Zur sozialen Reproduktionskrise
Wir befinden uns derzeit in einer tiefen Überakkumulationskrise (vgl. Candeias/Rilling 2009). Die Gründe für solche Verwertungskrisen des Kapitals sieht Marx in inneren Widersprüchen des Kapitalismus, die er u.a. im Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate verdeutlicht (MEW 25, 221ff). In solchen Situationen reagiert das Kapital in vielfältiger Weise: Unternehmen schränken die Realinvestitionen ein und legen ihr Kapital auf dem Geldmarkt an. Unterstützt durch Deregulierungen des Finanzsektors fließen in bisher unbekanntem Ausmaß Kapitalströme in Aktien, in den Devisen-, Derivate- oder Anleihenmarkt oder andere Formen fiktiven Kapitals. Finanzspekulationen haben eine neue Quantität wie Qualität angenommen. Eine weitere Strategie ist das Ausweichen in Niedriglohnländer, wo wegen des niedrigeren technologischen Niveaus mit billigeren Arbeitskräften höhere Profitraten erzielt werden können. Gleichzeitig versuchen Unternehmen und Staat im Verbund in technologisch hoch entwickelten Ländern wie Deutschland, den Lohn für Teile der Beschäftigten unter anderem mit der Drohung von Standortverlagerungen oder dem Druck der Jobcenter unter den Wert der Arbeitskraft zu drücken.
Ferner erleben wir, wie zur Kostensenkung Sozialversicherungssysteme und staatliche Institutionen zurückgefahren werden, die für die Reproduktion der Arbeitskraft notwendig sind. So werden Aufgaben im Bereich der Erziehung und Bildung sowie der Gesundheit und Pflege in die Familien verlagert. Sie werden zusätzlicher Teil einer ohnehin schon umfangreichen familiär und zivilgesellschaftlich organisierten Reproduktionsarbeit, die für die Wiederherstellung der eigenen Arbeitskraft wie auch die Kindererziehung sowie die Unterstützung von pflegebedürftigen Personen unabdingbar ist. Dieser Bereich bleibt häufig – auch im Krisendiskurs – unsichtbar, da diese gesellschaftlich notwendige Arbeit nicht warenförmig, sondern ausschließlich am Gebrauchswert orientiert, primär von Frauen realisiert wird. Reproduktionsarbeit ist in der Bundesrepublik zeitlich um das 1,7-fache größer als die Lohnarbeit (BMFSFJ 2003). Vor allem Beschäftigte, die neben ihrer Lohnarbeit Sorgeverpflichtungen für Kinder oder pflegebedürftige Angehörige übernommen haben, kommen bei längeren und flexibilisierten beruflichen Arbeitszeiten, eingeschränkten staatlichen Betreuungsangeboten sowie durchlöcherten Sozialsystemen an die Grenzen ihrer Kräfte. Dies gilt insbesondere für Frauen, deren Erwerbsquote seit den 1970er Jahren kontinuierlich angestiegen ist und die in einer zweiten Arbeitsschicht die zunehmenden Reproduktionsarbeiten leisten müssen.
Mit all diesen Maßnahmen gelingt es zwar, den Ausbeutungsgrad der Lohnabhängigen zu erhöhen, die damit einhergehende Umverteilung der Einkommen zugunsten von Kapitalbesitzenden und Besserverdienenden bewirkt allerdings einen weiter wachsenden Überschuss an Kapital, das Anlagemöglichkeiten sucht. Um die Entwertung von Kapital zu vermeiden, nehmen staatliche Interventionen zur Absicherung des Finanz- und Währungssektors weiter zu. Die durch die Rettungsmaßnahmen verursachte Überschuldung des Staates vergrößert den Druck auf die staatlichen Leistungen, die zur Daseinsvorsorge oder anders ausgedrückt zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendig sind, sich aber aus Kostengründen nicht mehr realisieren lassen. Die Maßnahmen zur Krisenbewältigung bringen auf diese Weise neue Probleme hervor, verschärfen selbst die Krise.
