Von sich selbst ausgehen

Positionen des italienischen Differenzfeminismus

1851 fragte die US-amerikanische Abolitionistin, Frauenrechtlerin und-Wanderpredigerin Sojourner Truth vor dem Kongress der US-amerikanischen Frauenbewegung in Akron (Ohio): «Bin ich etwa keine Frau?» Als Schwarze Aktivistin stellte sie klar, dass die meisten Argumente, die am Kongress für und gegen Frauenemanzipation diskutiert wurden – zum Beispiel, dass Frauen als das «schwache Geschlecht» die Hilfe von Männern benötigten und bekämen –, für sie nicht zutrafen. Die Rede vom «Subjekt Frau» als Agentin des Feminismus ist also nicht erst heute problematisch. Schon immer gilt: Weder lassen sich für Frauen qua Frausein gemeinsame Interessen umreissen, noch ist zweifelsfrei klar, was eine «Frau» eigentlich ist.

Die Frauenbewegung lässt sich nicht analog zur Arbeiterbewegung als eine soziale Bewegung verstehen, die die Interessen einer bestimmten Bevölkerungsgruppe vertritt. Frauen sind keine eigene gesellschaftliche Gruppe, sondern in sämtlichen Bevölkerungsgruppen zu finden, in allen Klassen, Ethnien, Religionen, Regionen und so weiter. Die allermeisten Frauen definieren sich nicht in erster Linie über die Zugehörigkeit zu ihrem Geschlecht; ihre stärkeren Loyalitäten liegen in der Regel woanders.1 Solidarität unter Frauen ist möglich, aber sie muss politisch definiert und hergestellt werden, sie ergibt sich nicht von selbst. Spätestens seit Judith Butlers Buch Gender Trouble (1990)2 ist ausserdem in Zweifel geraten, was eine Frau überhaupt ist. Zwar finden sich ähnliche Gedankengänge schon früher, etwa in Monique Wittigs Diktum von 1978, dass Lesben keine Frauen seien.3 Doch mit Butler ist die Vorstellung hinzugekommen, dass das Frausein nicht nur als sozialer, sondern auch als biologischer Fakt dekonstruierbar und entsprechend unsicher sei.

Es ist offensichtlich, dass die Uneindeutigkeit des politischen Subjekts «Frau» Fragen für eine soziale Bewegung aufwirft, die sich als Feminismus begrifflich wie inhaltlich auf das Frausein bezieht. Viele Feministinnen, vor allem diejenigen aus weissen, bürgerlichen Milieus, setzten früher oft selbstverständlich das eigene Sein mit dem Frausein generell gleich und beriefen sich in ihrem Aktivismus auf eine ominöse «Weiblichkeit», deren Existenz ihnen evident zu sein schien. Ihre späteren dekonstruktivistischen Kritikerinnen sind den entgegengesetzten Weg gegangen und haben häufig sogar vermieden, Wörter wie «Frau» oder «Weiblichkeit» überhaupt noch zu verwenden – oder höchstens mit zahlreichen Relativierungen. Der damit einhergehende Verlust an politischer Schlagkraft ist ebenfalls evident.

Strategischer Essenzialismus

Dass es sich bei Kategorien für soziale Identitäten nicht um logische Definitionen oder wissenschaftliche Schlussfolgerungen handelt, sondern um politische Positionierungen, Zuschreibungen und Aneignungen, darauf haben vor allem postkoloniale Denkerinnen hingewiesen. Gayatri Chakravorty Spivak prägte dafür den Begriff des «strategischen Essenzialismus», der etwa dann angewandt wird, wenn sich politische Aktivistinnen und Aktivisten auf einen Identitätsbegriff beziehen, dank dessen sie sich selbstbewusst als Zugehörige etwa der Schwarzen- oder der Latino-Gemeinschaft positionieren können. Diese «politische Identität» ist aber nicht zu verwechseln mit einem philosophischen Identitätsbegriff, der die vollständige und exakte Gleichheit meint, also das Identischsein mit etwas oder jemandem. Linda Alcoff machte in ihrem viel beachteten Text «Who’s Afraid of Identity Politics?»4 deutlich, dass beim politischen Alltagsgebrauch des Begriffs «Identität» in der Regel klar ist, dass es auch unter den Mitgliedern der jeweiligen Gruppe zahlreiche Unterschiede und Differenzen gibt. Eine politische Identität ist nichts Fixes, sondern jederzeit veränderbar, es handelt sich immer um ein Wechselspiel von Fremdzuschreibungen und Selbstaneignungen. Und die AkteurInnen wissen das normalerweise. Die Position, dass eine Schwarze Identitätspolitik notwendig ist, speist sich also aus bestimmten politischen Anliegen: Schwarze Identitätspolitik kann sich als Kritik an Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe oder an Racial Profiling zeigen, aber auch positive Bezüge schaffen, wenn es um eigene Praxen wie beispielsweise spezifische Vorstellungen von Mutterschaft geht.5

