Die Prognos AG Basel hat im Auftrag des ZDF eine aktuelle Studie über die Lebensqualität in Deutschland erstellt. Dafür wurden 401 Kreise und kreisfreie Städte der Bundesrepublik unter die Lupe genommen. Den Maßstab für das Ranking bildet ein Set von 53 Kriterien aus den Bereichen „Arbeit & Wohnen“, „Freizeit & Natur“ sowie „Gesundheit & Sicherheit“. Für jedes Kriterium wurden Punkte vergeben, die sich dann zu einer Gesamtzahl addieren lassen. So entstand eine Liste, die Auskunft darüber geben soll, wo es sich in Deutschland am besten leben lässt und wo am schlechtesten. Ganz oben auf der Liste steht die Stadt München, ganz unten Gelsenkirchen. Das verwundert nicht. Ebenso wenig überrascht die Tatsache, dass sich unter den Top-Zehn der Liste neun westdeutsche Städte und Kreise befinden, aber nur eine ostdeutsche Stadt, nämlich Potsdam. Berlin steht weit abgeschlagen auf Platz 189.
Vieles in dieser Studie erscheint plausibel, manches aber auch nicht. So weist die Rangliste einen signifikanten Nord-Süd-Unterschied auf. Im Durchschnitt sind es 25 Punkte, welche die Regionen im Süden mehr erhalten haben als die Städte und Kreise im Norden der Republik. Folgerichtig sind die Spitzenreiter überwiegend in Süddeutschland angesiedelt: München, Heidelberg, Starnberg, Garmisch-Partenkirchen, München-Landkreis, Miesbach, Oberallgäu, Bad Tölz, Breisgau-Hochschwarzwald, Ulm und so weiter. 73 der Top-100 befinden sich in Bayern oder in Baden-Württemberg. Dagegen sind die Schlusslichter und die unteren 100 fast alle im Norden zu finden, im Ruhrgebiet, in Niedersachsen, in Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Thüringen. Im Unterschied zu dem Nord-Süd-Unterschied ist das West-Ost-Gefälle, das seit 1990 immer im Fokus stand, offenbar plötzlich geschrumpft. Nur noch minimale 3 Punkte (von 300) trennen heute den Osten vom Westen, was die durchschnittliche Lebensqualität anbetrifft!
Dieser spektakuläre Befund unterscheidet sich deutlich von den Aussagen im letzten „Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit“, worin steht, dass „noch ein gutes Stück Weg zu gehen (bleibt), um noch bestehende, vor allem wirtschaftliche, Unterschiede zwischen Ost und West […] zu überwinden“. Das war 2017. Sollte sich die hier angesprochene Diskrepanz zwischen Ost und West so rasch erledigt haben? Nein, natürlich nicht! Die Erklärung für die ungleich positivere Bewertung der Lage im Osten in vorliegender Studie ist in der Auswahl der Kriterien und der undifferenzierten Aufsummierung der vergebenen Punkte zu suchen. Indem die Inkommensurabilität der Daten ignoriert wird, lassen sich Defizite auf einem Gebiet durch Vorzüge auf einem anderen Gebiet kompensieren. Dadurch entsteht ein „buntes Bild“ gleichwertiger Lebensverhältnisse, das auf regional variierenden Kriterien und Bewertungen basiert. So ist es möglich, eine schlechte Wirtschaftslage durch Sonnenstunden, fehlende Arbeitsplätze durch niedrige Mieten und geringe Einkommen durch die Nähe zum Meer auszugleichen. Die hierin enthaltene vermeintlich empirisch gestützte Argumentation beruht auf rein subjektiven Urteilen und bewegt sich daher fern jeder wissenschaftlichen Analyse. Anders lässt sich nicht begreifen, warum in der Studie zum Beispiel der Landkreis Vorpommern-Rügen, der außer dem Ostseestrand kaum etwas zu bieten hat, klar vor Düsseldorf, Chemnitz, Leipzig und Erfurt rangiert. Oder warum das maritime Rostock weit vor Stuttgart, Lübeck und Weimar platziert ist. Auch scheint die Auswahl der Kriterien mitunter vom Zufall diktiert zu sein. Würde man zum Beispiel die Höhe der Kirchtürme hinzunehmen, so würden Ulm, Köln, Landshut, Hamburg, Regensburg und Magdeburg nach vorne rücken. Und wer wollte schon behaupten, dass die Kirchturmhöhe in diesem christlichen Staat kein für das Lebensgefühl der Bürger relevantes Kriterium sei?
Interessant wird es auch, wenn man die drei Bereiche im Einzelnen betrachtet: So findet sich zum Beispiel unter der Rubrik „Arbeit & Wohnen“ keine einzige ostdeutsche Stadt oder Kreisregion unter den Top-Zehn. Unter der Rubrik „Gesundheit & Sicherheit“ auch nicht. Woher resultiert dann aber die günstige Gesamtwertung des Ostens? Offenbar allein aus der Bewertung im Bereich „Freizeit & Natur“, denn hier finden sich gleich fünf ostdeutsche Städte und Kreise unter den Top-Zehn. Genau genommen sind es also die Naturverhältnisse, die Existenz zahlreicher Naturschutzgebiete, die geringe Besiedelung und Bevölkerungsdichte im Osten, die hier positiv zu Buche schlagen. Dagegen lässt sich an sich überhaupt nichts einwenden. Man muss dabei aber berücksichtigen, dass diese Vorzüge zu einem nicht geringen Teil die Kehrseite der geringen Wirtschaftskraft, Unterbeschäftigung, Abwanderung und wirtschaftlichen Vernachlässigung sind. Und mithin auch der im Verhältnis zum Westen niedrigeren Löhne und Renten, unterentwickelten Infrastruktur, dünneren Besiedlung und so weiter. Hierin schlägt sich nieder, dass beim „Aufbau Ost“ mehr in den Natur- und Umweltschutz als in neue Produktionsstätten investiert wurde. Eine Tatsache, die nun einseitig-positiv interpretiert wird. Die Aufrechnung des einen gegen das andere und der Versuch, fehlende Einkommen durch klimatische Vorzüge, Defizite bei der Infrastruktur durch die Nähe zur Natur und so weiter zu kompensieren, entspricht vielleicht der Wahrnehmung einiger Soziologen. Breite Zustimmung hierzu ist indes kaum zu erwarteten. Man übertrage dieses Herangehen auf die Weltpolitik, dann sieht man sofort, zu welchen absurden Schlussfolgerungen es führen würde. Eine solche Studie entsteht nicht unabhängig von politischen Intentionen. Vielmehr scheint es genau die Absicht gewesen zu sein, herauszustellen, dass der Osten inzwischen genauso viele Vorzüge besitzt wie der Westen, nur eben andere: Die Lebensqualität sei (fast) gleich. Eine weitere Wirtschaftsförderung erübrige sich daher. Ja, sie würde den Osten sogar unberechtigt bevorteilen, da die Schlusslichter im Ranking der 401 Städte und Kreise nun nicht mehr ostdeutsche, sondern westdeutsche Kommunen sind, wie Gelsenkirchen, Herne, Duisburg, Oberhausen, Dortmund, Salzgitter und so weiter.
Das ist die eigentliche Botschaft der Studie.