Die Entwicklung des Klassenbewusstseins chinesischer Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter 1980-2010[1]

Im Mai und Juni 2010 zog ein Streik im Honda-Getriebewerk im südchinesischen Nanhai die Aufmerksamkeit der Welt auf sich. Von ganz unterschiedlicher Seite wurde er als symptomatisch für ein zunehmendes Klassenbewusstsein der neuen Generation der Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter2 im Perlflussdelta bewertet: von den Sympathisantinnen und Sympathisanten der Arbeiterbewegung, die in ihm eine wichtige qualitative Entwicklung sahen, und den Behörden, die fürchteten, dass sich die Proteste zu sozialen Unruhen ausweiten könnten. Wir wollen im Folgenden mit Blick auf die Theorie der etappenweisen Entwicklung des Klassenbewusstseins und durch Vergleich mit der europäischen Arbeiterklasse in der Phase der Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert eine differenzierte Sichtweise unterbreiten.

 

Klasse und Klassenbewusstsein

Bisher vorliegende Untersuchungen über die chinesischen Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter sind oft eher unhistorische Zustandsbeschreibungen. Historisch gesehen waren die Bildung von Klassen, die Herausbildung von Klassenbewusstsein, die Entstehung der Arbeiterbewegung und der sozialen Bewegungen aufeinander aufbauende, einen langen Zeitraum in Anspruch nehmende Prozesse. Ferdinand Braudel, der Vertreter der Annales-Schule, und der Weltsystemtheoretiker Immanuel Wallerstein halten einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten für noch zu kurz, um endgültige Aussagen über einen sozialen Wandel treffen zu können (vgl. Braudel 1982; Wallerstein 1991). Solche Überlegungen dürfen bei der Beurteilung der vergangenen 30 Jahre, in denen die große Gruppe der Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter entstanden ist, nicht ausgespart bleiben.

Während eine große gesellschaftliche Gruppe über gleiche sozio-ökonomische Bedingungen als Klasse identifiziert werden kann, muss sich diese nicht notwendig selbst als Klasse empfinden. Dies bringt uns zur berühmten, von Marx 1847 in Das Elend der Philosophie getroffenen Unterscheidung zwischen »Klasse an sich« und »Klasse für sich«: »Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst.« Im »Kampf« der Klassen fi nde sie sich zusammen, konstituiere sich »als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen.« (MEW 4, 180f)

Wie geschieht das heute: diese Verwandlung einer Arbeiterklasse von einer »Klasse an sich« in eine »Klasse für sich«? In Europa erstreckte sich dieser Prozess über viele Jahrzehnte, kam nur stockend in Gang und ist über unterschiedliche Etappen hinweg zu verfolgen. Marx beobachtete seinerzeit, dass die Arbeiterstreiks anfänglich isolierte Aktionen waren, die vor allem der Sicherung der Löhne dienten. Nach einiger Zeit vereinigten sie sich über die einzelnen Fabriken hinaus, um der Macht der kapitalistischen Arbeitgeber etwas entgegenzusetzen. Schließlich, als das Bewusstsein ausgeprägter war, gaben die Arbeiter sogar einen Teil ihrer Löhne auf, um die Organisation der Arbeiter zu unterstützen: Schritte auf dem Weg zur »Klasse für sich«.

Lenin unterschied drei Ebenen des Klassenbewusstseins: individuelles Bewusstsein, Gewerkschaftsbewusstsein und sozialdemokratisches (gemeint war: revolutionäres) Bewusstsein. E.P. Thompson verweist auf die Veränderlichkeit von Klasse und Klassenbewusstsein im historischen Prozess: »I do not see class as ›structure‹, or even as a ›category‹, but as something which in fact happens (and can be shown to have happened) in human relationships.« (1966, 9) Da Klasse und Klassenbewusstsein historische Entwicklungsprozesse sind, ist der Zeitrahmen, der benutzt wird, wichtig, um die Ebene des Klassenbewusstseins zu verstehen. 1845, ca. 65 Jahre nach der Entstehung der englischen Arbeiterschaft, erwartete Engels, dass die englische Arbeiterklasse sich zu einem Aufstand erheben würde. Das geschah jedoch nicht. Engels’ zu optimistische Erwartung basierte auf dem größten Aufstand in der englischen Geschichte 1841/42. Nach diesem landesweiten Streik dauerte es noch bis 1853 – ein dreiviertel Jahrhundert seit dem Beginn der Industriellen Revolution –, dass sich 18 000 Arbeiter aus Textilfabriken in Stockport, Lancashire, Cheshire und Preston zu einem Streik formierten und Lohnerhöhungen forderten, um mit der hohen Inflation jenes Jahres Schritt zu halten (vgl. Pelling 1992, 35f). In Russland begann die industrielle Entwicklung erst in der zweiten Hälfte der 1860er Jahre. Drei Jahrzehnte später argumentierte Lenin in Was tun?, dass das Klassenbewusstsein der Arbeiter nicht das Stadium Spontaneität überwinden würde, wenn es nicht durch eine intellektuelle Vorhut angetrieben würde (1902, LW 5, 355-549). Marx, Engels, Lenin und ihre Anhänger wurden angesichts der Langsamkeit des Heranreifens von Klassenbewusstsein ungeduldig. Ungeduldig drängte Lenin auf die Umsetzung seiner organisatorischen Vorstellungen; Mao Zedong folgte ihm darin.

