Zwischen Kartell und Hedonismus

Das Musik­genre Corridos Tumbados aus Mexiko

Allein der Tanzschritt bringt das Publikum zum Toben. Auf einem Bein springt Hassan Emilio Kabande Laija, genannt Peso Pluma, auf der Bühne des ausverkauften Baseball-Stadions in Ontario, Kalifornien, lässig hin und her. Das andere ist angewinkelt und tritt im Rhythmus der Musik nach unten. Dazu rappt der 23-jährige aus dem mexikanischen Bundesstaat Jalisco, den die Washington Post zum Start seiner US-Tour im Juni zum »womöglich ersten Weltstar der mexikanischen Musik« kürte. Seit Frühjahr 2023 steht sein Lied »Ella baila sola« an der Spitze der weltweiten Spotify-Charts. Die Trompeten-, Posaunen- und Gitarrenklänge der Corridos Tumbados haben die elektronischen Dembow-Rhythmen des Reggaeton in die zweite Reihe verwiesen. Seine Wurzeln hat das neue Genre im traditionellen mexikanischen Corrido, mit dem schon zu Zeiten der mexikanischen Revolution politische Ereignisse und Heldentaten in eingängigen Versen singend berichtetet wurden. Künstler wie Peso Pluma, Natanael Cano, Fuerza Regida und Junior H haben den Corrido nun für eine jüngere Generation neu entdeckt. Sie kombinieren die traditionellen Instrumente der Musik des nördlichen, ländlichen Mexiko mit Sprechgesang und urbaner Mode, die sich am Hip-Hop orientiert.

Es geht um Liebe, Party, aber auch um Themen, aufgrund derer Peso Pluma in seinem Heimatland polarisiert: »JGL / stolze Gravur meiner Waffe / Die Bosse befehlen / Ich bewache das Gebiet, niemand kommt durch«. Der im gleichnamigen Lied besungene »JGL« ist »El Chapo« Joaquín Guzmán Loera, ehemaliger Chef des Sinaloa-Kartells, den Mexikos Regierung 2017 in die USA auslieferte. In dem Narcocorrido – so nennt man in Mexiko Corridos, die vom organisierten Verbrechen handeln – singt Peso Pluma aus Perspektive eines bewaffneten Handlangers der kriminellen Organisation – eines Sicario. Die rauchige Stimme erinnert viele in Mexiko an den beliebten Corrido-Sänger Valentin Elizalde. Auch der sang Narcocorridos – 2006 wurde er im Anschluss an ein Konzert von einem bewaffneten Kommando erschossen. Während Elizalde in Cowboystiefeln und mit einem goldenen Hahn um den Hals auftrat, trägt Peso Pluma Sneaker, einen Vokuhila-Haarschnitt mit kurz geschorenen Seiten und einen diamantbesetzten Spider-Man-Anhänger. Inmitten des Corridos auf »JGL« ahmt Peso Pluma den sich zwischen Hochhäusern schwingenden Superhelden nach. »Ich bin Peter Parker« ruft er gern ins Publikum – der bürgerliche Name von Spider-Man. Na was denn nun – Superheld oder Sicario?

 

Generation Weder-noch

Ohnehin geht in der mexikanischen Jugendkultur beim Verhältnis von Fiktion und Realität einiges durcheinander. »Wir haben nichts gegen Mädchen, die wie Wednesday [die schlecht gelaunte Tochter der Addams-Family aus der gleichnamigen Netflix-Serie, Anm. d. Red.] sein wollen. Aber findet euch damit ab, dass unsere Vorbilder Alfredo und Iván sind«, erklärt eine junge Frau auf TikTok. Im Hintergrund läuft ein Corrido des Sängers Luis R. Conriquez. Sie meint Alfredo und Iván Guzmán Salazar, die Söhne des Kartellchefs El Chapo. Laut US-Behörden haben diese das Kokain-Imperium ihres Vaters in eine Organisation umgebaut, die das Opioid Fentanyl herstellt und schmuggelt. Auf Social Media ranken sich um die Chapitos Mythen, seit dem mexikanischen Militär 2019 die Verhaftung ihres jüngeren Bruder Ovidio desaströs misslang. Erst 2022 gelang die Festnahme. Auch Peso Pluma besingt die gewaltsame Auseinandersetzung in dem Lied »El Belincón«: »2019 wurde ihnen klar / hier befehle ich«. Das birgt viel Stoff für jugendliche Phantasie.

Skandalträchtig ist, dass Peso Pluma offen zugibt, auch Auftragsdichtungen für Kriminelle zu schreiben. Es gehe eben ums Geschäft. Ist das ein nüchternes Eingeständnis oder eben doch geschickte Imagepflege als Gangster? Alucines (Angeber) heißen die, die gerne Narcos wären und so tun als ob, in der mexikanischen Jugendsprache. Die mexikanischen Medien und die Politik hingegen nennen sie Generación Nini: Die Generation Weder-noch, von denen viele weder Arbeit noch einen Bildungsabschluss haben. Laut OECD trifft das auf 21,8 Prozent der Mexikaner*innen zwischen 18 und 24 zu. Dass jene, denen die Welt verschlossen bleibt, sich danach sehnen, sie läge ihnen zu Füßen, überrascht nicht. Die Corridos Tumbados versprechen in der Identifikation mit den Kriminellen zumindest die Illusion von Handlungsmacht, der man sich zumindest während der 90 Sekunden eines TikTok-Reels hingeben kann, wenn man singt: »Die Erde dreht sich und steht still, wenn Joaquín befiehlt« (Luis R. Conriquez). Doch um soziale Ursachen hinter dem Corrido-Boom geht es selten. Stattdessen herrscht in Mexiko dieselbe Moral Panic, die vom Gangster Rap bis zum Reggaeton wohl bisher jedes marginale Genre begleitet hat, das in den Mainstream aufgestiegen ist: Pädagog*innen warnen, Politiker*innen verbieten. Die Stadt Cancún hat Konzerte des Genres seit Mai grundsätzlich verboten. Und der Reiz des Verbotenen steigert die Klicks weiter.

