Der Preis war hoch

Jugoslawiens Auflösung im Strudel des Nationalismus

Vor dreißig Jahren zerfiel Jugoslawien. Aus einem Staat wurden sieben. Der »Übergang« war von Bürgerkrieg und Krieg geprägt. Was war da los auf dem Balkan?

Mit der Unabhängigkeitserklärung Sloweniens und Kroatiens am 25. Juni 1991 war der territoriale Zerfall Jugoslawiens besiegelt. Das Datum markiert den ersten Abschluss eines langen Auflösungsprozesses; und mit dem am folgenden Tag eröffneten Slowenienkrieg auch den Beginn der jugoslawischen Zerfallskriege. Der letzte dieser bewaffneten Konflikte, die albanischen Aufstände in Mazedonien, fand sein Ende erst zehn Jahre später mit der Unterzeichnung des Friedensabkommens von Ohrid im August 2001.

Doch was war dieser Staat, der in den 1990er-Jahren auseinanderbrach, eigentlich? Dreißig Jahre nach dem Beginn seines Zerfalls kennt gerade die jüngere Generation bestenfalls noch die Zerfallskriege. Manchmal beschränkt sich das Wissen nur auf touristische Highlights, etwa: In Belgrad kann man gut Party machen.

Etwa für etliche ältere Linke wiederum war Jugoslawien lange ein positiver Bezugspunkt. Die 1990er-Jahre sind für sie untrennbar mit dem Streit um die Operation Allied Force der NATO gegen die damalige Bundesrepublik Jugoslawien verbunden, insbesondere mit den Auseinandersetzungen um den Kosovokrieg in den 1990er-Jahren (siehe S. 28). Und jenseits aller Tito-Nostalgie war Jugoslawien eine real existierende Alternative zur Sowjetunion, ein Experimentierfeld in der Selbstverwaltung von Betrieben und Vorreiterin in Sachen Frauenrechte – zumindest auf dem Papier.

Eine föderale Berg- und Talfahrt

Die Grundlagen für die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien (bis 1963 »Föderative Volksrepublik Jugoslawien«) wurden bereits 1943 durch die antifaschistische Partisanenregierung gelegt. Offiziell gegründet wurde der Staat am 29. November 1945. 23 Millionen Menschen lebten in den sechs Teilrepubliken Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro und Mazedonien. Sie besaßen jeweils eigene Verfassungen und Parlamente und bildeten zusammen den Bundesstaat. Hinzu kam ein zentralistischer Parteiapparat als Gegengewicht zur föderalen Struktur.

Jugoslawien war nach Bevölkerungsgruppen auf kollektiven Rechten aufgebaut. So kannte die jugoslawische Verfassung sechs Staatsvölker (die territoriale Vertretung durch eine Republik besaßen) sowie zehn Nationalitäten und diverse ethnische Minderheiten, die alle besondere Schutzrechte besaßen. Mit der Verfassungsreform von 1974 kamen zwei territoriale Einheiten unterhalb des Status als Republik hinzu: der Kosovo und Vojvodina als autonome Provinzen innerhalb Serbiens. Anders als in der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten sollten nicht allein die Kommunistische Partei und anonyme Staatsorgane die Unternehmen und gesellschaftliche Organisationen lenken, sondern demokratische Arbeiterräte, die sogenannte Arbeiterselbstverwaltung.

Die Verfassungsreform von 1974 sollte mehr Demokratie bringen. Durch die starke Dezentralisierung mit dem Fokus auf die sechs Republiken stärkte sie jedoch die (binnen-)nationalistischen Linien. Probleme wie das wirtschaftliche Gefälle zwischen Nord- und Südjugoslawien konnten so nationalistisch aufgeladen werden und regionalistische Eliten machten den Bundesstaat für alle Probleme verantwortlich. Auf der Ebene der Arbeiterselbstverwaltung führte die Dezentralisierung dazu, dass die einzelnen Betriebe letztendlich in Konkurrenz zueinander standen. Schlussendlich befeuerte die Dezentralisierung Autoritarismus und Bürokratie, denen sie eigentlich entgegenwirken sollte.