Während sich viele Krisenanalysen mit den spekulativen Blasen auf den Finanzmärkten auseinandersetzen, werden die Maßnahmen des Kapitals, die zu großen Schwierigkeiten bei der Reproduktion von Arbeitskraft führen, kaum betrachtet. Das kapitalistische System ist in einem Land wie der BRD, das einen Teil seiner Überakkumulation durch Handelsüberschüsse auf andere Länder überträgt, nicht mehr in der Lage, für alle Menschen die grundlegenden Lebensbedürfnisse zu gewährleisten. Diese Situation bringt für Menschen mit geringen finanziellen und zeitlichen Ressourcen vielfältiges soziales Leid hervor. Gleichzeitig steht damit ein Teil der Arbeitskräfte nicht mehr mit der notwendigen Qualifikation und Leistungsbereitschaft als Produktivkräfte zur Verfügung. Auch der selektive Zustrom migrantischer Arbeitskräfte konnte dies bislang nicht ausgleichen. Der kapitalistische Widerspruch zwischen Senkung der Lohnkosten zur Profitmaximierung und der Notwendigkeit der Reproduktion von einsatzfähigen, breit ausgebildeten Arbeitskräften hat sich zugespitzt. Aus dem Versuch des Kapitals, mit Reallohnsenkungen und Sozialabbau der Überakkumulationskrise zu begegnen, entwickelt sich eine soziale Reproduktionskrise, die in der Folge die Kapitalverwertungsprobleme verschärft.
Während in den Analysen zur Finanzkrise Menschen kaum mehr vorkommen und Geschlechterverhältnisse allenfalls mit Bezug auf das Geschlecht der Bankiers behandelt werden, ist in der Auseinandersetzung mit der sozialen Reproduktionskrise auch analytisch der Bezug zur Lohn- und Reproduktionsarbeit mitgedacht. So kommen die asymmetrischen Geschlechterverhältnisse mit der patriarchalen Arbeitsteilung in der Produktions- und Reproduktionssphäre in den Blick.
Zu den Folgen der sozialen Reproduktionskrise
Die von Lohn und Transferzahlungen Abhängigen sind seit Jahren sozialen Angriffen ausgesetzt. In der Krise seit 2007 verschärft sich die Situation noch.
Ausdehnung des Arbeitstags und Sinken der Reallöhne
Laut AOK-Fehlzeiten-Report 2012 ist inzwischen fast jeder zweite Beschäftigte außerhalb der Arbeitszeit für berufliche Aufgaben erreichbar. Mit dieser Verlängerung des Arbeitstags auch in Urlaubszeiten hinein, verbunden mit alltäglichen Leistungsverdichtungen, verbessern Unternehmen die Verwertungsbedingungen des eingesetzten Kapitals. Gleichzeitig gelang es ihnen, den Familienlohn abzubauen und die Reallöhne zu senken. Mit der sich fortsetzenden Umwandlung von Normalarbeitsverhältnissen in Teilzeitbeschäftigung ist es ebenfalls möglich, die Arbeit intensiver zu gestalten und über den vertraglichen Umfang hinaus auszudehnen. Gleichzeitig wird seit dem Wegfall der Systemkonkurrenz verstärkt ein wachsender Teil der Lohnabhängigen unter den Wert der Arbeitskraft gedrückt. Dies erfolgt seit 2003 mithilfe der Hartz-Gesetze durch den forcierten Ausbau prekärer Arbeitsverhältnisse in Form von Minijobs, Leiharbeit, Scheinselbständigkeit und sozialversicherungsfreien Arbeitsverträgen. Viele prekär Beschäftigte können die Kosten für Nahrung, Wohnung und Kleidung nicht mehr begleichen und erhalten als »Aufstocker« finanzielle Zusatzleistungen vom Staat. Im Jahr 2010 arbeiteten laut Statistischem Bundesamt (10.9.2012) bereits 20,6 Prozent aller Beschäftigten in Betrieben mit zehn und mehr Beschäftigten im Niedriglohnsektor, über 60 Prozent davon sind Frauen. Formen der Überausbeutung gibt es ferner bei unbezahlten Praktika oder Ein-Euro-Jobs, die Erwerbslosen von den Arbeitsagenturen häufig aufgezwungenen werden. Entsprechend ging das reale Bruttoentgelt pro lohnabhängig Beschäftigtem von 1994 bis 2008 um 3,3 Prozent zurück (Demirović/Sablowski 2012, 11). Im Niedriglohnsektor fielen die Löhne zwischen den Jahren 2000 und 2010 um bis zu 30 Prozent (DIW 2011).