 

Genre für unruhige Zeiten

Ein Genre für die ruhigen, friedlichen Zeiten war der Corrido dabei nie: Er erklang während der Mexikanischen Revolution (1910-1917) um eine Landbevölkerung, die häufig nicht lesen konnte, über die politische Lage zu informieren. Er verstummte in den Jahrzehnten des Wirtschaftswunders von 1940 bis 1970, um in den krisenhaften 1970er-Jahren anti-episch gewendet zurückzukehren: Die Band Los Tigres del Norte besang Geschichten von illegaler Migration, vom Drogenschmuggel und den Schießereien mit der US-Polizei an der Grenze. Der Narcocorrido war geboren. Die Lieder erzählen vom Versprechen des schnellen Reichtums, aber auch vom Schicksal jener, die dabei erschossen oder inhaftiert wurden. Der mexikanische Essayist Carlos Monsiváis fasste 2009 das Weltbild dahinter zusammen: »Anstatt das Verbrechen zu feiern, verbreiten Narcocorridos die Vorstellung von einer Gesellschaft, in der die Armen ein Anrecht auf die kriminellen Möglichkeiten der oberen Schichten haben.«

Vierzehn Jahre später sind die Corridos Tumbados nicht nur das meistgehörte Genre Mexikos, sondern weltweit. Die Künstler*innen des neuen Corrido-Booms besuchten noch die Grundschule, als der mexikanische Präsident Felipe Calderón 2006 dem organisierten Verbrechen den Krieg erklärte. Sie sind in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der mittlerweile über 350.000 Menschen diesem innerstaatlichen Konflikt zum Opfer gefallen sind. Ebenso wuchsen sie mit einer Vielzahl an kulturindustriellen Produktionen auf, welche diese Gewalt, mal kritisch mal identifizierend, aufgreifen. Das inspiriert auch die Musik: Manche Corridos Tumbados hören sich an, als habe man eine Seite aus dem Drehbuch einer Folge der Netflix-Serie »Narcos« vertont. Andere Lieder hingegen brechen mit den narrativen Wurzeln des Corridos. Statt einer chronologischen Geschichte besingt man den Konsum und Lebensstil der Kriminellen. Das funktioniert, weil die Corridos Tumbados die traditionelle Erzählform in dritter Person durch eine subjektive Erzählstimme in erster Person ersetzen: »Man sagt, sie kamen aus Süden / in einem roten Auto / hundert Kilo Kokain geladen / auf dem Weg nach Chicago« sangen die Tigres del Norte 1975. »Ich steh auf, nehm ein Bad und dann wird gebaut / Das Zeug das knallt, von guter Qualität / Die Telefone klingeln unentwegt / Wenn es kein Mädchen ist, will ein Kunde mehr« singt Peso Pluma 2023.

 

Hyperkonsumistische Phantasien

Die ersten Lieder seien aus seinen Tagebucheinträgen entstanden, die er in seiner Jugend an der High School in San Antonio, Texas, verfasst habe, erzählte Peso Pluma kürzlich dem Sender CNN. Nicht zuletzt mit diesem Fokus auf autobiographische Themen unterscheidet sich das Genre von älteren Corridos. Der Narcocorrido besingt das Verbrechen. Die Corrido Tumbado-Sänger besingen sich selbst. Das Verbrechen ist dabei der Stoff, aus dem sie ihre hedonistischen Hymnen dichten. Und auch dort, wo es vordergründig um Drogenbosse wie »JGL« oder »El Azul« geht, bringt man den eigenen ikonischen Haarschnitt und die teuren Sneakers unter.

Die rauchige und oft schleppend gesungene Stimme von Peso Pluma machen die von hyperkonsumistischen Phantasien durchzogenen Verbrechergeschichten zu einem Fiebertraum vom besseren Leben, in der die Werte der neoliberalen Welt regieren. Ein Traum, den viele über Mexiko hinaus träumen. Die Corridos Tumbados haben gerade erst begonnen, die lateinamerikanische Musikwelt umzukrempeln. Andere Künstler*innen reagieren und geben den Corridos ganz andere Themen: Die kolumbianische Sängerin Karol G dichtet mit »200 Copas« einen Corrido Tumbado, in dem eine Freundin ermutigt wird, ihren Partner zu verlassen. Als Vorband von Natanael Cano tritt in Mexiko oft Ivonne Galaz auf. Sie singt feministische Corridos darüber, dass sie es satt hat, als Frau nachts auf der Straße Angst haben zu müssen. In Natanael Canos Bühnenshow tanzen im Anschluss bewaffnete Tänzer*innen mit Sturmhauben über die Bühne. In so unterschiedlicher Form drücken sich zurzeit die Sehnsüchte einer Generation, die während der Pandemie erwachsen geworden ist, aus.