In welcher Phase befindet sich die Entwicklung des Bewusstseins der Wanderarbeiterklasse heute? Welcher zeitliche Rahmen muss bei der Untersuchung ihres Bewusstseins gesteckt werden?

 

Die Vorstufe der Entwicklung des Klassenbewusstseins der Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter in der Provinz Guangdong

Die Wanderarbeiterschaft in Guangdong, Mitte der 1980er Jahre einige wenige Angehörige zählend und heute 30 Millionen: Sie ist vielleicht die am schnellsten gewachsene und größte auf eine relativ kleine geographische Region konzentrierte Land-Stadt-Fabrikarbeiterschaft der Menschheitsgeschichte. Diese Geburt einer Industriearbeiterschaft aus einer agrarischen Gesellschaft ähnelt derjenigen in England und anderen Teilen Westeuropas Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts. Aber das Klassenbewusstsein der chinesischen Wanderarbeiterschaft in Guangdong – dies behaupten wir gestützt auf empirische Forschungen – ist im Vergleich mit dem der damaligen europäischen Arbeiterschaft immer noch ein niedriges.

Betrachten wir zunächst Größe und Häufigkeit der Streiks im Perlflussdelta, das den größten Prozentsatz an Streiks in China verbuchen kann. Die Streiks finden in Fabriken mit asiatischem – vor allem aus Hongkong und Taiwan stammendem – Kapital statt, die in globale Produktionsketten eingebunden sind. Die chinesische Regierung veröffentlicht keine Streikstatistiken. Es ist auch extrem schwierig für die Behörden der Zentralregierung, verlässliche Zahlen zu sammeln, da die lokalen Regierungen immer darauf bedacht sind, ihre Erfolge bei der Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Stabilität herauszustellen. Allerdings hält der Mangel an Informationen Wissenschaftler und Medien nicht von weitreichenden Lageeinschätzungen ab. Zuweilen werden schon ein oder zwei Streikfälle als Beleg für ein wachsendes Klassenbewusstsein herausgestellt (vgl. Ch.Chan 2008; Pun/Lu 2010). Nun ist es richtig, dass diese Fälle die Arbeitsbedingungen und den Arbeitskampf an diesen Orten widerspiegeln. Aber man sollte vorsichtig damit sein, hieraus auf ein schnell wachsendes und sich über die Massen verbreitendes Bewusstsein oder auf Streikwellen zu schließen.

Chris Chan hat die systematischste Übersicht über Streiks in der Region erarbeitet und eine Zunahme nachgewiesen (2008, 35-43). Allerdings hat er die Streikdichte nicht berücksichtigt. Da sich die Menge der mit ausländischem Kapital errichteten Fabriken in China in weniger als drei Jahrzehnten von einer sehr kleinen Anzahl von Kommunen und Kreisstädten auf die ganze Deltaregion mit mehreren Zehntausend Fabriken ausgedehnt hat, ist es unvermeidlich, dass die Zahl der Streiks ebenfalls angestiegen ist. Wenn man sich die riesige Menge an Arbeitern in den 2000er Jahren vergegenwärtigt: sind die Streiks der letzen Zeit dann von ihrer Anzahl her wirklich so beeindruckend? In einem Vergleich der Provinz Guangdong mit der vietnamesischen Region um Ho-Chi-Minh-Stadt sehen wir, dass die Streikdichte in der letzteren viel höher ist (vgl. A.Chan 2011).

Um den Mangel an verlässlichen statistischen Daten zu kompensieren, werden wir in diesem Artikel auf eine Sammlung von Materialien zu Protesten und Streiks in der Deltaregion zurückgreifen, die von einem der beiden Autoren über einen Zeitraum von fast 20 Jahren bis 1993 erstellt worden ist. Sie umfasst Zeitungsausschnitte, Arbeiter-NGO-Websites, die interne Dokumentation von Arbeiter-NGOs und in einigen Fällen unsere Interviews mit Arbeitern, und mit ihr lässt sich begründet formulieren, dass es in der Provinz Guangdong keine groß angelegten, koordinierten und organisierten Arbeiterproteste gegeben hat. Genauso wenig haben die Arbeiter einer Anzahl von Fabriken kollektive Forderungen an die lokale oder die zentrale Regierung gestellt oder haben Arbeiter versucht, unabhängige Gewerkschaften an ihrem Arbeitsplatz oder auf der Ebene mehrerer Arbeitsplätze zu etablieren. Die Proteste und Streiks waren fast immer spontan und betrafen sehr konkrete Probleme innerhalb der Fabrik. Im Unterschied dazu hatten die Londoner Schneidergesellen bereits 1720 die ersten englischen Gewerkschaften gegründet und mit ihren mehr als 7000 Mitgliedern vom Parlament weniger Arbeitsstunden und höhere Löhne gefordert. Die zwischen 1812 und 1814 entstandene berühmte Ludditen-Bewegung überschwemmte rasch die gesamte Strick-, Baumwoll- und Weberregion Englands, darunter Nottingham, Leicestershire, Derby, West Riding und Lancashire.

