Rezension zu Karl Lauterbach: Der Zweiklassenstaat. Wie die Privilegierten Deutschland ruinieren, Rowohlt Berlin, 2007, 220 Seiten, 14,90 Euro
Eigentlich, aufgrund ihrer gemeinsamen Wurzeln und den daraus erwachsenden Interessen, verfolgen die beiden Parteien - Die Linke und die SPD - das gleiche Ziel. Darüber sollten auch die verbalen Attacken nicht hinwegtäuschen, die in jüngster Zeit öffentlich besonders heftig vorgetragen werden; zumal es nicht die beiden Organisationen in ihrer breiten Basis sind, die so vehement aneinandergeraten, sondern einzelne Wortführer, meist Funktionäre, die dasselbe Potential von Mitgliedern und Wählern für ihre unterschiedlichen politischen Strategien umwerben. Sachliche Auseinandersetzungen fallen dabei nicht nur persönlichen Diffamierungen, sondern auch billigen Pauschalisierungen zum Opfer, etwa wenn im Umfeld der Linken ganz allgemein von "der SPD" gesprochen wird.
Nun hat sich aus der SPD, wieder einmal, Karl Lauterbach zu Wort gemeldet - mit seinem Buch Der Zweiklassenstaat. Bemerkenswerter noch als das, was er sagt, ist, daß er es sagt und wie er das tut. Lauterbach, 1963 im nordrhein-westfälischen Düren geboren und in den USA ausgebildet, beabsichtigt keine abstrakte Analyse gesellschaftlicher Eigentumsverhältnisse, die stets Gefahr läuft, in die Dogmen des 20. Jahrhunderts abzurutschen. Er will - und zeigt das auch im Untertitel an - mitteilen, Wie die Privilegierten Deutschland ruinieren. Er, ein ausgewiesener Fachmann - Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomie und Epidemiologie an der Universität zu Köln und Professor an der Harvard School of Publik Health -, macht das sehr konkret. Denn er konzentriert sich auf einige ausgesuchte soziale Bereiche: Bildungswesen, Medizin, Rentenwesen
und Pflegedienste - und bietet statt theoretischer Luftschlösser verständliches Material samt internationaler Vergleiche.
Auch wenn auf manches nicht zum ersten Mal hingewiesen wird - vieles ist zutiefst beklemmend. Etwa die Statements von Ärzten im Internet-Forum www.facharzt.de: "Nur Faule und Dumme fordern die Einklassen-Gesellschaft" oder: "Es geht nicht an, daß sich zirka neunzig Prozent der Gesellschaft in der Armenkasse eingenistet haben und dort den Hintern nicht mehr hochkriegen, weil wir es ihnen so bequem gemacht haben" oder: "Nein, ich habe mit den heutigen ›Armen‹, mit dem ›Prekariat‹ keine Spur Mitleid. Die eigentliche Schande ist, daß unser Sozialstaat diese feiste Unterschicht erzeugt und unterhält." Gewiß, so denken und schreiben nicht "die Ärzte", aber doch einige. Lauterbach pauschalisiert hier keineswegs. Aber in ein bezeichnendes Licht werden die Veränderungen in der deutschen Gesellschaft während der vergangenen Jahrzehnte schon gerückt, nicht nur für ehemalige DDR-Bürger.
Auch wer sich bereits seit geraumer Zeit von Informationen über die desaströsen Zustände in unserem Bildungs- und Sozialwesen überhäuft fühlt, kann profitieren. Denn Lauterbach macht immer wieder die gesamtgesellschaftlichen Bezüge deutlich - nicht nur wenn er im Bildungssystem "die Wiege des Zweiklassenstaates" erkennt: "Unser Bildungssystem hat die falsche Produktpalette für die Globalisierung der Wirtschaft Â… Unter diesen Bedingungen kann Deutschland auf lange Sicht nicht zu den Gewinnern der Globalisierung gehören, auch wenn wir es beim Export heute schon sind." Lauterbach geht es nach eigener Aussage nicht um eine Kritik an der Leistungsgesellschaft oder an einer Leistungselite, sondern darum, "daß wir keine Leistungsgesellschaft sind und auch keine echte Leistungselite hervorbringen. Deutschland ist ein Land, in dem eine relativ satte und gleichzeitig verunsicherte Klasse mit vererbten Privilegien größte Angst vor der Leistungsgesellschaft hat."
Obwohl unter Wirtschaftswissenschaftlern aller politischer Grundüberzeugungen viele der von ihm beschriebenen Zusammenhänge weitgehend unstrittig seien, ändere sich nichts, weil viele den Krebs im Innern noch nicht spürten und die Tatsache unterschätzten, wie schlecht unser Bildungswesen und unser Gesundheitssystem unterdessen schon geworden sind. Der zweite und viel wichtigere Grund der Misere sei aber die politische Macht der Privilegierten, die die notwendigen, konkret benennbaren Reformen blockierten und dies auch in Zukunft so tun wollten. Höchste Priorität hat für Lauterbach "der sofortige radikale Umbau unseres Bildungssystems Â…, weil hier die Weichen für die Zukunft unserer Gesellschaft und die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft gestellt werden".
Eindringlich warnt der Bundestagsabgeordnete der SPD vor einer Illusion: "Der (wirtschaftliche - H. H.) Aufschwung allein wird keines der in diesem Buch geschilderten Probleme lösen. Und in der Großen Koalition können die notwendigen Veränderungen kaum durchgesetzt werden." Daher sei "zu hoffen, daß sich über alle Parteigrenzen hinweg wieder mehr von uns darauf besinnen", daß der Kampf für Gerechtigkeit und nicht die Bedienung einer kleinen Klientel von Saturierten die zentrale Aufgabe der Politik sei.
in: Des Blättchens 10. Jahrgang (X) Berlin, 20. August 2007, Heft 17
aus dem Inhalt:
Heerke Hummel: Ein Widerruf aus der SPD; Albrecht Müller: Nachtrag IKB; Heinz Jakubowski: Der große und der kleine Terror; Gerd Kaiser: Ukraine und Rußland; Uli Brockmeyer: Mit Che in Bolivien; Frank Schubert: Dumme muß man Dumme nennen; Wladislaw Hedeler: Wider das Vergessen; Frank Ufen: Wunderwerk Gehirn; Mathias Iven: Überall ist Kaiserzeit; Mario Keßler: Die DDR-Universität Jena; Kai Agthe: Wenn einer eine Ostreise tut Â…; Hermann-Peter Eberlein: Die Schiffbrüchigen; Ingrid Pietrzynski: Hans Pischner