Virale Evolution

Vom worst case und Handlungsimperativen

Das Kommende hätte man erahnen können – und hat es doch zu spät vorausgesehen. Im politischen Denken der Regierungen schlägt das Virus nun umso drastischer zurück. Denn ihre Maßnahmen stützen diese auf die Antizipation möglicher Zukünfte, sie entwerfen Szenarien und gestehen dem worst case dabei eine prominente Stellung zu. Wie ein Schatten überlagert er die Gegenwart und beschwört eine drohende Zukunft herauf. Das Denken in worst cases formuliert eine Dringlichkeit; es setzt einen Handlungsimperativ, der etablierte Begründungszusammenhänge für politische Maßnahmen auszuhebeln und Verfahrenswege abzukürzen vermag. Unabhängig von der tatsächlichen Wirksamkeit der Maßnahmen, die hier keiner Evaluation unterzogen werden sollen und die zum jetzigen Zeitpunkt ohnehin kaum zu beurteilen sind, ist es der worst case, der die massivsten kollektiven Grundrechtseingriffe – Ausgangssperre, Kontaktverbot, Schließungen usw. – bedingt. Die Politik greift damit auf eine etablierte Krisentechnologie zurück.

Szenarien werden verwendet, um Gefahren antizipierbar zu machen, die sich in ihrer Tragweite nicht eindeutig eingrenzen lassen. Sie entwerfen Zukunftsverläufe, die in politischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht noch im Ungewissen liegen. Ist der vorrangige Umgang mit der Zukunft seit der Moderne von Extrapolationen gegenwärtiger Ereignisse oder früherer Erfahrungen bestimmt, um von hier aus Wahrscheinlichkeiten zu bestimmen, so ist der vorsorgende Blick im Fall des Szenarios anders gelagert als die Stochastik. Szenarien bedienen sich nicht des Mittelwerts vergangener Geschehnisse oder Indikatoren der Gegenwart, um von hier aus Ableitungen zu treffen. Entsprechend kalkulieren sie nichts. Zwar nehmen sie Risikowerte auf und integrieren sie in ihre Modelle. Anders als Risikokonzeptionen aber stützen Szenarien sich nicht selbst zentral auf die Probabilistik. Ihr Zweck ist nicht die zahlenmäßige Bestimmung der Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Zukunftsverlaufs, sondern das Aufzeigen der Eigenarten und Konsequenzen des konkreten Eintrittsfalls selbst. Insofern wagen Szenarien keine Vorhersagen, sondern sie entwerfen mögliche Zukünfte.

Es ist dies eine Denkweise, die sich am Unbekannten orientiert, an einem möglichen Ereignis, das sich aus dem Mittelwert vergangener Geschehnisse oder Indikatoren der Gegenwart kaum mit Sicherheit ableiten, wenngleich nur mit ihrer Hilfe denken lässt. Oft als singulär gerahmt, als vollkommen andersartig und unbekannt, wird auf Geschehnisse abgezielt, die bislang noch gänzlich außerhalb des Bereichs bekannter Wirkungszusammenhänge liegen könnten. Ausgerichtet mithin an einer Zukunft, die jeglichen Vergleichs entbehrt und sich insofern als entsprechend un-berechenbar erweisen muss, stehen derartige Denkweisen nicht für die Identifizierung bekannter Risiken. Sie formulieren neue Ungewissheiten.

Derartiges zeigt sich im politischen Umgang mit der Pandemie. Schnell wurde auf die Geschehnisse als historisches Ereignis umwälzenden Charakters rekurriert. Sie wird seit mehreren Wochen als die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg gehandelt. Das Kommende zu denken, erweist sich jedoch als schwierig. Die Dynamik der viralen Evolution lässt sich aus dem hierzulande Vertrauten nur schwer ableiten: Die Bedingungen, die in Ländern wie Italien oder China vorherrschen, gelten als mit Deutschland schwer vergleichbar. Das betrifft etwa die politische und administrative Struktur des Staates, das betrifft die demografischen Proportionen und sozialen Verhältnisse junger und alter Menschen, das betrifft die Luftverschmutzung und die Beschaffenheit des Gesundheitssystems. Aufgrund geringer Kenntnisse über die Relationen von Virus und Gesellschaft liegt hier ein Spiel mit vielen Unbekannten vor.
Dies ist die Ausgangsbedingung für ein Denken in Szenarien, denn die Prognose hält entlang des statistisch berechenbaren Durchschnitts keine ausreichenden Handlungsableitungen bereit. Ein angemessener Zugriff auf die Zukunft ist dann zu gewinnen, wenn sie als Möglichkeit gesponnen wird. Um sicherzugehen, wird also eine neue Zeitrechnung eingeführt: Man bezieht sich auf diffuse, also sich räumlich, zeitlich, sozial usw. nur vage abzeichnende Zukünfte. Auch wenn das Denken in Szenarien damit als fiktional zu charakterisieren ist, so ist das so Erdachte dennoch als unmittelbar existent zu handhaben, da es zu einer sozialen Tatsache wird, mit der zu rechnen ist. Durch seine bloße Existenz entfaltet das Szenario Evidenz; es ist performativ.

