Anschläge in Belgien – Verbindungen nach Saudi Arabien

in (10.10.2016)

Im März 2016 erlebte Europa den zweiten schweren Terroranschlag innerhalb von fünf Monaten. Der Anschlag, zu dem sich der IS bekannte, zeigt zum wiederholten Mal, wie ernst es die militante Gruppierung mit Training, logistischer Vorbereitung und taktischer Durchführung von Anschlägen in Europa meint. Obwohl der Anschlag offenbar durch die Verhaftung von Salah Abdeslam (in Belgien geborener französischer Staatsbürger, der direkt in die Pariser Anschläge involviert war) ausgelöst oder zumindest früher als geplant ausgeführt wurde, so lässt sich aufgrund der in der Wohnung der Attentäter gefundenen Materialien und der Komplexität der Bombenanschläge mit Bestimmtheit sagen, dass dies nicht bloß eine ungeplante Reaktion war. Erste offizielle Angaben machten die Attentäter – den Bombenbauer Najim Laachraoui sowie die Brüder Ibrahim und Khalid el-Barkraoui – als belgische Staatsbürger aus. Während die Suche nach dem vierten Täter fortgesetzt wurde, stand die Frage im Raum, wo der nächste mögliche Anschlag stattfinden oder wie am bestem einem umfassenden Angriff des IS auf Westeuropa begegnet werden könne.

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Der Brüsseler Tatort

Die vordringlichste Frage zu den Brüsseler Anschlägen hat in der öffentlichen Diskussion keine Beachtung gefunden: Warum passiert das in Belgien? Es war offensichtlich die Verfolgung der Attentäter von Paris, die die Ermittler nach Brüssel führte; es wäre somit für die Terroristen extrem riskant gewesen, ihren Aufenthaltsort zu verlassen. Aber warum endete die Verfolgungsjagd in Belgien? Warum waren so viele der Attentäter von Paris und nun jene von Brüssel belgische Staatsbürger? Was geht da in Belgien vor sich? Auf den ersten Blick scheint alles nach Syrien zu deuten – die IS-Führung koordinierte und befahl die Angriffe, die im Einklang mit der globalen jihadistischen Mission des IS verübt wurden. Das mag zutreffen. Aber es ist erneut zu fragen, warum in Belgien und nicht in der Schweiz oder in Norwegen oder Rumänien? Eine gründliche Untersuchung dieser Fragen wird am Ende zeigen, dass der Brüsseler Tatort eine saudisch-wahhabitische Handschrift trägt und das grundlegende Problem, dem sich die internationale Gemeinschaft im Kampf gegen den Terrorismus gegenübersieht, umso deutlicher machen.

Nasser und das Haus Saud

Wie ich in einem früheren Text (Wahhabism, ISIS, and the Saudi-Connection) dargestellt habe, beruht die wahhabitische Doktrin, der der IS folgt, auf den Praktiken des derzeitigen religiösen Establishments in Saudi-Arabien. Dessen atavistische, puritanische Auslegungen begründen ebenso eine Herrschaft durch das Schwert wie die Verbreitung dessen, was das Haus Saud als reinste Form des Islam betrachtet, in der gesamten muslimischen Welt und darüber hinaus. Die königliche Familie ist von dieser Auslegung abhängig, da diese der Herrschaft ihrer Dynastie religiöse Legitimität verleiht.

Um zu verstehen, wie dies mit den Brüsseler Anschlägen zusammenhängt, muss man ins Jahr 1964 zurückgehen. König Faisal hatte gerade seinen Halbbruder König Saud aufgrund von dessen außenpolitischer Inkompetenz und exzessiver öffentlicher Ausgaben abgesetzt. König Saud, in Saudi-Arabien weitgehend als Paria geächtet, hatte immer wieder versucht, sich den aufrührerischen Medien und den Angriffen des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser entgegenzustellen, der versuchte, in der königlichen Familie Zwietracht zu säen und im Königreich Chaos zu stiften. Nasser verbreitete außerdem überall im Nahen Osten eine einflussreiche arabisch-nationalistische Botschaft, und die Saudis sahen darin eine direkte Bedrohung ihrer Herrschaft in ihrem Königreich. Nasser verunglimpfte öffentlich die königliche Familie und machte sie lächerlich; er förderte damit die politische Opposition und gewährte letztlich dem saudischen Prinzen al-Talal, der die dynastische Struktur hatte liberalisieren wollen, Asyl in Ägypten. Dies war eine massive Blamage für das Königreich.

