Die Bevölkerung in weiten Teilen des Nahen und Mittleren Ostens leidet unter Mord, Terror und Vertreibung, während die Herrschenden „Schraps hat den Hut verloren“ zu spielen scheinen. Ende Mai wurde in Washington ein – in Teilen zensiertes – Papier des Geheimdienstes der USA-Streitkräfte DIA (Defense Intelligence Agency) veröffentlicht, dessen Freigabe eine republikanische Gruppierung per Gerichtsbeschluss gegen die Regierung erzwungen hatte, datiert auf den 12. August 2012. Darin steht: „Die Salafisten, die Muslimbruderschaft und al-Qaida im Irak sind die treibenden Kräfte des Aufstands in Syrien“, und weiter: „Der Westen, die Golfstaaten und die Türkei unterstützen die Opposition, während Russland, China und Iran das Regime unterstützen.“ In Washington wird jetzt gestritten, ob die US-Regierung, der Westen und seine Verbündeten damals al-Qaida im Irak – aus dem später der sogenannte Islamische Staat in Irak und Syrien (ISIS, oder nur IS) hervorging – unterstützt haben, oder ob die Regierung damals nur heuchelte, dass die militärische Opposition gegen Assad in Syrien von weltlichen, westlich orientierten Kräften getragen werde, während die islamistischen Kräfte, die von den Golfstaaten und der Türkei unterstützt wurden, längst das Heft des Handelns in der Hand hielten.
Der syrische Präsident Bashar al-Assad sagte am 20. April 2015 dem französischen Sender France 2, befragt, ob er den Islamischen Staat geschaffen habe, um sein Vorgehen hinter diesem zu verstecken, der IS sei „2006 unter der Aufsicht der USA im Irak geschaffen“ worden. „Ich bin nicht im Irak, ich habe den Irak niemals kontrolliert, das waren die USA, und der ISIS kam aus dem Irak nach Syrien, denn das Chaos ist ansteckend.“ Raniah Salloum, die in Frankreich und den USA studiert hat und für Spiegel Online schreibt, betont, der IS sei dreierlei: eine der stärksten Milizen im Irak und in Syrien, das konkrete Projekt einer Staatsbildung und eine „Marke“, die konservative, islamistische junge Männer und Frauen bis nach Europa „elektrisiert“.
Burak Kadercan, Professor am US-Naval War College in Newport, schätzt ebenfalls ein, dass es dem IS tatsächlich um einen Staat gehe. Die im Internet präsentierten Gewalttaten seien nicht einfach barbarische Akte religiöser Fanatiker, sondern dienten als „Angstfaktor zur Erhöhung seiner Wirkungsmacht“ und sollten als „grausame Werbespots einer andauernden und durchgeplanten Werbekampagne“ auf dem „weltweit hart umkämpften Markt für Gotteskrieger“ angesehen werden. So erklärt sich denn auch, weshalb junge Menschen aus Europa zu Tausenden in das IS-Reich strömen und andere in Nordafrika oder in Nigeria ihre dort verübten Untaten an den IS-Spots orientieren und sich selbst zu Ablegern des IS erklären. Hinter dem IS stehen nicht nur religiöse Fundamentalisten, sondern sunnitische Offiziere und Geheimdienstler, die einst im Dienste Saddam Husseins ihr Handwerk gelernt haben.
„Ein Versagen der arabischen Eliten“ diagnostiziert Martin Gehlen, Nahost-Korrespondent verschiedener deutscher Zeitungen und gelernter Theologe in der Badischen Zeitung. Er nennt die Vorgänge um den IS eine „Katastrophe“ und eine „regionale Kernschmelze“. Sie hätten drei Ursachen:
(1) das Erbe der US-Invasion. „Die USA und Europa bekommen jetzt die Rechnung präsentiert für die wohl teuerste militärische Fehlentscheidung des Westens aller Zeiten.“ Der IS ist kein Produkt des syrischen Bürgerkrieges, sondern des Irak nach Saddam Hussein.