Sowohl die Legitimations- als auch die Wirtschaftskrise, die eine Verfassungsreform erforderten, verschlimmerten sich in den 1980er-Jahren. Besonders hart traf der Ölpreisschock 1979 die jugoslawische Wirtschaft, denn diese war auf die Schwerindustrie ausgerichtet. Und mit dem Ende des Kalten Krieges verlor Jugoslawien als prominenter ‚blockfreier‘ Staat seine Scharnierfunktion zwischen Ost und West. Diese Zwischenposition war bis dato nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich ertragreich. Die Wirtschaftskrise, die mit einer Inflation von über 2.000 Prozent die Bevölkerung hart traf, unterminierte den Glauben an das jugoslawische Modell massiv. Aus dieser Wirtschaftskrise entwickelte sich eine System- und Staatskrise.

Die Ethnisierung des Sozialen

Nationalistische Scharfmacher*innen nutzten die Krise zur Delegitimation des Sozialismus, wirtschaftliche Probleme wurden in ethnische gewendet. Religionen gewannen als Reaktion auf den Zerfall der sozialen Ordnungs- und Identitätsmuster wieder an Bedeutung. Was gerade auch die Kirchen nutzten und mit einer nationalen Traditionspflege verbanden: Die Religion war einer der wenigen ‚Marker‘, anhand derer einzelne Bevölkerungsgruppen unterscheidbar waren. Die wirtschaftliche Krise wurde so zum Motor einer umfassenden Desintegration Jugoslawiens, der Republiken-Nationalismus zum Mittel des Krisenmanagements. Mit dem dramatischen Abbruch des 14. Kongresses des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens am 22. Januar 1990, bei dem sich die Republiken nicht auf einen Mechanismus zur Krisenbewältigung einigen konnten, endete nach 45 Jahren de facto die Herrschaft der Kommunistischen Partei in Jugoslawien.

Nach dem Zusammenbruch des Staatskommunismus wurden im April 1990 erste freie Wahlen in Slowenien und Kroatien abgehalten, kurz darauf folgten die anderen Republiken. Aufgrund der eingeübten Quotenlogik gingen viele Wähler*innen davon aus, dass nur ihre jeweilige nationale Partei sie vertreten könne. Überall wurde ein nationalistischer Wahlkampf betrieben. In Kroatien, Slowenien und Mazedonien gewannen nationalistische Parteien, in Serbien und Montenegro die nationalistisch gewendeten Sozialist*innen. In Bosnien wurde eine Koalition aus drei ethnisch-nationalistischen Parteien gebildet.

Die neu gewählten Regierungen von Kroatien und Slowenien erklärten ihre Staaten am 25. Juni 1991 für unabhängig. Anfang 1992 erkannte die Europäische Gemeinschaft (EG) auf Drängen Deutschlands beide Staaten an. Der erste der Zerfallskriege, der Zehn-Tage-Krieg, begann in Slowenien bereits einen Tag nach der Unabhängigkeitserklärung zwischen der Jugoslawischen Volksarmee (JNA) und slowenischen Truppen. Er endete rasch und verhältnismäßig unblutig mit einem Abkommen.

Anders in Kroatien: Dort trieb die nationalistische Partei HDZ unter der Führung von Franjo Tuđman den positiven Bezug auf den kroatischen faschistischen Ustaša-Staat massiv voran, der als Vasallen-Staat Deutschlands von 1941 bis 1945 existiert hatte. Im Juli 1991 wurde per Verfassungsänderung der serbischen Minderheit der Status als zweites Staatsvolk aberkannt. Nach massiven Protesten, auf die Tuđman repressiv reagierte, wurde auf serbischer Seite die Forderung nach territorialer Autonomie immer lauter. Es entstanden Parallelstrukturen zu den kroatischen staatlichen Strukturen. Am 19. Dezember 1991 erklärte das dortige De-facto-Regime die serbisch geprägten Gebiete in Ostslawonien als Republik Serbische Krajina zum unabhängigen Staat. Dieses kontrollierte während des bis 1995 dauernden Kroatienkrieges zeitweise bis zu einem Drittel des kroatischen Territoriums entlang der Grenze zu Bosnien und Serbien.