Abbau staatlicher Infrastrukturmaßnahmen
Durch Senkung der staatlichen Ausgaben und Erhöhung der Gebühren werden die gesellschaftlich notwendigen Aufgaben für die Reproduktion der Arbeitskraft auf die lohnabhängigen Menschen abgewälzt. Die Kürzungspolitik ist ein Angriff auf Menschen, die sich unter prekären Bedingungen und sinkenden Reallöhnen um ihre Daseinsvorsorge und die ihrer Kinder kümmern und die wegfallenden staatlichen Dienste in Bildung und Erziehung, Gesundheit und Pflege in familiären Zusammenhängen auffangen müssen.
Dort, wo staatliche Sozialausgaben für die Reproduktion der Arbeitskraft unabdingbar sind, versucht die Politik dies mit möglichst geringen Kosten zu realisieren. So wird im Bereich der Familienpolitik zwischen Leistungsträgern und Leistungsempfängern unterschieden. Während beispielweise gut verdienende Eltern für 12 bzw. 14 Monate bis zu 1 800 Euro pro Monat Elterngeld als Lohnersatzleistung beziehen können, werden bei Hartz-IV-EmpfängerInnen selbst die ihnen zustehenden 300 Euro mit dem ALG II verrechnet. Der zögerliche Ausbau der Kitas ist primär für die Absicherung der Berufstätigkeit von Eltern gedacht, das Kindeswohl bleibt zweitrangig. Es wird versucht, selbst diese Kinderbetreuungskosten zu drücken: Leiharbeiterinnen sowie un- bzw. schnell ausgebildetes Betreuungspersonal werden bereits eingesetzt – dies soll systematisch ausgeweitet werden.
Bei der Betreuung pflegebedürftiger älterer Menschen ist die staatliche Unterstützung noch deutlich geringer, werden diese ja im Gegensatz zu Kindern nicht mehr als Arbeitskräfte benötigt. Dort konnte eine bezahlte Freistellung zur Pflege – vergleichbar mit dem Elterngeld – nicht durchgesetzt werden. Nach dem Pflegezeitgesetz können sich pflegende Angehörige zwar bis zu sechs Monate von der Erwerbsarbeit freistellen lassen oder nach dem am 1.1.2012 inkraftgetretenen Familienpflegezeitgesetz ihre Arbeitszeit bis zu zwei Jahren reduzieren, allerdings bei beidem ohne jeglichen Ausgleich für die entfallenen Bezüge. So wird bei der Pflege auf das große Engagement der Angehörigen gesetzt, die mit einem, wenn überhaupt, nur geringen Pflegegeld die Sorge für Eltern und Verwandte übernehmen.
Im Bildungssystem wird mit der zwölfjährigen Schulzeit sowie einer verschulten Bachelorausbildung versucht, die frühzeitige Verwertung junger Arbeitskräfte voranzutreiben und gleichzeitig staatliche Kosten zu senken. Das Problem, dass damit junge Menschen nicht die geforderten innovativen Fähigkeiten für die sich technologisch und organisatorisch schnell wandelnden Produktionsbedingungen entwickeln können, wird mit der Forderung nach lebenslangem Lernen und »Employability« (Beschäftigungsfähigkeit) als individuell zu lösende Aufgabe an sie zurückgegeben. Bildung wird so zum »Investitionsrisiko« (vgl. Federici/Cooper in diesem Heft).