Die Herangehensweise, die eigene Identität aufgrund von inhaltlichen Beschreibungen eines historischen Arrangements zu vergemeinschaften, ist auch in Bezug auf weibliche Identitäten möglich. Sie ist häufig versucht worden. Der staatliche Gleichheitsfeminismus der 1980er- und 1990er-Jahre ist diesen Weg gegangen: Rund um sogenannte Fraueninteressen sind «Frauenförderpläne» und «Gleichstellungsstellen» eingerichtet worden, um die identifizierten Defizite und Benachteiligungen zu beheben. Unbeeindruckt davon, dass sich im Bereich der Universitäten das Frausein im Vagen und Dekonstruierten praktisch auflöste, erhielt die Kategorie «Geschlecht » im Bereich der politischen Institutionen zunehmend Beachtung, mit positiven wie negativen Implikationen. Im Bereich der Alltagskultur bildete sich beispielsweise eine Hellblau-Rosa-Welt des Gendermarketings heraus, die es in dieser Klischeehaftigkeit zuvor nicht gegeben hatte.

In den postkolonialen und antirassistischen Bewegungen scheinen die negativen Aspekte der Identitätspolitik – dass sie nämlich immer die Gefahr birgt, die ihr zugehörigen Individuen in Stereotype zu pressen – verkraftbar zu sein angesichts der grossen strategischen Vorteile, die damit für eine freiheitliche Politik verbunden sind. In Bezug auf die Geschlechterdifferenz jedoch werden sie offenbar zu Monstern, wie sich zum Beispiel auch an den Entwicklungen der Gleichstellungspolitik, von Gender&Diversity oder Gender-Management zeigen lässt.6

Es scheint jedenfalls, als ob die Identitätskategorie «Frau» weitaus stärker stereotypisiert wird als andere soziale Differenzen. Daher lassen sich postkoloniale Begründungen für die Notwendigkeit von Identitätspolitik nicht ohne weiteres auf feministische Belange übertragen. Zumal die Geschlechterdifferenz, so konstruiert sie auch sein mag, gleichwohl einen realen, biologischen Anlass hat, nämlich die Tatsache, dass aufgrund ihrer körperlichen Verfasstheit nur etwa die Hälfte der Menschen schwanger werden kann und die andere Hälfte nicht. Entlang von «Rassenunterschieden » hingegen existieren keine substanziellen Unterschiede dieser Art; «Rasse» ist eine ganz und gar willkürliche, erfundene Kategorie.7 «Schwarzsein » muss deshalb auf jeden Fall inhaltlich konkretisiert werden, wenn es eine Bedeutung haben soll – «Frausein» aber nicht. Wie können wir also das Frausein denken und politisch wirksam werden lassen, ohne es mit inhaltlichen Zuschreibungen und Definitionen zu belasten?

Politische Praxis des Affidamento

Eine Möglichkeit dazu bietet die politische Praxis des «Affidamento», die italienische Feministinnen im Umfeld des Mailänder Frauenbuchladens Ende der 1980er-Jahre entwickelt haben.8 Die meisten von ihnen kamen aus den sozialistischen Studentinnen- und Studentenbewegungen von 1968.9 In dem 1987 erschienenen Buch Non credere di avere dei diritti 10 (Wie weibliche Freiheit entsteht, 1991) setzen sie sich als 38-köpfiges Autorinnenkollektiv erzählend und analysierend mit ihren Erfahrungen in der Frauenbewegung auseinander. Ihre Absicht war dabei freilich nicht, das Dilemma der fraglich gewordenen weiblichen Identitätspolitik zu lösen, denn zur Entstehungszeit des Buches war die Existenz von Frauen und Weiblichkeit noch weitgehend unbestritten. Ihr Thema war vielmehr ein grundsätzliches Unbehagen an der damaligen Forderungs- und Gleichstellungspolitik, die ein Grossteil der Frauenbewegung verfolgte und die die Freiheit der Frauen in der Gewährung von Rechten, Antidiskriminierungsmassnahmen, Förderplänen oder Quoten zu verankern suchte.

