der Organisiertheit können das Gegen-Empire schaffen? Lenin hatte MarxÂ’ Vorstellung von der Revolution in den fortgeschrittensten Ländern ›aufgehoben‹. So stellt sich nun die Frage nach den neuen Kampfformen aus der Theorie vom ›Empire‹ heraus. Sie wollen dabei keine konkreten Organisationsmodelle vorgeben (ist dies weise Zurückhaltung oder ein Defizit des Buches?). Sie umreißen vielmehr die Grundforderungen, auf die sich die Kämpfe richten - Recht auf Weltbürgerschaft, Recht auf sozialen Lohn (wie steht es um eine neue Werttheorie?), Recht auf Wiederaneignung. Erinnernd an Gramsci wird ihnen ›die Kontrolle über Sprache, Bedeutung und die Kommunikationsnetzwerke im politischen Kampf zu einer immer zentraleren Frage.‹ (S. 410)

Die Autoren waren bemüht, die großen gesellschaftskritischen Diskurse der letzten Jahrzehnte aufzunehmen. Hauptmangel dabei ist, daß oft verabsolutiert wird. Die empirisch belegte Differenzierung, die Darstellung, in welchen Weisen und Kräfteverhältnissen die gegensätzlichen Tendenzen ineinander verschachtelt sind, kommt zu kurz. In entscheidenden Abschnitten freilich gelingt dies - etwa im Abschnitt zur ›Pyramide der globalen Konstitution‹ (S. 320-324). Die herausragende Qualität des Buches liegt in dem komplexen, integrativen und offensiven Herangehen. Das löste bereits mit der englischen Ausgabe 2000 intensive Diskussionen aus. Einschätzungen reichen vom Verriß bis zu seiner Begrüßung als neues Paradigma und Manifest der Linken. ›Empire‹ sollte begriffen werden als Herausforderung zur kritischen Aneignung und weiteren Untersuchung auf vorgegebenem Niveau. Die RLS hat die Herausforderung aufgegriffen (http://www.rosaluxemburgstiftung.de/Einzel/ empire/Index.htm).

in: UTOPIE kreativ, H. 151 (Mai 2003), S. 472-474

aus dem Inhalt:

Gesellschaft: Analysen & Alternativen
CHRISTOPH BUTTERWEGGE Migrant(inn)en, multikulturelle Gesellschaft und Rechtsextremismus in den Massenmedien 395
RONALD LÖTZSCH Widersprüche in der bundesdeutschen Minderheitenpolitik 406
Geschichte & Politik

FRITZ VILMAR "... nur noch ein Haufen kalter Asche". Aufstieg und Zusammenbruch des Sozialismus. Was tun? 415
STEPHEN ERIC BRONNER "Was tun?" und Stalinismus 425 FRANK RICHTER Für eine Rekonstruktion des historischen Materialismus 435
STEPHAN WOHANKA Ist die Vergangenheit für die Gegenwart verantwortlich? Geschichte als Interpretation 446
Standorte

ANDREAS HEYER Politische Utopien der europäischen Neuzeit 456
ULRICH BUSCH Vergessene Utopien: Friedrich Nietzsches Vision vom Übermenschen 460