Europäische Fliehkräfte und die linke Reformalternative

in (27.10.2017)

Die Ereignisse der letzten Wochen und Tage machen deutlich, dass die Idee einer gemeinsamen Weiterentwicklung eines solidarischen Europas von vielen Seiten infrage gestellt wird. Mit dem Wahlsieg der Rechtskonservativen und Rechtspopulisten in Österreich ist mit einer weiteren Verschiebung nach rechts im europäischen Kräfteverhältnis zu rechnen.

Dem künftigen Bundeskanzler in Österreich, Sebastian Kurz, geht es um die Abschottung gegenüber Migration und Flüchtlingen, aber auch um den Abriss der noch bestehenden Fundamente und Reste des keynesianischen Wohlfahrtsstaates. Die Stichworte werden künftig lauten: Aufkündigung des Verteilungskompromisses durch Beschneidung korporatistischer Praktiken, Liberalisierung des Mietrechts, Einführung von Hartz IV in Österreich, Privatisierung des Bildungswesens, Zwei-Klassen-Medizin, Kahlschlag im Arbeitslosenversicherungsrecht etc.

Auch in Tschechien hat sich mit Milliardär Andrej Babis und den Erfolgen der Rechtsparteien eine politische Verschiebung durchgesetzt. Der Populist kam mit seiner Protestbewegung ANO (»Ja«) auf 29,6 Prozent der Stimmen, ein Zuwachs von knapp 11 Prozentpunkten gegenüber 2013. Im Wahlkampf hatte sich Babis als Euroskeptiker, scharfer Kritiker der Flüchtlingspolitik Angela Merkels und Gegner einer tieferen EU- Integration profiliert. Den Staat will er »wie eine Firma lenken«, weshalb er in den Medien auch »der tschechische Donald Trump« genannt. Stark zulegen konnte die rechtsradikale SPD. Sie kam auf 10,6 Prozent. »Wir wollen jegliche Islamisierung Tschechiens stoppen«, sagte Parteichef Tomio Okamura.

 

Österreich und Tschechien: New best friends?

Babis bezeichnete den österreichischen Wahlsieger Sebastian Kurz bereits als einen weiteren »Verbündeten« der Visegrad-Gruppe im Kampf gegen die EU-Flüchtlingspolitik. Zu den Visegrad-Vier zählen neben Tschechien auch Polen, Ungarn und die Slowakei. Damit kommt es innerhalb der EU zu einer deutlichen Stärkung der rechtspopulistischen Regierungen. »Die Visegrad-Gruppe braucht weitere Verbündete, wir brauchen Österreich und andere Staaten, im Balkan, Slowenien, Kroatien oder vielleicht andere«, sagte Babis. Ausdrücklich nannte er einen Mann als »Verbündeten«, der kürzlich ebenfalls als Sieger aus einer Wahl hervorging: Sebastian Kurz. Dieser vertrete mit Blick auf die Einwanderungspolitik die gleiche Haltung wie er.

Zum Kern der europäischen Staatengruppe, die eine rechte Neuausrichtung der EU fordert, gehört auch Ungarn mit seinem Regierungschef Victor Orbán. Seine These: Die EU habe aufgehört ein Werkzeug für die Verteidigung der europäischen Idee zu sein. Er spricht von »globalen Finanzimperien«, die ihre Macht und ihr Geld einsetzen, um »Personal und Medien zusammenzukaufen und ausgedehnte Netzwerke zu errichten, die schnell, stark und brutal sind«. Dieses spekulative Finanzimperium habe Brüssel im Griff, »es hat uns Millionen Migranten auf den Hals gejagt«. – »Wir aber sind zu dem Entschluss gekommen, dass Mitteleuropa die letzte migrantenfreie Zone Europas bleibt.« – »Wenn wir ein ungarisches Ungarn und ein europäisches Europa wollen, müssen wir dafür offen eintreten.«

Mit dieser Kampfansage seitens der Visegrad-Staaten bekommt die offene Frage nach der Zukunft der EU und der Währungsunion eine neue Aktualität. Dies zeigte sich auch auf dem Herbstgipfel der Staats- und Regierungschefs der EU in Brüssel. Erneut wurde deutlich, in welch angeschlagenem Zustand sich der europäische Staatenbund befindet.