Als Gegenentwurf zur Gleichstellungspolitik entwickelten die Italienerinnen einen «Feminismus der Differenz» mit folgender Kernthese: Weibliche Freiheit verwirklicht sich nicht in ihrer Gleichstellung mit den Männern, nicht durch den Kampf um Anerkennung im Rahmen einer männlichen symbolischen Ordnung, die von Männern für ihresgleichen und ihre Bedürfnisse geschaffenen wurde. Vielmehr entsteht weibliche Freiheit, indem Frauen bedeutungsvolle Beziehungen untereinander aufbauen und pflegen, indem sie sich durch politisches Handeln und offene Debatten eigene Massstäbe, Spielräume und Orientierungsrahmen schaffen. Die Grundlage dafür ist, dass Frauen sich mit ihren Wünschen, Hoffnungen und Plänen nicht männlichen Autoritäten anvertrauen (italienisch: «affidare »), sondern anderen Frauen. Auf diese Weise können sie die Welt ihren eigenen Vorstellungen gemäss umgestalten, also frei werden, ohne sich männlichen Normen und Gegebenheiten anpassen zu müssen.

Im deutschsprachigen Raum ist diese politische Praxis unter dem Stichwort Affidamento bekannt geworden, was allerdings nur daran liegt, dass in der deutschen Fassung des Buches das eigentlich gewöhnliche italienische Alltagswort «affidamento» nicht übersetzt wurde und damit zu einem Label werden konnte. Zu Beginn fiel die «Politik des Affidamento» auch im deutschsprachigen Raum auf sehr fruchtbaren Boden, es gab nach Erscheinen des Buches viele Vorträge, bei denen Aktivistinnen aus Mailand ihre Vorschläge zur Diskussion stellen konnten. Doch im Schatten der deutschsprachigen Butler-Rezeption liess das Interesse an der Politik der Italienerinnen nach. Dabei rezipierten die hiesigen Gender-TheoretikerInnen nur selten die komplexe Argumentation von Gender Trouble, sondern kaprizierten sich vor allem in den Anfangsjahren ganz auf das revolutionär klingende Diktum vom biologischen Geschlecht als Konstrukt. Die Frage, wie weibliche Freiheit entsteht, erschien plötzlich uninteressant, wo doch das ganze Konzept von Geschlecht generell für obsolet erklärt werden konnte. Genau zu jener Zeit der allgemeinen Euphorie über die Aussicht, das lästige Thema Geschlecht durch dessen gänzliche Abschaffung (oder zumindest in Aussicht gestellte Irrelevanz) loswerden zu können, verbündeten sich der akademische Diskurs und der politisch-alltägliche Gleichheitsfeminismus: Dass der «Differenzfeminismus» rückwärtsgewandt, überholt und essenzialistisch sei, behaupteten nun sowohl die Akademikerinnen in ihren Butler-Kommentaren als auch Alice Schwarzer in der Emma. Da die Italienerinnen, die vom deutschen Feminismusdiskurs nicht viel mitbekamen, sich in ihren Texten weiterhin als Differenzfeministinnen positionierten,11 wurden sie, von einigen wichtigen Ausnahmen abgesehen,12 im deutschsprachigen akademischen Diskurs bald gar nicht mehr rezipiert.