Ausgetragen wurde dieser Krieg um die serbisch geprägten Territorien in Kroatien zwischen der kroatischen Armee und der Armee der Republik Serbische Krajina (RSK). Letztere wurde von der JNA und durch serbische paramilitärische Einheiten und Freiwilligenverbände unterstützt. Nach einem von der EG vermittelten Waffenstillstand zog die JNA 1993 aus Kroatien ab, ließ aber ihre Waffen zurück, mit denen die RSK wieterkämpfte. Während des Krieges kam es auf beiden Seiten zu Massakern an der Zivilbevölkerung und zu sogenannten ethnischen Säuberungen. Nach Schätzungen von Human Rights Watch befanden sich knapp 400.000 Menschen während des Krieges auf der Flucht, insbesondere im Zuge der Operation Oluja, mit der Kroatien im August 1995 den Großteil der serbischen Gebiete zurückeroberte. Formal endete der Krieg am 12. November 1995 mit dem Abkommen von Erdut.

Von Kroatien nach Bosnien ...

Der komplizierteste und verheerendste Zerfallskrieg sollte der Bosnienkrieg werden. In der heterogensten Teilrepublik Jugoslawiens trafen die Interessen verschiedener Bevölkerungsgruppen, Restjugoslawiens sowie dem inzwischen unabhängigen Kroatien aufeinander. Nach langen Auseinandersetzungen erklärt im März 1992 auch Bosnien-Herzegowina seine Unabhängigkeit. Dem vorausgegangen waren die Ausrufung der unabhängigen serbischen Republika Srpska auf bosnischem Territorium sowie ein Referendum, das von der serbischen Minderheit größtenteils boykottiert wurde.

Nach einer Gewalteskalation zwischen verschiedenen Milizen begann in der Nacht vom 4. auf den 5. April die fast vierjährige Belagerung der bosnischen Hauptstadt Sarajevo und damit der offene Krieg. Die Armee der Republik Bosnien und Herzegowina (ARBiH) kämpfte zunächst gemeinsam mit dem Kroatischen Verteidigungsrat (HVO) für einen bosnischen Staat gegen die Armee der Republika Srpska (VRS). Diese wurde von der JNA unterstützt und wollte ein zusammenhängendes serbisches Territorium schaffen: aus Restjugoslawien, der Republika Srpska sowie den serbisch besiedelten Gebieten in Kroatien. Im Laufe des Krieges stellte aber auch die HVO Gebietsansprüche und es kam zum sogenannten Krieg im Krieg zwischen der HVO und der ARBiH. Dieser Konflikt wurde vor allem in Zentralbosnien ausgetragen und im Februar 1994 beigelegt. Danach verbündeten sich HVO und ARBiH erneut.

Insgesamt kamen im Bosnienkrieg zwischen 97.000 und 200.000 Menschen ums Leben, etwa zwei Millionen Einwohner*innen (knapp die Hälfte der damaligen Bevölkerung) befanden sich auf der Flucht. Die brutalen ethnischen Säuberungen während des Bosnienkrieges, aber auch im Kroatien- und Kosovokrieg, waren keine Folge der Kriege, sondern eines ihrer Ziele. Dahinter standen der bis zum Äußersten gedachte nationalistische Wille zu einer ethnisch homogenen Bevölkerung sowie der Versuch, ein möglichst großes Territorium für die jeweilige Volksgruppe zu erhalten. Der schiere Vernichtungswille gegenüber den Anderen ist angesichts der Massaker offensichtlich. Auch das von den Vereinten Nationen als Genozid anerkannte Massaker von Srebrenica wurde in diesem Geist begangen. Nach dem Blutbad im Juli 1995, bei dem über 8.000 Bosniak*innen getötet wurden, griff die NATO in den Krieg ein. Dieser endetet nach mehreren gescheiterten Friedensgesprächen offiziell am 14. Dezember 1995 mit der Unterzeichnung des Abkommen von Dayton.

... und vom Kosovo nach Mazedonien

Während in den Nachbarländern Krieg herrschte, schwelte der ungelöste Konflikt im Kosovo bis Mitte der 1990er-Jahre vor sich hin. Als die Zerfallskriege ohne eine Lösung für das Kosovo zu Ende gingen, zweifelte ein zunehmender Teil der albanischen Bevölkerung am Sinn des bis dato gewaltlosen Widerstandes. Die paramilitärische UÇK gewann an Unterstützung. Sie trat ab 1996 mit gewaltsamen Aktionen gegen die serbische Polizei in Erscheinung. Restjugoslawien bekämpfte diese Aufstände und es entwickelte sich eine Bürgerkriegsdynamik. Nach den gescheiterten Friedensverhandlungen von Rambouillet griff die NATO ohne UN-Mandat in den Konflikt ein und bombardierte ab dem 24. März 1999 Serbien (siehe S. 25). Mit dem Abkommen von Kumanovo wurde der Kosovokrieg am 9. Juni 1999 beendet. Das Kosovo blieb formal noch Teil der Bundesrepublik Jugoslawien, wurde aber unter UN-Verwaltung gestellt.