Durchlöcherung der Sozialversicherungssysteme
Das System der Solidargemeinschaft wird immer mehr aufgeweicht mit dem Ziel, Unternehmen zu entlasten und die Kosten den Betroffenen aufzuladen. Erwerbslose erhalten nur noch für einen kurzen Zeitraum ALG I, danach müssen sie am Existenzminimum mit ALG II leben. Bei der gesetzlichen Krankenversicherung fallen immer mehr Krankheiten aus dem Leistungskatalog, was sich bisher am deutlichsten bei der nur noch geringfügigen Kostenübernahme von notwendigen Zahnersatzbehandlungen zeigt. Die staatliche Rente wird seit Jahren ausgehöhlt, sodass Millionen Rentner mit Altersarmut konfrontiert sind. Viele arbeiten bereits in Minijobs, um mit ihrer viel zu geringen Rente irgendwie über die Runden zu kommen. Das Rentenniveau soll auf 43 Prozent des Nettoeinkommens sinken. Das heißt, in Zukunft werden Durchschnittsverdiener mit einem monatlichen Lohn von 2 500 Euro nach 35 Arbeitsjahren gerade einmal eine Rente auf Grundsicherungsniveau erhalten. Niedriglöhner, v.a. Frauen, die aufgrund von Erziehungs- und Pflegeaufgaben diskontinuierlich und/oder in Teilzeit arbeiten müssen, erreichen weder die 35 Jahre Beitragszeiten noch ein entsprechendes Einkommensniveau (vgl. Manske 2012).
Privatisierung profitträchtiger staatlicher Funktionen
Die Privatisierung von Staatsfunktionen, z.B. im Bereich der Übernahme von öffentlichen Krankenhäusern, findet nur dort statt, wo sich das Kapital Profite erwartet. So reduzieren privatisierte Krankenhäuser Liegezeiten und spezialisieren sich bspw. auf Knie- oder Hüftoperationen, da diese wie am Fließband profitabel abzuwickeln sind. Eine Gesamtversorgung ist damit ebenso wenig gewährleistet wie die Pflege nach einem operativen Eingriff. Ferner konzentrieren sich privatwirtschaftliche Konzepte aus Gründen der Profitmaximierung auf gut Verdienende bzw. Privatversicherte, was bei elitären Bildungsstätten, Wellness-Oasen oder De-Luxe-Seniorenresidenzen sichtbar wird. Im Bereich von Wohnen, Energie und Verkehr wurden umfangreiche Privatisierungen durchgeführt. Mangels Alternativen müssen auch Menschen mit niedrigem Einkommen die abgewälzten höheren Kosten in Kauf nehmen, da der sozial geförderte Wohnraum rapide abnimmt und die Mobilitäts- und Energieversorgung aufgrund technologischer Voraussetzungen tendenziell Monopolstrukturen aufweisen.
Zunehmende Reproduktionsarbeit
Es sind die Reproduktionsarbeitenden, primär Frauen, die Reallohnsenkungen, Kürzungen öffentlicher Dienstleistungen, mangelnde Kinderbetreuung, schlechte Schulbildung, steigende Mieten, Energie- und Gesundheitskosten u.v.m. in Familienstrukturen aufzufangen haben. Auf sie fallen auch die für die Kapitalverwertung unerwünschten Nebeneffekte der Kürzungspolitik zurück: etwa Ausfallzeiten, wenn nach einer Operation ein Familienmitglied zuhause gepflegt werden muss, weil es kaum noch stationäre Nachsorge in den Krankenhäusern gibt. Die Kürzungen vermindern die Aussichten auf ausreichende (Weiter-)Qualifikation, fehlende Perspektive führt zu mangelnder Motivation. Es ist Aufgabe der Erwachsenen, sich als motivierte, gesunde, qualifizierte Arbeitskräfte zu reproduzieren. Bei Kindern und Jugendlichen übernehmen diese schwere und zeitintensive Aufgabe primär die Eltern. Konsequenz dieser hier nur umrissenen Krisenfolgen ist, dass viele Menschen, vor allem Frauen mit Sorgeverpflichtungen, deutlich überlastet sind. Zwar können sich überdurchschnittlich gut verdienende Paare über schlecht bezahlte und nicht abgesicherte Haushaltsarbeiterinnen entlasten. Der wachsenden Zahl der prekär Lohnarbeitenden bleibt nur, die zunehmenden Reproduktionsaufgaben ohne gesellschaftliche Unterstützung am Rande ihrer eigenen Überforderung neben ihrer Berufstätigkeit auszuführen.