Differenz als Zentrum des Feminismus

Allerdings bezog sich die «Differenz», von der im italienischen Feminismus die Rede ist, schon bald nicht mehr in erster Linie auf die Differenz zwischen Frauen und Männern, sondern vor allem auf die Differenz zwischen Frauen untereinander. Ausgehend von der Praxis der Affidamento-Beziehungen ergab sich nämlich die Notwendigkeit, mit den Unterschieden zwischen Frauen umzugehen – Unterschiede, die häufig eben auch konfliktreich waren. Daraus entstanden umfangreiche UÅNberlegungen zum Wechselspiel von Autorität und Begehren, zu der Frage von Originalität und Konformismus, zu Gruppenstrukturen, Repräsentation und so weiter.13 Nicht die Gleichheit, sondern die Differenz unter Frauen, das wurde den Italienerinnen durch ihre Debatten und Erfahrungen immer deutlicher, machen die Stärke der Frauenbewegung aus. Die Differenz bildet das Zentrum des Feminismus. Politische Wirksamkeit anzustreben bedeutet also nicht, eine weibliche Identität zu befördern, sondern: die weibliche Differenz bearbeiten, die Nichtgleichheit der Frauen ins Zentrum stellen. Diese Differenzpolitik ist also genau das Gegenteil jenes Essenzialismus, der den Italienerinnen von deutschsprachiger Seite gerne unterstellt wird. Um eine Essenz des Weiblichen geht es gerade nicht, denn Frausein ist nun endgültig nichts mehr, was inhaltlich bestimmbar wäre. Frausein kann nicht definiert, kategorisiert, gezähmt und verstanden werden. Frausein ist letztlich nichts anders als eine politische Tatsache, die sich exakt in dem Moment als Evidenz in der Welt zeigt, wo eine Person von sich sagt: «Ich bin eine Frau.» Frausein ist nicht losgelöst zu verstehen von den Frauen, die mit ihrer Präsenz in Fleisch und Blut dafür einstehen, dass es Frauen gibt – sie selbst sind nämlich Frauen. Indem sie selbst ihr Frausein und das anderer Frauen für bedeutsam halten, entwickelt das Frausein in der Welt Wirksamkeit, ohne dass es nötig ist, inhaltlich zu bestimmen, was Frausein ist.

Die Mailänderin Luisa Muraro hat dafür in einem gleichnamigen Aufsatz von 1999 die folgende Formulierung gefunden: «Von sich selbst ausgehen und sich nicht finden lassen.»14 Mit dieser Formel der Bewegung bringt sie die beiden Aspekte zusammen, nämlich das Ich und das Frausein, die Subjektivität und die Objektivität, die Selbstwahrnehmung und die Zuschreibung, die Einzigartigkeit und das Kollektiv. Freiheitliche feministische Politik, so die Italienerinnen, besteht gerade nicht darin, das Frausein – das wir als soziale Tatsache in der Welt vorfinden, die meisten von uns, ohne dass wir uns das ausgesucht hätten – zu dekonstruieren und zu verflüssigen. Sondern darin, es zum Ausgangspunkt unseres politischen und persönlichen Handelns zu machen. An diesem Ort bleiben wir aber natürlich nicht stehen, sondern wir verlassen ihn, indem wir dorthin gehen, wo wir zu sein wünschen – und zwar ohne uns dabei «finden zu lassen», also ohne unsere Wünsche und Entscheidungen am Konventionellen, Erwartbaren, Vorgegebenen auszurichten. Auf diese Weise verändern freie Frauen die Welt. Muraro schreibt: «Die Praxis des Von-sich-selbst-Ausgehens ist eine Dekonstruktion des Ichs und der Welt. […] Die Praxis des Von-sich-selbst-Ausgehens führt zu einer Auflösung des Subjekts, ohne dass es dabei in eine Unzahl unzusammenhängender Instanzen zerlegt wird. Diese Praxis zerlegt mich in die Beziehungen, die mich die sein lassen, die ich bin, und die mich die werden lassen, die ich werden möchte, ohne dass ich mich jemals im Zentrum dieses Seins und Werdens niederlassen kann. Dies ist die enge Pforte, der Durchgang, durch den ich mich vom Nihilismus des postmodernen Denkens ‹freispiele›. Bildlich ausgedrückt heisst das: Der typische Dekonstruktionist gleicht einem Menschen, der den Ast absägt, auf dem er gerade sitzt. Gewöhnlich handelt es sich um einen Universitätsprofessor, der, nachdem er sich den Ast abgesägt hat, ‹gut› fällt, nämlich in die wirtschaftliche Sicherheit und die Vorteile seiner Rolle. Die Praxis des Von-sich-selbst-Ausgehens ist als Handlung nicht weniger radikal, aber auf der persönlichen Ebene ist sie wesentlich risikoreicher. Und sie ist fruchtbarer und glücklicher, denn sie lässt mich in die Notwendigkeit der Dankbarkeit und den Vorrang der Beziehungen fallen.»15