Besondere Prominenz nimmt im Corona-Diskurs das worst case-Szenario ein. Es orientiert sich an absoluten Krisenfiktionen, an einer Lesart der Pandemie als einem alles verändernden, schrecklichen Ereignis. Das Eintreten des worst case bedeutet immer einen traumatischen Verlust.

Weil das Denken in worst-case-Szenarien eine eigentümliche Evidenz entfaltet, wird es anfällig für die Rhetorik des Sachzwangs; in seiner augenscheinlichen Plausibilität setzt es einen notwendigen Handlungsgrund. Das reduziert derzeit eine ganze Reihe der üblichen Rechtfertigungszwänge demokratischer Politikroutinen. Ausreichend erscheinen Begründungen auf der Ebene des Epidemologischen, die Politik zu einem bloßen Verlautbarungsinstrument degradieren. Entsprechend sind eventuelle Berechnungen des möglichen Schadens, der durch die politischen Maßnahmen entsteht, ebenso wie politische Langzeiteffekte erst einmal nachrangig und werden erst im Verlauf – wiederum durch Szenarien – erhoben.  Auch die Wirksamkeit der unterschiedlichen gesetzten Maßnahmen darf im Spekulativen verbleiben.
In diesem Sinne ermöglicht es der worst case nicht nur, das volle Register des novellierten Infektionsschutzgesetzes in Gang zu setzen, sondern (man denke an die allgemeine  Ausgangsbeschränkung) weit darüber hinauszugehen.  Im Rückgriff auf den worst case und damit zusammenhängend auf die Installierung weitreichender präventiver Maßnahmen bedient sich die Politik damit einer etablierten Krisentechnologie: Als besondere abwehrrechtliche Maßnahme, die gesetzt wird, um dem drohenden Verlust zu entgehen, ähnelt die gesetzte Strategie beispielsweise dem ursprünglich militärischen Prinzip der Präemption. Dieses berechtigte einen Staat nach internationalem Recht zur Durchführung eines Präventivschlags, wenn ihm Beweise oder Warnungen über einen unmittelbar bevorstehenden Angriff vorlagen. Heute hat sich diese Bedeutung ins Innere verschoben; sie hat sich zu einer zivilen Technik unter militärischen Vorzeichen gewandelt. In der Kriminalpolitik kommt Präemption gefahrenabwehrrechtlich im „Krieg gegen den Terror“ zum Einsatz. Hier wie dort begründen worst case-Szenarien weit in die Zukunft reichende Vorgriffe auf Gefahren. Es überrascht deshalb nicht, dass in vielen Ländern derzeit kriegerische Terminologien kursieren.
Der worst case legitimiert mithin unter breiter gesellschaftlicher Zustimmung weitgehende Grundrechtseinschränkungen und bringt ein neue Strukturen der Ausnahme hervor.  Damit ist es weniger die aktuelle Lage als die Vorstellung des schlimmsten Falls, die zu den aktuellen Maßnahmen anreizt: Es ist das Denken in bestimmten Termini des Zukünftigen.



Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Nr. 54, Sommer 2020, „Ausnahmezustand“.

Andrea Kretschmann ist Soziologin und Ko-Leiterin des Forschungsschwerpunkts „Staat, Recht und politischer Konflikt“ am Zentrum Marc Bloch Berlin.

Dieser Text erschien in einer ausführlicheren Version auf der Seite des Zentrum Marc Bloch
https://cmb.hu-berlin.de/en/the-center/newspost/gesellschaft-im-krisenmodus-geistes-und-sozialwissenschaftliche-perspektiven-auf-corona/?fbclid=IwAR1mQJ_F54Ve1n8o3aK3BURbFKA9TW5WpaJ5YImRUoPJyShirXTzcqu09Ws