Wie schwierig ein Leben unter diesen Bedingungen ist, zeigt sich an der sprunghaften Zunahme von depressiven Erkrankungen und neuen Krankheitsbildern wie Burnout. Laut AOK-Fehlzeiten-Report hat sich seit 1994 die Anzahl der Tage, in denen Beschäftigte aufgrund psychischer Erkrankungen arbeitsunfähig waren, nahezu verdoppelt. Auch ein dauerhaft niedriges Geburtenniveau von unter 1,4 Kindern pro Frau spricht eine deutliche Sprache. Die Mehrheit der Kinderlosen möchte die hohen finanziellen Belastungen von Eltern und verschlechterten beruflichen Chancen vor allem von Müttern nicht tragen. Hinzu kommen die wenigen Kita-Plätze, unsichere Jobs, hohe Mieten und das abschreckende Beispiel von Alleinerziehenden, von denen über 40 Prozent unter den Bedingungen von Hartz IV leben.
Die Kürzungspolitik wird sich in Zukunft durch die zu erwartende Kapitalentwertung weiter verschärfen. Den Preis für die staatlichen Rettungsaktionen von sogenannten systemrelevanten Finanzhäusern, aber auch von Inflation wird die große Mehrheit der von Lohn und Transferzahlungen abhängigen Menschen zahlen. Sie werden von den massiven sozialen Kürzungen betroffen sein, die mit der Staatsdefizit-Sanierung bereits sichtbar sind und sich weiter fortsetzen werden.
Daseinsvorsorge ins Zentrum politischen Handelns stellen
Was bedeutet die Analyse der sozialen Reproduktionskrise mit ihren Folgen für politisches Handeln? Zunächst einmal gilt es, »laut zu sagen, was ist« (Rosa Luxemburg). Es gilt die Zusammenhänge der Kapitalverwertung klar darzustellen, sodass Menschen erkennen, dass ihre Existenzsorgen und ihr Zeitstress nicht individuellem Verschulden zuzuschreiben sind, sondern den krisenhaften Verwertungsproblemen eines kapitalistischen Systems. Es muss deutlich werden, dass es im Kapitalismus um die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse nur insoweit geht, als mit ihnen ein Profit realisierbar ist. Eine Gesellschaft kann jedoch die Realisierung ihrer Grundbedürfnisse nicht daran ausrichten, ob sie für ein Einzelkapital derzeit profitabel sind.
In dieser Situation plädiere ich für einen grundlegenden Perspektivenwechsel, eine Care Revolution. Es geht um ein Konzept, das nicht Profitmaximierung, sondern konsequent die Verwirklichung menschlicher Lebensinteressen ins Zentrum politischen Handelns stellt. Es geht darum, alle gesellschaftlich für die Daseinsvorsorge notwendigen Arbeiten von der Warenproduktion und damit von den Verwertungsprinzipien auszuschließen. So werden Zeit für Reproduktionsarbeit, Zeit für die Produktion von gesellschaftlich notwendigen Gütern und Dienstleistungen, Zeit für politisches und zivilgesellschaftliches Engagement sowie Zeit für Muße – bei gleichzeitiger sozialer Absicherung – zum Ziel gesellschaftlicher Transformation.