Während König Saud im Vergleich zu Nassers Einfluss als chronisch schwach wahrgenommen wurde, gelang es Prinz Faisal, die Unterstützung der Kleriker zu erlangen, was letztlich die Absetzung Sauds ermöglichte. Dies hatte jedoch einen Preis. Im Gegenzug überließ König Faisal dem religiösen Establishment im Königreich beträchtliche Machtbefugnisse und erlaubte den Al Shaykh, einer Familie mit starkem religiösen Einfluss, das Bildungssystem zu reformieren, über die Frauenrechte zu bestimmen und – was mit Blick auf die Ereignisse in Brüssel am wichtigsten ist – die Ausgaben für die religiöse Missionierung im Ausland zu kontrollieren.

Nur wenige Jahre zuvor, 1962, hatte Riad die Islamische Weltliga (Rabita), eine muslimische Nichtregierungsorganisation, ins Leben gerufen, deren Ziel darin besteht, „die Muslime weltweit zu einen und aus ihrer Mitte all jene Kräfte zu tilgen, die Uneinigkeit schaffen, sowie alle Hindernisse zu beseitigen, die einer weltweiten Einheit der Muslime im Weg stehen, und gleichzeitig alle Fürsprecher karitativer Taten zu unterstützen.“ Nach der Absetzung König Sauds und der Einleitung konservativer Reformen durch König Faisal wurde die Islamische Weltliga zum antikommunistischen Missionierungswerkzeug im Kampf gegen Nassers arabisch-nationalistische Agenda in der Region. Zusammen mit den sprunghaft steigenden Einnahmen aus Erdölverkäufen im darauffolgenden Jahrzehnt (der Preis stieg von drei Dollar pro Barrel 1970 auf 35 Dollar pro Barrel 1980) verschaffte dies König Faisal und dem Al-Shaykh-Establishment beinahe unbegrenzte Möglichkeiten, ihren wahhabitischen Glauben auf dem gesamten Globus zu verbreiten. Belgien wurde zum Unterstützer dieser religiös motivierten Außenpolitik, als König Baudouin 1967 einen Vertrag über Erdöllieferungen mit König Faisal abschloss.

Die Islamische Weltliga und die Öl-Dollars

In den 1960er Jahren führten Belgiens Bedarf an billigen Arbeitskräften und lockere Einwanderungsgesetze eine große Anzahl von Zuwanderern v. a. aus Marokko und der Türkei nach Belgien. Mit dem Ziel, aus diesen demographischen Veränderungen Kapital zu schlagen, gelang es Faisal, einen kostenfreien 99-jährigen Pachtvertrag für die älteste Moschee in Brüssel, die Große Moschee, zu erhalten und diese durch den finanziellen Einfluss der Islamischen Weltliga zu einem islamischen Kulturzentrum zu machen. Die Moschee war ursprünglich 1880 gebaut wurden und befand sich in einem schlechten Zustand. Die Islamische Weltliga finanzierte eine elf Jahre dauernde Restaurierung, 1978 wurde die Moschee wiedereröffnet; die Weltliga veranlasste jedoch auch den Import frommer Imame aus dem Golfstaat, die daraufhin ihre saudi-wahhabitische Indoktrination begannen.