(2) Die „strukturelle Bigotterie der reichen Golfstaaten“, die sich als Bollwerk gegen den Extremismus ansehen, tatsächlich jedoch „mit ihrer puritanisch-islamistischen Weltmission militante Rechtgläubigkeit, Verteufelung Andersgläubiger und kulturelle Intoleranz“ fördern. Hier fehlt die Feststellung, dass sie militant salafistische Gruppen auch heute noch direkt finanzieren und den Konflikt mit den Schiiten, in Bahrein oder gegen den Iran, anfeuern.
(3) Die wichtigste Ursache sieht er in den Defiziten der politischen Kultur im Nahen Osten – das gleiche Machtgebaren aller Potentaten, ob gekrönt oder über einen Umsturz an die Macht gelangt: „Wer am Drücker ist, quetscht seine Kontrahenten so unerbittlich an die Wand, bis ihnen die Luft wegbleibt. Mahnungen zu Mäßigung, Deeskalation und politischer Integration werden als naive Moralpredigten belächelt, politische Ämter primär verstanden als Instrumente zur privaten Selbstbereicherung.“
Dies ist der Hintergrund, vor dem sich am 2. Juni in Paris die Außenminister der „Anti-IS-Koalition“ trafen. 24 Delegationen und Vertreter der UNO berieten die Lage um den IS, neun Monate nach Gründung dieser Koalition und nachdem deren Luftwaffe 4.100 Einsätze gegen Stellungen der IS-Einheiten geflogen hatte. Vermeldet wurde, über 10.000 IS-Kämpfer seien durch die Luftangriffe getötet worden. Dennoch hatten diese kurz vor dem Pariser Treffen die Stadt Ramadi im Irak und Palmyra in Syrien erobert. Das wurde von den Teilnehmern nun in diplomatischer Zurückhaltung als „Rückschlag“ bezeichnet. Aber „unsere Entschlossenheit ist hundertprozentig“, verkündete der französische Außenminister Laurent Fabius. Der IS kontrolliert zur Zeit etwa die Hälfte Syriens und ein Drittel des Territoriums im Irak und steht etwa 100 Kilometer vor Bagdad. Über die Hälfte der IS-Milizen kommt inzwischen aus dem Ausland. Die „Werbekampagne“ funktioniert.
Der frühere Vize-Chef der CIA, John Edward McLaughlin, hat in der Washington Post vier Bedingungen erläutert, unter denen der Islamische Staat den Krieg gewinnen könnte:
(1) Die Koalition schickt keine Bodentruppen, obwohl die irakische Armee allein nicht in der Lage ist, den IS zu schlagen. Die Alternative wäre der Einsatz von US-Truppen, den aber weder die Bevölkerung der USA noch der derzeitige Präsident wollen.
(2) Der IS erobert Bagdad und setzt sich dort fest. Das wäre von hoher symbolischer Bedeutung.
(3) Der Irak zerfällt, weil die schiitische Regierung die Sunniten weiter von Staat und Armee fernhält, während die Kurden im Norden auf sich allein gestellt bleiben und nun ihre volle Unabhängigkeit anstreben.
(4) Der Iran zieht seine Kräfte zurück, die bisher bei den Kämpfen am Boden in Irak eine wesentliche Rolle spielen – woran aber weder den USA noch Saudi-Arabien gelegen ist.
In Paris wurden der irakischen Regierung Waffen und Ausbildungshilfe versprochen. Eine stringente Strategie gibt es nicht. Verabredungen zu Vereinbarungen mit der Türkei wurden nicht getroffen. Über deren Territorium strömen aber vor allem die ausländischen Kämpfer zum Islamischen Staat. Und sie setzt den Schwerpunkt weiter auf den Sturz Assads, nicht den Kampf gegen den IS. Es hieß, der Schlüssel liege in Bagdad. Die irakische Regierung solle die Sunniten im Land stärker beteiligen. Das war auch die Bekundung des deutschen Außenministers. Deutschland werde mit den Vereinigten Arabischen Emiraten eine Arbeitsgruppe bilden und den Wiederaufbau fördern. Dafür sollen 20 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Nach Berechnungen der US-Regierung sind mindestens 500 Millionen erforderlich, um die schlimmsten Probleme im humanitären Bereich und in der Infrastruktur zu bewältigen. Wo ist Schraps’ Hut jetzt?