Souveränin sein

Das Potenzial dieses italienischen Anstosses für eine feministische Theorie und Praxis, die das Frausein zum Hebel für eine freiheitliche und eben nicht identitätspolitische Haltung nimmt, hat vor einigen Jahren die USamerikanische Politikwissenschaftlerin Linda Zerilli wiederentdeckt. UÅNber die deutsche Übersetzung ihres 2005 in den USA erschienenen Buches Feminismus und der Abgrund der Freiheit 16 ist der italienische Differenzfeminismus wieder in die deutschsprachige Debatte zurück gekehrt.17 Auf die Frage, wie Frausein einerseits eine politische Kategorie sein kann, wenn doch andererseits bestritten werden muss oder soll, dass Frausein überhaupt ein reales Kriterium ist, antwortet Zerilli im Anschluss an Hannah Arendt (auf die sich auch die Italienerinnen oft beziehen): Es gehe nicht darum, was eine Frau ist, sondern darum, wer sie ist, also um ein politisches Urteil, das darin besteht, dem eigenen Frausein eine Bedeutung zu geben.

Zerilli plädiert, anders als die Italienerinnen, auf deren spätere Arbeiten sie allerdings nicht Bezug nimmt,18 trotz aller Einwände dafür, dass Frauen im Sinne ihrer politischen Schlagkraft «im Namen der Frauen» generell sprechen sollen. Sie schreibt: «Im Hinblick auf den Feminismus wollen wir also nicht wissen, ob die Frauen/die Frau (etwa in Form einer durch gemeinsame Erfahrung verbundenen sozialen Gruppe) existieren, sondern was die Frauen/die Frau für diejenigen bedeutet, die beanspruchen, in diesem Namen politisch zu sprechen. Durch ein solches Sprechen kann eine Norm entweder weiter sedimentiert, oder aber transformiert werden. Ob ein im Namen ‹der Frauen› Sprechen eine vorgängige Definition von ‹Frauen› zementiert oder sie für Diskussion, Kritik und phantasievolle Umgestaltung öffnet, können feministische politische Akteurinnen vor diesem Sprechen einfach nicht wissen. Wenn wir uns dazu entscheiden sollten, ein ‹unbestimmtes Urteil› über die Frauen/die Frau zu formulieren, so liegt dies nicht daran, dass die Kategorie als undefinierbar geschützt oder von der öffentlichen Debatte ausgeschlossen wäre, weil sie kein legitimes Objekt des Wissens darstellte. […] In der Politik geht es vielmehr um Forderungen und Urteile – und den Mut, sie zu stellen bzw. zu fällen –, die nicht durch objektive Kriterien oder Regeln abgesichert sind. Sie können sich also weder auf ein objektives Wissen berufen noch garantieren, dass ein solches Sprechen im Namen der Frauen von anderen aufgenommen oder aufgegriffen wird.»19

Zerilli betont, dass der Gehalt einer Aussage nicht davon abhängt, ob sie beweisbar wahr oder objektiv ist, sondern ob sie wirksam wird. Und wirksam wird sie, indem andere Frauen ihr zustimmen und sie aufgreifen. Die italienischen Differenzfeministinnen sehen in diesem Vorgang keine Politik der Repräsentation, sondern eine Politik der weiblichen Autorität. Diese entsteht immer dann, wenn Frauen sich auf andere Frauen beziehen, und ist also nicht zu verwechseln mit dem Umstand, dass Frauen in unserer Gesellschaft Machtpositionen einnehmen können. Mit Autorität spricht eine Frau nicht, indem sie im Namen anderer Frauen spricht, sondern indem sie den Mut hat, originell und unkonventionell zu sein, Neues zu erschliessen. Eine so sprechende Frau ist Souveränin20 und gerade nicht Repräsentantin. Nur auf diese Weise, indem sie sich abhebt und nicht gleich ist, kann sie zum Vorbild und zur Inspiration für andere Frauen werden.