Die Weltliga hat das Islamische Kulturzentrum in Brüssel seit dem belgisch-saudischen Ölabkommen von 1967 ununterbrochen finanziert, exakte Zahlen lassen sich jedoch nicht ermitteln, weil es über die Jahre keine Buchprüfungen gegeben hat und das saudische Königshaus die Bilanzen der Organisation unter Verschluss hält. In den letzten zwanzig Jahren hat es jedoch einige Einblicke gegeben. 1997 dankte der Generalsekretär der Islamischen Weltliga dem Nachfolger König Faisals, König Fahd, für dessen fortgesetzte Unterstützung und deutete an, dass das Haus Saud seit 1962 1,33 Milliarden Dollar gespendet hatte. 2002 veröffentlichte die saudische Zeitung Ain Al-Yaqueen einen detaillierten Bericht über das Ausmaß der weltweiten saudi-wahhabitischen Finanzhilfen und stellte fest, dass „die Kosten von König Fahds Anstrengungen auf diesem Gebiet astronomisch hoch sind und sich auf viele Milliarden saudischer Riyals belaufen. Zur Bilanz islamischer Institutionen gehören 210 islamische Zentren, die teilweise oder vollständig von Saudi-Arabien finanziert werden, mehr als 1.500 Moscheen und 202 Hochschulen sowie fast 2.000 Schulen für muslimische Kinder in nichtmuslimischen Ländern in Europa, Nord- und Südamerika, Australien und Asien.“ Darüber hinaus wurde in der Dokumentation „The Qur’an“ des britischen Filmemachers Antony Thomas von 2008 die saudi-wahhabitische Finanzierung in den letzten 30 Jahren auf über 100 Milliarden Dollar geschätzt.

Die Ausweisung eines saudischen Botschaftsmitarbeiters

Brüssel hat derzeit einen muslimischen Bevölkerungsanteil von fast 25 Prozent. Unter ihm hat der finanzielle Einflussnahme aus Saudi-Arabien ein Umfeld geschaffen, in dem Extremismus und Fanatismus gedeihen können – ein Umfeld, das fast 50 Jahre lang keinerlei Kontrolle unterlag. Dennoch brachte eine Wikileaks-Enthüllung Details über die Eskalation extremistischer Entwicklungen in Brüssel in den letzten zehn Jahren ans Tageslicht. Wie aus einer diplomatischen Korrespondenz aus dem Jahr 2007 hervorgeht, waren US-Diplomaten über die Verteilung von Koran-Ausgaben durch die saudische Botschaft an über 350 Moscheen in ganz Belgien, selbst an nichtarabische türkische, besorgt und stellten fest, dass „nach Angaben eines türkischen Mitglieds des Exekutivrats der Muslime die religiöse Bildung durch Imame aus dem ‚Mutterland‘ eher zur Entfremdung oder Radikalisierung der in der westlich geprägten belgischen Gesellschaft aufgewachsenen Muslime führe, die auf die strikten Vorgaben einer religiösen Führungsfigur aus einem weniger offenen, ‚fremden‘ Heimatland reagieren. Das hat zu einer wachsenden Kluft zwischen Formen der religiösen Praxis, vor allem zwischen den Generationen, geführt,“ und „es gibt nur wenige öffentliche Aktionen, die Belgien mit dem radikalen Islam in Verbindung bringen, dennoch ist die Situation besorgniserregend. Am beachtenswertesten – und blamabel für das Land – war der Tod der belgischen Staatsbürgerin Muriel Degauque in November 2005 in der Nähe von Bagdad nach einem von ihr versuchten Selbstmordanschlag. Degauque, 38, war zum Islam konvertiert, dem Glauben ihres marokkanischen Ehemanns, der bei einem Terroranschlag im Irak ums Leben gekommen war. Sie war die erste europäische Frau, die zur (gescheiterten) Selbstmordattentäterin wurde.“

Eine saudi-arabische diplomatische Korrespondenz beschrieb 2012 detailliert den Anstieg des Extremismus, verwies darauf, dass die belgische Regierung den Direktor des Islamischen Kulturzentrums, Khalid Alabri, stillschweigend durch die saudische Botschaft hatte entfernen lassen, und führte dazu aus, dass „seine Predigten salafistisch, antiisraelisch und antiwestlich waren. Die Grundmaxime war der absolute Vorrang des Salafismus.“ Außerdem enthüllte diese Korrespondenz auch, dass ein Mitarbeiter der saudischen Botschaft in Belgien 2012 aufgrund seiner Rolle bei der „Verbreitung des extremistischen, sogenannten Takfiri-Dogmas“ ausgewiesen wurde.

