Die wirtschaftliche Entwicklung folgt nicht immer strikt den ökonomischen Gesetzen, sie vollzieht sich aber nach bestimmten Mustern, die nur selten durchbrochen werden. Dem entspricht die Erfahrung, dass die Ungleichheit in der Gesellschaft infolge von Krisen oder Inflationen in der Regel zurückgeht, während sie in Phasen der Stabilisierung und Prosperität eher wächst. Dies war selbst während der großen Inflation nach dem Ersten Weltkrieg, der Hyperinflation 1922/23 in Deutschland, zu beobachten, indem diese mit einer „gewaltigen Umwälzung der Verteilung von Einkommen und Vermögen“ einherging, was, bedingt durch den Ruin der Mittelschichten, kurzzeitig zu „mehr Gleichheit“ in der Gesellschaft (Carl-Ludwig Holtfrerich) geführt hat. Vergleicht man diese, auch von konservativen Historikern anerkannte Tatsache aber mit den Wirkungen der gegenwärtigen Inflation, so gelangt man überraschenderweise zu einem ganz anderen, eher gegenteiligen Ergebnis: Die Ungleichheit ist hier, sowohl durch die Corona-Krise als auch infolge der Inflation, deutlich gestiegen!
Einer aktuellen Studie der Hilfs- und Entwicklungsorganisation Oxfam zufolge gingen 81 Prozent des gesamten zwischen 2020 und 2021 in Deutschland neu erwirtschafteten Vermögens an das reichste 1 Prozent in der Gesellschaft, während die restlichen 99 Prozent nur 19 Prozent erhielten. Die Vermögensungleichheit hat sich dadurch weiter verstärkt: Die reichsten 10 Prozent der Gesellschaft besitzen nun 67,3 Prozent aller Vermögenswerte, davon die Top-0,1 Prozent = 20,4 Prozent, die 98,0 bis 99,9 Prozent = 14,9 Prozent, die 90,0 bis 98,0 Prozent = 32,0 Prozent und die 50,0 bis 90,0 Prozent = 31,4 Prozent, die gesamte ärmere Hälfte der Bevölkerung aber nur 1,3 Prozent. Ein ähnlich krasses Bild ergibt sich, wenn man die Einkommensentwicklung untersucht. Oxfam spricht von „historisch hohen Reallohnverlusten“ infolge der Inflation. Die realen Einbußen bei Renten und Sozialeinkommen sind nicht weniger hoch, so dass diese Aussage generell für alle Masseneinkommen gilt.
Wie ist das möglich? Warum kommt es heute, im Unterschied zu 1922/23, vom ersten Tag der Inflation an zu einer derart krassen Ungleichverteilung der Einkommen und der Vermögen? Die Antwort hierauf liegt im Charakter der gegenwärtigen Inflation begründet, in deren Eigenschaft als einer Angebots- sowie Kostendruck- und Gewinninflation. Im Unterschied zu früheren und anderswo stattfindenden Inflationsprozessen war es diesmal eben nicht eine unsolide Finanzpolitik der Vorjahre, welche die Inflation herbeigeführt hat. Und auch nicht eine „falsche“ Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, wie immer wieder behauptet wird. Es ist gegenwärtig auch keine überzogene Kauflust und Konsumgier der Bevölkerung zu konstatieren, die zu einer das Angebot übersteigenden Nachfrage beitragen und damit zur inflationären Aufblähung der Geldmenge führen würde. – Nein, diesmal sind es vor allem die unverschämten und jedes ökonomisch vernünftige Maß übersteigenden Preiserhöhungen multinationaler und deutscher Konzerne, Großunternehmen und Handelsketten, welche die Inflation verursacht haben und diese bis heute am Laufen halten. Wir sprechen deshalb von einer Angebots- sowie Kostendruck- und Gewinninflation, weil die entscheidenden Impulse dafür von der Angebotsseite, von den Unternehmen, ausgehen und nicht etwa von einer Aufblähung der Geldmenge, wie es der Inflationsbegriff eigentlich nahelegt.
