Militärs haben ihre eigene Sprache. Da ähneln sich Soldaten in West und Ost. Wenn ein aktiver Spitzenmilitär öffentlich das Wort ergreift, geht es um den Job des Soldaten, also Krieg und Streitkräfte. Die Sprache klingt meist martialisch und etwas hölzern, oft auch bedrohlich. Der Chef des Generalstabs der russischen Streitkräfte, Armeegeneral Walerij Gerassimow, hat am 2. März 2019 eine solche Rede gehalten, auf der Jahrestagung der Akademie der Militärwissenschaften in Moskau – in erster Linie also vor Militärs. (Zum Wortlaut der Rede hier klicken.)
Schwerpunkte waren die Weiterentwicklung der Militärstrategie Russlands, die künftigen Aufgaben von Wissenschaft und Praxis, die neuen Herausforderungen angesichts des geopolitischen Wandels und umfangreicher technisch-technologischer Veränderungen sowie Schlussfolgerungen für die russischen Streitkräfte. Bemerkenswert an dieser Tagung war auch die Anwesenheit nichtmilitärischer Prominenz – von Vertretern der Administration des Präsidenten der Russischen Föderation, der Staatsduma, des Föderationsrates sowie führender Wissenschaftler der Akademie der Wissenschaften Russlands, von zivilen Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Das Signal nach innen war: Die russischen Streitkräfte sind eine gesamtgesellschaftliche Angelegenheit, die Militärfrage ist Teil der Staatsfrage.
Die öffentliche Rede war zugleich zweifaches Signal nach außen. Erstens: Russland ist strikt defensiv. Gerassimow betonte in der Traditionslinie aller sowjetischen und russischen Doktrinen der Nachkriegszeit den Verteidigungscharakter der Militärstrategie Russlands; oberstes politisches Ziel sei Kriegsverhütung. Russland ist zweitens aber fest entschlossen, die russische Staatlichkeit zu verteidigen, und wird nicht zögern, sein gesamtes Militärpotenzial dafür einzusetzen. Das ist als Abschreckungssignal gemeint.
Bemerkenswert ist, wo Gerassimow die größten Herausforderungen für die Streitkräfte Russlands sieht. Die Außenpolitik der USA und deren Verbündeter charakterisiert er insgesamt als aggressiv und verweist auf die Praxis der Kombination militärischer Handlungen mit „farbigen Revolutionen und Softpower“. Ziel dieser Politik sei „die Beseitigung der Staatlichkeit von missliebigen Staaten, die Untergrabung der Souveränität und der Austausch legal gewählter Organe der Staatsmacht. So war es im Irak, in Libyen und in der Ukraine. Gegenwärtig sind in Venezuela analoge Handlungen zu beobachten.“ Offensichtlich sieht er darin ein modellhaftes Vorgehen, das auch gegen Russland praktiziert werden könnte.
Vor allem zwei Entwicklungen beunruhigen ihn: Erstens die Praxis „der USA und der NATO zur Ausweitung des Systems der militärischen Präsenz unmittelbar an Russlands Grenze“ und zweitens der Kurs zur „Zerstörung der vertraglichen Beziehungen für Rüstungsbegrenzung und Abrüstung“, hier besonders die Kündigung des Vertrags über die Begrenzung der Raketenabwehr durch die USA bereits im Jahre 2002 und die Aussetzung des INF-Vertrags 2019. Als nächsten Schritt sieht er die Abkehr von der Verlängerung des Vertrags über die Begrenzung der strategischen Angriffswaffen (START-3). Damit könnte der gesamte – noch funktionierende – nukleare Rüstungskontrollmechanismus ausgehebelt werden. Auch die Formierung amerikanischer Weltraumstreitkräfte als einer neuen Waffengattung gehe in diese Richtung. All das führe zur „Störung der strategischen Stabilität“ und könne nicht hingenommen werden. Russland werde mit spiegelbildlichen und asymmetrischen Maßnahmen antworten.