Die Erfahrung der vergangenen zwanzig Jahre zeigt allerdings, dass sich die Autorität einzelner Frauen (die ja in diesem Zeitraum durchaus beachtlich gestiegen ist, wofür nicht nur die lange Kanzlerinschaft von Angela Merkel steht) leider nicht in eine Stärkung weiblicher Autorität generell übersetzt hat. Es werden zwar mehr Frauen als früher als Personen anerkannt und können Einfluss erlangen, doch nach wie vor nur um den Preis der symbolischen Entledigung ihres Frauseins: nicht weil, sondern obwohl sie Frauen sind.21 An dieser Stelle muss deshalb heute weitergedacht werden. Einerseits kann es keine weibliche Identitätspolitik geben, weil das Konzept der Identität unvereinbar ist mit dem, was wir differenzfeministisch sinnvollerweise mit Weiblichkeit verknüpfen wollen (nämlich Freiheit, die aus der Differenz entsteht, aus der Beziehung zum Anderen). Andererseits sehen wir die Notwendigkeit, das Frausein sichtbar zu machen, um weibliche Autorität in der Welt einflussreich zu machen, damit sie zum Anknüpfungspunkt für andere werden kann – was ja heute, wie spätestens mit den Women’s Marches am 21. Januar 2017 deutlich wurde, nicht mehr ausschliesslich Frauen betrifft, sondern alle Geschlechter.22

Erschienen in: Widerspruch 69, 36. Jg, 2017.

Anmerkungen

1    Dass die weissen Frauen in den USA bei den Präsidentschaftswahlen im November 2016 mehrheitlich für Donald Trump stimmten, trotz dessen frauenfeindlichen Positionen, ist daher nicht so verwunderlich, wie viele meinen. Vielmehr war der Unterschied im Verhalten von Frauen und Männern derselben Communitys bei dieser Wahl in der Tat aussergewöhnlich gross, er betrug etwa zwischen weissen Frauen (54 Prozent für Trump) und weissen Männern (64 Prozent für Trump) zehn Prozentpunkte, was viel ist. Siehe Schrupp, Antje, 2016: Warum weisse Frauen mehrheitlich Trump gewählt haben. antjeschrupp.com/2016/11/25/warum-weisse-frauen-mehrheitlich- trump-gewaehlt-haben (Abfrage 4.3.2017).

2    Auf Deutsch: Butler, Judith, 1991: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main.

3    www.tetue.net/la-pensee-straight (Abfrage 18.2.2017).

4    Martín Alcoff, Linda, 2000: Who’s Afraid of Identity Politics? In: Moya, Paula M. L./ Hames-Garcia, Michael Roy (Hg.): Reclaiming Identity. Realist Theory and the Predicament of Postmodernism. California, 312–344 . www.alcoff.com/content/afraidid. html (Abfrage 3.3.2017).

5    Siehe z. B. Richards, Akilah S., 2016: Affirming the Value of Black Motherhood – A Personal Essay. In: Dolderer, Maya/Holme, Hannah/Jerzak, Claudia/Tietge, Ann-Madeleine (Hg.): O Mother, Where Art Thou? (Queer-)Feministische Perspektiven auf Mutterschaft und Mütterlichkeit. Münster, 114–124.

6    Vgl. Beitrag Thürmer-Rohr in diesem Heft.

7    Siehe ausführlicher dazu: Schrupp, Antje, 2015: Die Geschlechterdifferenz gibt es, eine «Rassendifferenz» gibt es nicht. antjeschrupp.com/2015/06/20/diegeschlechterdifferenz- gibt-es-eine-rassendifferenz-gibt-es-nicht, sowie meine Blogserie «Letz talk about Schwangerwerdenkönnen»: antjeschrupp. com/2013/02/18/letz-talk-about-schwangerwerdenkonnen (Abfragen 13.4.2017).

8    Für Geschichte und aktuelle Aktivitäten der Libreria delle Donne di Milano siehe www.libreriadelledonne.it.

9    Von dieser Zeit erzählt Luisa Muraro in einem biografischen Interview mit Riccardo Fanciullacci, siehe Muraro, Luisa, 2015: Nicht alles lässt sich lehren. Rüsselsheim.

10 Wörtlich übersetzt: «Nicht glauben, Rechte zu haben». Das Buch erschien vier Jahre später auf Deutsch: Libreria delle Donne di Milano, 1991: Wie weibliche Freiheit entsteht. Berlin.