Bestimmten Unternehmen ist dies möglich auf Grund ihrer Preissetzungsmacht, ihrer monopolistischen und oligopolistischen Marktmacht, über die sie heute auf Grund jahrzehntelanger Konzentrations- und Zentralisationsprozesse verfügen und weil der Privatisierungs- und Deregulierungswahn der Regierungen ihnen diese Macht in die Hände gespielt hat. Hinzu kommen Produktionsausfälle, Lieferengpässe, Umstrukturierungen der Wertschöpfungsketten und anderes mehr, wodurch Preisanhebungen begünstigt werden. Auch die Reaktionen auf den Klimawandel, der ökologische Umbau der Wirtschaft und Verbesserungen der Produktqualität, zum Beispiel bei Agrarerzeugnissen, wirken kostensteigernd und befeuern die Inflation. Nicht zuletzt wirkt sich der Krieg in der Ukraine kosten- und preiserhöhend auf den Weltmärkten aus. All diese Faktoren und Wirkungen sind jedoch nur zusätzliche Momente für den inflationären Preisauftrieb. Maßgebend für diesen sind sie nicht. Dies zeigt sich schon darin, dass die entscheidenden preissteigernden Impulse von den Energiekonzernen ausgingen, und zwar lange bevor Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hat. Inzwischen profitieren fast alle Großunternehmen in Deutschland von der anhaltenden Inflation, indem sie über Preisanhebungen die Reallöhne senken und ihre Gewinne signifikant steigern können.
1923 hießen die hauptsächlichen „Inflationsgewinnler“ Stinnes, Thyssen, Klöckner, Stumm, Wolff und Herzfeld. Heute heißen die reichsten Deutschen Schwarz, Schaeffler, Würth, Quandt, Albrecht, Klatten, Kuehne, Otto. Die Namen haben gewechselt, die Klasse aber ist dieselbe geblieben. Es sind die Eigentümer des Produktivkapitals, von Immobilien und des großen Geldes.
Mittlerweile zählt man in Deutschland 117 Milliardäre und Milliardärinnen. Sie besitzen ein Gesamtvermögen von 528,4 Milliarden US-Dollar. Allein die sechs reichsten Personen verfügen über ein Vermögen von 158,5 Milliarden US-Dollar. Momentan bestreiten rund 800.000 Privatiers in Deutschland ihren Lebensunterhalt überwiegend aus eigenem Vermögen. Ihre Zahl ist seit 2020, während der Corona- und der Inflationszeit, um fast 100.000 gestiegen. Gegenüber 2010 hat sie sich nahezu verdoppelt. Die Grundlage dafür bilden gestiegene Vermögenseinkünfte, also Zinsen, Dividenden, Mieten, Pachten. Die 40 DAX-Konzerne werden 2023 voraussichtlich 54,9 Milliarden Euro an Dividenden ausschütten. Das wären 3,6 Milliarden Euro mehr als im Rekordjahr 2022. Wieviel davon direkt oder indirekt Inflationsgewinne sind, lässt sich nicht exakt ermitteln. Ihr Anteil dürfte jedoch beträchtlich sein.
Oxfam zeigt eine Reihe von Möglichkeiten auf, diese Entwicklung zu stoppen oder tendenziell umzukehren. Im Zentrum der unterbreiteten und an die Bundesregierung gerichteten Vorschläge steht, wie zu erwarten, die Steuerpolitik. Realistischerweise ist jedoch davon auszugehen, dass in Deutschland, solange die FDP in der Finanzpolitik die Richtung vorgibt, nichts davon umgesetzt werden wird. Absolut nichts! Es wäre aber wünschenswert, wenn die Analysen und die Forderungen von Oxfam in die Programme linker, sozialdemokratischer und grüner Parteien Eingang finden würden.
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