Für die russischen Streitkräfte zieht Gerassimow zwei Schlussfolgerungen:
- „Handlungen der strategischen Zügelung“, also schlicht Abschreckung. Auf die Bedrohung durch den Westen müsse Russland „mit dem Schaffen einer Drohung“ antworten, das heißt mit Gegen-Abschreckung.
- Wenn die Abschreckung zur Kriegsverhütung versagen sollte, müssen die Streitkräfte in der Lage sein, in einem realen Krieg erfolgreich zu handeln.
Angesichts dieser Prämissen wird beschrieben, worauf sich Russland und seine Streitkräfte konzentrieren müssen – im Grunde Probleme, die in Deutschland sehr ähnlich unter der Formel „Fähigkeiten der Streitkräfte“ und gesamtgesellschaftliche „Resilienz“ diskutiert werden. Das sind Fragen der Ausrüstung der Streitkräfte mit qualitativ neuen Technologien, sowohl für Waffen als auch zur Kommunikation und zur Führung des Kampfes im Cyberraum, Fragen der Struktur der Streitkräfte und der Ausstattung mit qualifiziertem Personal sowie der Anforderungen an Wissenschaft und Wirtschaft zur Sicherstellung dieses Potenzials.
Gerassimow verweist auf den Wandel des Kriegsbilds durch neue Technologien und Waffentypen, auf die neue Rolle des Informations- und Cyberraums, auf das zunehmende Handeln nichtstaatlicher Akteure, die wachsende Rolle gezielter Destabilisierungsaktionen gegen die Gesellschaft und die Verwischung der Grenzen zwischen Krieg und Frieden. Dabei räumte er den Erfahrungen der Streitkräfte Russlands zur militärischen Unterstützung der syrischen Regierung großen Raum ein; eine völlig neue Aufgabe waren „humanitäre Einsätze der Truppe in militärischen Konflikten“.
Man kann das – wie es zahlreiche Medien in Deutschland tun – als Zeichen besonderer Aggressivität Russlands interpretieren. Unter russischem Blickwinkel ist es Ausdruck legitimer Interessen zur Landesverteidigung. Nüchtern und ideologiefrei betrachtet, hat Russland eine ähnlich komplexe Betrachtungsweise der militärstrategischen Situation und sich daraus ergebender Konsequenzen wie die USA und der Westen insgesamt. Man nehme nur das außerordentlich instruktive Buch aus dem Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) zu „Krieg im 21. Jahrhundert“, um gemeinsame Schnittpunkte dieser Debatte zu erfassen.
Von dieser Rede und der Herangehensweise Russlands an veränderte Realitäten geht keine neue Bedrohung aus. Das zugrundeliegende Denken ähnelt dem in den USA und Deutschland. Russland reagiert spiegelverkehrt und meint es ernst. Das sollte hierzulande ohne Aufgeregtheit ebenfalls getan werden. Russland ist konventionell unterlegen, gibt ein Vielfaches weniger für seine Streitkräfte aus und ist wirtschaftlich deutlich schwächer als NATO und EU. Also wovor sollten wir Angst haben?
Die gegenwärtige Situation erinnert an die 1980er Jahre – eher an den Anfang als an das Ende jenes Jahrzehnts. Die alten Kontrahenten beobachten sich wieder mit wachsendem Misstrauen und völlig überzogener Bedrohungsperzeption. Es ist Illusion zu glauben, dass die ständige Verstärkung der Militärmacht und damit die Erhöhung des Niveaus der gegenseitigen Abschreckung mehr Sicherheit bringen. Das Aufschaukeln der Abschreckung erhöht lediglich das Eskalationsrisiko und damit die Gefahr eines ungewollten Krieges.
Höchste Zeit, über Deeskalation und Vertrauensbildung nachzudenken. Es geht um einen Paradigmenwechsel auf beiden Seiten. Ein Ansatz könnte sein – wie es Angela Merkel seit ihrer Neujahrsansprache 2019 schon mehrfach vorsichtig formuliert hat – die Positionen und Interessen der anderen Seite „immer mitzudenken“. Ein Hauch weniger deutsche Selbstgerechtigkeit aber mehr politische Konsequenz ist dazu allerdings unerlässlich.