Im Zentrum der Beratungen standen die aktuellen Initiativen aus den Reihen der Staatschefs und der EU-Kommission zur Stabilisierung und Vertiefung der EU und der Währungsunion. Auf Initiative von EU-Ratspräsident Donald Tusk diskutierten die EU-Regierungschefs über ein Arbeitsprogramm für die nächsten zwei Jahre, womit auch Macrons Reform- vorstellungen eingebunden werden sollen. In einer »Leaders’ Agenda« präsentierte Tusk ein Arbeits- und Reformprogramm für die EU bis zur nächsten Europawahl im Mai/Juni 2019, das die Unterstützung aller Regierungschefs fand. Neben Beschlüssen zur Verteidigungs- und Handelspolitik sowie der inneren Sicherheit sollen die Problemfelder Migration oder auch die Zukunft der Währungsunion bearbeitet werden. Um Blockaden in politisch heiklen Themen zu überwinden, will Tusk mehr Entscheidungen auf Chefebene herbeiführen. Faktisch ist bei aller Betonung des guten Willens auch das Verfahren unterschiedlicher Geschwindigkeiten in strittigen Fällen sichtbar geworden.

Können sich die Staats- und Regierungschefs nicht einigen, soll die freiwillige »verstärkte Zusammenarbeit« als Lösungsweg ausgebaut werden. Findet sich ein Kern zur Umsetzung unter den EU-Staaten, sollen Kooperationsformen möglich werden, wenn dabei die Tür für eine spätere Beteiligung anderer Staaten offen bleibt. Ein Europa mit mehreren Integrationsstufen ist in den EU-Gründerstaaten, aber auch in EU-skeptischen Ländern wie der Schweiz oder Großbritannien populär. Im Osten der EU hingegen stößt das Konzept auf dezidierte Ablehnung: Viele Osteuropäer befürchten, sie könnten zu Europäern zweiter Klasse degradiert werden.

 

Möglicher Widerstand der Visegrad-Gruppe

Die Visegrad-Gruppe ist ein loser, nicht institutionell ausgerichteter Zusammenschluss mittelosteuropäischer Länder. In den letzten Jahren wächst der Protest von Teilen der Bevölkerung gegen die vermeintliche Abhängigkeit und Fremdbestimmung durch die EU. Die politische Zielsetzung der großen EU-Staaten und der EU-Kommission im Rahmen des Dublin-Abkommens zu einer Flüchtlingsaufnahme nach Quoten zu kommen, ist in diesen Ländern – aber auch in Rumänien – auf entschiedenen Protest und Ablehnung gestoßen.

Die Versuche zu einer gemeinsamen europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik zu kommen, werden durch diesen organisierten Widerstand durch die mitteleuropäischen Länder enorm erschwert. Konsequenz: Die EU wird selbst mehr auf Abschottungsszenarien als auf Ursachenbekämpfung der Fluchtbewegung setzen, ganz zu schweigen von der überfälligen Integrationsinitiative für die schon in Europa weilenden Zufluchtsuchenden. In dem Beschluss des Gipfels heißt es u.a.: »Der Europäische Rat ist entschlossen, sein umfassendes, pragmatisches und entschiedenes Konzept weiterzuverfolgen und es anzuwenden, wann immer dies nötig ist.«

Faktisch heißt das: Seit Juli 2017 gehen die Überfahrten von Migranten und Flüchtlingen über das Mittelmeer stark zurück. Grund für den Rückgang sind die verstärkten Außenkontrollen und der unter Italiens Druck erfolgte häufigere Einsatz der libyschen Küstenwache im Kampf gegen Menschenschmuggler.