Erste Schritte in Richtung einer Care Revolution sind eine radikale Arbeitszeitverkürzung, die Realisierung des Mindestlohns sowie ein bedingungsloses, die Existenz sicherndes Grundeinkommen. Nur so ist individuelle und generative Sorgearbeit im familiären Umfeld zeitlich und bei Absicherung der Existenz realisierbar. Ferner ist die auf Freiwilligkeit beruhende, individuell geleistete Sorgearbeit in den Familien mit einem deutlich ausgebauten Netz staatlich, genossenschaftlich oder gemeinwirtschaftlich angebotener personennaher Dienstleistungen in den Bereichen Kinderbetreuung und Bildungsangebote, Gesundheitsversorgung und Altenpflege zu verbinden. Gleichzeitig ist eine gesellschaftliche Aufwertung und deutlich höhere Entlohnung dieser Dienstleistungen wichtig. Dies würde für alle professionellen Care Worker, vor allem die vielen Frauen, die in diesem Bereich tätig sind, endlich Existenz sichernde Löhne bedeuten. Verbunden mit humanen Aufenthaltsgesetzen können so auch die Arbeitsbedingungen von migrierten Angestellten in der häuslichen, aber auch in der privatwirtschaftlichen und staatlichen Betreuungs- und Pflegearbeit legalisiert und verbessert werden. Mit diesen politischen Leitlinien ließe sich Arbeit im ganz umfassenden Sinne auch zwischen den Geschlechtern umverteilen (ausführlich in LuXemburg 3/2010, 124ff). Diese ersten Schritte einer Care Revolution benötigen finanzielle Ressourcen, die mit einem konsequenten Schuldenschnitt zu Lasten der großen Gläubiger, einer Streichung eines großen Teils der institutionellen Schulden sowie einer deutlich stärkeren Besteuerung der Reichen und der Unternehmensgewinne zur Verfügung stünden.
Zur Realisierung auch der kleinsten der genannten Maßnahmen bedarf es einer gesellschaftlichen Mobilisierung. Ausgangspunkt für Widersetzungspraxen können kollektive Selbstreflexionsprozesse sein, die an alltäglichen Erfahrungen anknüpfen und die Gestaltung eines selbstbestimmten und menschenwürdigen Lebens ins Zentrum stellen. Und es gibt ja bereits vielfältige Proteste – vom Erzieherinnenstreik 2009 bis zu den oft regional ausgerichteten Warnstreiks von Pflegekräften in den vergangenen Jahren, von den vielfältigen Protesten einer breiten Bewegung »Recht auf Stadt« bis zum Zusammenschluss selbstorganisierter Hausprojekte im Miethäuser-Syndikat, von einer Commons-Bewegung, die auch bereits im Bereich der Daseinsvorsorge alternative Lebensformen erprobt, bis zu den kommunalen Auseinandersetzungen um Angebote für Kinderbetreuung und Ganztagsschulen. Verbindend könnte die radikale Erkenntnis sein, dass menschliche Lebensinteressen nicht über profitorientierte Kapitalakkumulation zu verwirklichen sind, sondern nur durch gemeinschaftliches Handeln und Solidarität. Insofern verstärken an der Care Revolution orientierte politische Aktivitäten antikapitalistische Politiken und eröffnen neu gewendete Debatten um sozialistische Visionen.
Literatur
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ); Statistisches Bundesamt (Hg.), 2003: Wo bleibt die Zeit? Die Zeitverwendung der Bevölkerung in Deutschland 2001/02
Candeias, Mario, und Rainer Rilling (Hg.), 2009: Krise. Neues vom Finanzkapitalismus und seinem Staat, Berlin
Demirović, Alex, und Thomas Sablowski, 2012: Finanzmarktdominierte Akkumulation und die Krise in Europa, www.prokla.de/wp/wp-content/uploads/2012/demirovic-sablowski.pdf
DIW Wochenbericht 45, 2011: Reallöhne 2000–2010. Ein Jahrzehnt ohne Zuwachs, Berlin, www.diw.de
Institut für Gesellschaftsanalyse (Hg.) (2011): Organische Krise des Finanzmarkt-Kapitalismus. Thesen, Berlin
Manske, Alexandra, 2012: Leiharbeit aus gendersensibler Perspektive, Reihe: Studien der RLS, Berlin
Anmerkung
1 Das Institut für Gesellschaftsanalyse (2011, 10) spricht vergleichbar von einer »Krise der Reproduktion der eigenen Arbeitskraft wie der künftiger Generationen«, führt diesen Gedanken allerdings nicht weiter aus.
Erschienen in "Reproduktion in der Krise", LuXemburg 4/12, S.6ff.
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