Wie schon von Kroatien nach Bosnien kam es auch mit dem Ende des Kosovokrieges zu einem ‚Überschwappen‘ des Konflikts in ein Nachbarland. Mazedonien war die einzige Teilrepublik, die sich ohne Widerstand Belgrads von Jugoslawien lossagen konnte. Die größere Minderheit mit fast einem Viertel der dortigen Bevölkerung war nicht serbisch, sondern albanisch. Daher diente Mazedonien der UÇK teilweise als Rückzugsgebiet. Anfang 2001 trat die UÇK dort erstmals offen in Erscheinung und wurde von der mazedonischen Regierung bekämpft. Der Konflikt wurde im Laufe des Sommers beigelegt. Das Ohrid-Abkommen leitete eine Dezentralisierung des mazedonischen Staates ein, die mehr Rechte und Selbstverwaltung für die albanische Minderheit ermöglichte. Die mazedonische UÇK löste sich daraufhin auf.

Damit endeten die bewaffneten Konflikte, der territoriale Zerfall ging jedoch weiter. 2003 benannte sich die Bundesrepublik Jugoslawien nach einem Staatsumbau in Serbien und Montenegro um. Dieser Staatenverbund hielt nur bis 2006, dann erklärte sich Montenegro nach einem Referendum für unabhängig. Eine wiederholte Unabhängigkeitserklärung erfolgte im Kosovo 2008. Anders als die erste wird sie mittlerweile von der Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten anerkannt. Serbien betrachtet das Kosovo jedoch weiterhin als Teil seines Staatsgebietes. Und in Bosnien und Herzegowina droht der bosnisch-serbische Nationalist Milorad Dodik immer wieder mit der Abspaltung der Republik Srpska.

Balkanklischee-Spezialitäten

Die Region kann sich derzeit so ökonomisch modernisieren, kulturell postmodern ausprägen und sozial internationalisieren, wie sie will: Die Balkan-Klischees haften ihr an wie Pech. Das ehemalige Jugoslawien hielt schon immer als Projektionsfläche her – und auch heute, dreißig Jahre nach Beginn der Zerfallskriege, wird vor allem Negatives darauf projiziert. Die Region gilt als ‚Pulverfass‘ ‚Krisenherd‘ und als Hort ‚ewigen Hasses‘, der vom ‚Völkergefängnis‘ Jugoslawien nur bedingt eingehegt wurde und in der die Jugoslawienkriege vielen folgerichtig erschienen. Die Stereotype sagen mehr über die Betrachter*innen als über die Region und ihre Geschichte aus.

Doch Massengewalt bricht nicht aus. Sie wird generiert. Auch in Jugoslawien entlud sich nicht spontan ein ‚uralter Hass‘, vielmehr waren die Kriege organisierte und kalkulierte Gewalt, an der Politiker wie Tuđman und Milošević seit den 1980er-Jahren gefeilt hatten. Dass sie erfolgreich waren, lag nicht an den »Gespenstern am Balkan« (wie der Bestsellerautor Peter Scholl-Latour 1995 untertitelte) des ethnischen Hasses, die zurückkehrten, sondern am realen Spuk der verbreiteten Armut, der Verunsicherung und diffuser Angst. Kaum jemand hat den Zusammenbruch Jugoslawiens vorausgeahnt, dennoch betrachteten ihn viele bald (und bis heute) als logische Folge. Doch so funktioniert Geschichte nicht.

Die Vorstellung des Pulverfasses gründet auf Projektionen der Rückständigkeit auf diese Region. Dieses Herabblicken auf den (gerade ex-jugoslawischen) Balkan dient vor allem dem Bedürfnis, sich der eigenen Zivilisation im ‚Westen‘ oder in Deutschland zu versichern. Man scheint es nötig zu haben. Dabei ist der Begriff Balkan unscharf und umstritten, negativ besetzt. Ungeklärt ist auch die Frage, wo er beginnt. In Slowenien? Kroatien? Erst in Bosnien? Oder nicht doch schon in Österreich?

 

Larissa Schober ist Redakteurin im iz3w und forscht zu innerstaatlichen Konfliken.