Die EU-Regierungschefs wollen diese Entwicklung ausbauen. Die Abgrenzungsstrategie um den EU-Raum herum soll ausgeweitet werden. Die EU-Kommission befürchtet, dass neue Flucht-Routen über das östliche Mittelmeer entstehen könnten und will dem frühzeitig entgegenwirken. Um die irregulären Migrationsströme aus Afrika einzudämmen, sollen aber zugleich legale Möglichkeiten und neue Finanzinstrumente zur Unterstützung der Heimatländer entwickelt werden. Gegenüber der Türkei soll es – allein schon um das Flüchtlingsabkommen nicht zu gefährden – keinen Abbruch der Beitrittsverhandlungen geben.

Der politische Wille, den faktisch ohnehin gestoppten Beitrittsprozess auch formell zu suspendieren oder gar abzubrechen, findet bei den meisten EU-Staaten keine Unterstützung. Für diese Schritte wäre ein EU-Beschluss mit qualifizierter Mehrheit bzw. Einstimmigkeit nötig. Doch viele Staaten befürchten eine unnötige Eskalation; zudem sucht die EU beim Flüchtlingsabkommen, der Terrorbekämpfung oder der Sicherheitspolitik die Kooperation mit Ankara. Daher geht es nur um eine »Kürzung« der »Vorbeitrittshilfen«, keineswegs um einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen.

Zu den schwierigsten Themen der politischen Agenda der EU bis 2019 gehört zweifellos der Brexit. Ursprünglich war geplant, auf dem Herbstgipfel den Startschuss für die zweite Phase der Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien zu geben. Doch die EU-27 hatten dies stets davon abhängig gemacht, dass in den Verhandlungen über den Austrittsvertrag »ausreichende Fortschritte« erzielt worden seien. Michel Barnier, der Chefunterhändler der EU, konnte nicht von substanziellen Fortschritten berichten und hat den GipfelteilnehmerInnen nicht den Übergang zur zweiten Phase empfohlen.

Beim Austrittsvertrag geht es um die künftigen Rechte der in Großbritannien lebenden EU-BürgerInnen und der in der EU-27 lebenden britischen BürgerInnen, die Vermeidung einer harten Zollgrenze zwischen Irland und Nordirland und die Austrittsrechnung, den Saldo der finanziellen Verpflichtungen und Ansprüche der Briten beim Austritt aus der EU. Im Streit über den Brexit gibt die Europäische Union nicht nach und fordert weitere konkrete Zugeständnisse von Großbritannien, bevor die Austrittsverhandlungen ausgeweitet werden.

 

Was folgt daraus für die Linkspartei?

Was folgt aus dieser politischen Agenda der politischen Führung für die Linkspartei? Unstrittig ist: Europa ist in der größten Krise: Rechtspopulismus, Jugendarbeitslosigkeit, Finanzkrise. Damit das große Projekt Europa nicht scheitert, müssten wir zu einer mittelfristig angelegten politischen Strategie kommen. In dieser Gemengelage des Erstarkens nationalistischer Tendenzen, die der Entwicklung eines gemeinsamen solidarischen Europa entgegenlaufen, plädiere ich dafür, in der Linkspartei einen Prozess der Entwicklung einer Position einzuleiten, der sich allen Tendenzen einer Renationalisierung widersetzt. Ich plädiere auch dafür, diesen Diskurs offensiv in die Sozialdemokratie und alle Institutionen links der Mitte zu tragen.

Eine Jamaika-Koalition in Deutschland bedeutet auch eine härtere Gangart bei der Durchsetzung deutscher Interessen. Und das könnte die europäischen Fliehkräfte nur bestärken. Solange wir erstens keine klare Alternative für Europa bieten mit glaubwürdigen Lösungen für die gravierenden Probleme, solange wir zweitens keine Chance eröffnen, die gescheiterte neoliberale Politik zu ändern und solange wir drittens keine Hoffnung auf eine gerechtere und bessere Zukunft entfachen können, solange werden wir den Weg für die extreme Rechte politisch nicht erfolgreich blockieren können.


Axel Troost ist stellvertretender Vorsitzender der Partei DIE LINKE und finanz- politischer Sprecher der Bundestagsfraktion DIE LINKE.