11 Neben der monatlich erscheinenden Zeitschrift des Mailänder Frauenbuchladens Via Dogana veröffentlichten die Italienerinnen regelmässige Flugschriften, die Sottosopras («Drunter und Drüber»). Bereits 1983 war ein Grünes Sottosopra erschienen (auf Deutsch als E-Book neu aufgelegt: Libreria delle Donne di Milano, 2016: Grünes Sottosopra – Mehr Frau als Mann, hg. vom Internetforum www.bzw-weiterdenken. de), wichtig war insbesondere das 1996 erschienene Rote Sottosopra (auf Deutsch: Das Patriarchat ist zu Ende. Rüsselsheim 1996; inzwischen auch im Internet abrufbar: sottosopra0.tripod.com). Ausserdem veröffentlichten einzelne Protagonistinnen Bücher (herauszuheben: Muraro, Luisa, 1991: Die symbolische Ordnung der Mutter. Frankfurt am Main) und es erschienen regelmässig Sammelbände zu Ringvorlesungen der Philosophinnengruppe Diotima an der Universität von Verona, davon auf Deutsch erschienen: Diotima (Hg.), 1999: Jenseits der Gleichheit. Königstein; Diotima (Hg.), 1999: Die Welt zur Welt bringen. Königstein; Diotima (Hg.), 2012: Macht und Politik sind nicht dasselbe. Sulzbach.

12 Hier sind insbesondere die Arbeiten von Andrea Günter zu nennen; siehe www.andreaguenter.de/buecher/ (Abfrage 13.4.2017).

13 Es ist an dieser Stelle aus Platzgründen nicht möglich, diese Debatten nachzuzeichnen. Interessante Einblicke in die Arbeitsweise und die Entwicklungen der Italienerinnen bieten Dorothee Markert: «Diotima – Philosophie aus der Praxis», und Giannina Longobardi: «Veränderungen in der Philosophinnengemeinschaft Diotima», im Sammelband: Diotima (Hg.), 1999: Die Welt zur Welt bringen. Königstein.

14 Muraro, Luisa: Von sich selbst ausgehen und sich nicht finden lassen. In: Diotima (Hg.), 1999: Die Welt zur Welt bringen. Königstein, 18–37.

15 Ebd., 36.

16  Zerilli, Linda M. G., 2015: Feminismus und der Abgrund der Freiheit. Wien/Berlin.

17 Siehe z. B. Grubner, Barbara/Birkle, Carmen/Henninger, Annette (Hg.), 2016: Feminismus und Freiheit. Geschlechterkritische Neuaneignung eines umkämpften Begriffs. Sulzbach.

18 Zerilli rezipiert lediglich Wie weibliche Freiheit entsteht, die weiteren Arbeiten der Italienerinnen scheint sie gar nicht zu kennen.

19 Zerilli, Linda M. G., 2015: Feminismus und der Abgrund der Freiheit. Wien/Berlin, 238.

20 Siehe dazu Schrupp, Antje, 2016: Darüber stehen. Über weibliche Souveränität. In: Carstensen, Tanja/Gross, Melanie/Schrader, Kathrin (Hg.): Care sex net work. Feministische Kämpfe und Kritiken der Gegenwart. Münster, 78–84; sowie Buttarelli, Annarosa, 2012: Souveräninnen. In: Diotima (Hg.): Macht und Politik sind nicht dasselbe. Sulzbach, 170–193.

21 Siehe dazu die UÅNberlegungen von Markert, Dorothee, 2017: Warum «weibliche Autorität » und nicht «Autorität von Frauen»? www.bzw-weiterdenken.de/2017/01/warumweibliche- autoritaet-und-nicht-autoritaet-von-frauen; und dies., 2017: Weibliche Autorität in der Welt stärken. www.bzw-weiterdenken.de/2017/01/ weibliche-autoritaet-in-der-welt-staerken/ (Abfragen 13.4.2017).

22 Unter dem Banner des Feminismus versammeln sich heute nicht nur Menschen, die für frauenbezogene Forderungen eintreten, sondern eine Vielzahl an sozialen Bewegungen, siehe Hess, Amanda, 2017: How a Fractious Women’s Movement Came to Lead the Left. www.nytimes.com/2017/02/07/magazine/how-a-fractious-womensmovement- came-to-lead-the-left.html (Abfrage 15.2.2017).