Belgiens Muslime

Über diesen vom Königshaus Saud systematisch beförderten religiösen Extremismus hinaus haben Belgiens Muslime einen Niedergang ihres soziokulturellen Status sowie soziale Ungleichheit erfahren. Die US-amerikanische diplomatische Korrespondenz von 2007 verwies auch darauf, dass „Diskriminierung auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt stark abgegrenzte ‚Ghettos‘ sozial Benachteiligter wie Molenbeek, Scaarbeek und St. Josse geschaffen hat, in denen überdurchschnittlich viele Muslime ungeachtet ihres Bildungsgrades oder Einkommens leben. Nach Angaben der OECD ist die Arbeitslosigkeit von im Ausland geborenen Einwohnern doppelt so hoch wie bei in Belgien geborenen. Unter der muslimischen Bevölkerung gibt es auch höhere Geburtenraten; mit dem Ergebnis, dass ein Drittel der Türken und Marokkaner unter 18 Jahren ist – im Vergleich zu einem Fünftel unter alteingesessenen Belgiern. Ein Viertel der Einwohner von Brüssel unter Zwanzig haben muslimische Wurzeln, und geschätzte fünfzig Prozent der muslimischen Jugend in Brüssel ist arbeitslos.“

Religiöse Unterdrückung wurde auch dokumentiert: „Der ‚Hijab‘ (Kopftuch) gehört zur üblichen Alltagskleidung für türkische und arabische Frauen in Brüssel. Die Entscheidung der Stadtverwaltung von Antwerpen im letzten Oktober, das Tragen des Hijab an staatlichen Schulen und für Beamte zu verbieten, hat jedoch zu zunehmenden Spannungen geführt.“ Jahre der Benachteiligung, sozialer Ungerechtigkeit und Ausgrenzung haben ein Pulverfass der Feindseligkeit unter der aufgebrachten muslimischen Jugend Belgiens geschaffen. Ausgelöst durch das Erstarken des IS in Syrien, greift der wahhabitische Jihad in Westeuropa auf Moscheen zurück, die unter saudi-wahhabitischem Einfluss stehen, und wird solange die Bühne beherrschen, bis das Grundproblem angegangen wird.

„Dies ist kein Zufall“

Terrorismus gedeiht dort, wo schwindende Chancen auf steigende Erwartungen treffen. Belgiens Schwierigkeiten, muslimische Einwanderer in den letzten fünfzig Jahren in die Gesellschaft zu integrieren, erklären zusammen mit der heftigen, andauernden Dosis von Wahhabismus, warum Belgien pro Kopf den größten Anteil ausländischer Kämpfer stellt, die für den IS kämpfen – sie erklären, warum die Hälfte der belgischen Terroristen in Belgien geboren wurde, warum fünf der elf Pariser Terroristen belgische Staatsbürger oder in Belgien aufgewachsen waren. Dies ist kein Zufall. Die Doktrin des Wahhabismus, die in Saudi Arabien uneingeschränkte Unterstützung und Umsetzung erfährt, hat sich weltweit als größte und wichtigste Quelle für religiösen Extremismus erwiesen. Seit dem Aufstieg des IS 2011 haben dessen wahhabitische Glaubensvorstellungen weltweit unterdrückte muslimische Jugendliche in ihren Bann gezogen, v. a. in Moscheen, die unter starkem Einfluss der Islamischen Weltliga stehen. Es ist davon auszugehen, dass die Zahl derartiger Gewaltakte nicht nur in Westeuropa zunehmen wird, sondern überall dort, wohin saudi-wahhabitische finanzielle Unterstützung in den vergangenen fünfzig Jahren ihren Weg gefunden hat. Antiterroraktionen und militärische Einsätze werden diesem Fanatismus kein Ende setzen können. Die halbherzige Unnachgiebigkeit der Außenpolitik des Westens hat sich als dessen größte Schwäche erwiesen. Wenn die internationale Gemeinschaft das Problem nicht innerhalb Saudi-Arabiens direkt angeht, indem sie ihre Strategie beendet, die das Königreich stärkt, dann wird die Existenz des Königreichs über Jahre und Jahrzehnte islamischen Terrorismus begünstigen. Zu viele Unschuldige haben bereits ihr Leben verloren, und noch unzählige mehr werden sterben, wenn die Zentrale des Wahhabismus in Riad nicht demontiert wird.

Lincoln Clapper. Ein weiterer Artikel des Autors unter:

http://www.geopoliticalmonitor.com/wahhabism-isis-and-the-saudi-connection/

Aus dem Englischen von Anja Zückmantel.