 

Vor 1994: eine Etappe des Vor-Bewusstseins

In den wenigen Streiks, die von Ende der 1980er Jahre bis 1994 aufgezeichnet wurden, machten höchstens einzelne Arbeiter, kleine Gruppen von Arbeitern oder die Arbeiter eines einzigen Arbeitsplatzes ihrem Ärger Luft (vgl. Ch.Chan 2008). Diese vereinzelten Proteste können nicht verallgemeinert werden – auch wenn sich z.B. anhand von 77 privaten Briefen, die sich im Besitz von Opfern des Brandes in der Spielzeugfabrik Zhili 1993 befinden, nachweisen lässt, dass zu dieser Zeit Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter überaus schlecht behandelt wurden. Ihre Löhne waren so niedrig, dass sie ihre Ernährung einschränken mussten. Aber in diesen Briefen äußerte kein einziger den Wunsch, etwas zur Verbesserung ihrer Situation zu unternehmen, geschweige denn dass sie sich hätten vorstellen können, Protest zu erheben. Physisch waren sie in den Fabriken gefangen und fühlten sich isoliert und hilflos. Das war die Zeit, in der es noch keine Mobiltelefone gab und auch die Festnetzanschlüsse rar waren. Alles, was sie tun konnten, war, ihr Schicksal zu beklagen und es als unvermeidlich zu akzeptieren.

Die Arbeits- und Lebensbedingungen vor zwanzig Jahren, so beschreibt es ein von Chris Chan zitierter Arbeiter, waren die eines »unsichtbaren Gefängnisses« (2008, 29). Es war allgemeine Praxis der Fabrikleitungen, die Ausweispapiere der Arbeiterinnen und Arbeiter einzubehalten und, um sie am Weggang zu hindern, die Lohnauszahlung zu verzögern. Das war nichts anderes als ihre Degradierung zu Zwangsarbeitern (vgl. A.Chan 2000).

Die Zhili-Briefe wurden 1993 entdeckt, ein Jahr vor der Verabschiedung des chinesischen Arbeitsgesetzes. Obwohl es damals auch schon Vorschriften für maximale Arbeitszeit und Überstundenbezahlung gab, wussten die Verfasser der 77 Briefe nichts davon, auch nicht von anderen Mechanismen zum Schutz vor Ausbeutung. Der Begriff »Rechte« existierte nicht. Die Zeit vor 1994 kann daher als eine Periode des Vor-Klassenbewusstseins gesehen werden. Das Beste, was Arbeiter unter diesen Bedingungen tun konnten, war, die Saat individuellen versteckten Widerstands zu nähren (vgl. Pun 2005) oder die Ausstiegsoption zu wählen und sich nach anderen Fabriken umzusehen, die sich allerdings oft als auch nicht besser herausstellten.

 

Nach 1994: Phase der rechtebasierten Proteste

Das Arbeitsgesetz von 1994 war das erste Gesetz zur Arbeit in China seit Gründung der Volksrepublik. Der Allchinesische Gewerkschaftsbund kämpfte dafür, dass es sich als für die Arbeiterinnen und Arbeiter vorteilhaft erweisen würde. Es wurde aber nicht deshalb verabschiedet, weil die Arbeiter kollektiv Forderungen an die Regierung gestellt hatten, sondern weil es einen Konsens in der politischen Elite darüber gab, dass die gesellschaftliche Stabilität dadurch bewahrt werden musste, dass es ein Gesetz gab, das die Arbeitsbeziehungen regelte. Auch der Reform Act von 1832, der Factory Act von 1833 und das New Poor Law von 1834 in England hatten einst der Stabilitätswahrung gedient. Der Unterschied war, dass in jenen Tagen Großproteste der Arbeiter zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen über mehrere Jahrzehnte hinweg großen Druck auf Kapital und Staat ausgeübt hatten. In den 1990er Jahren gab es in China solche organisierten kollektiven Forderungen nicht. Die Arbeiter erhielten diese Gesetze praktisch umsonst. Die Geschichte der chinesischen Arbeiterinnen und Arbeiter hat die Stufe des weithin unterstützten Kampfes um gesetzliche Rechte, die in den früh industrialisierten westlichen Ländern einige Jahrzehnte gedauert hat, übersprungen.

Das Arbeitsgesetz bewirkte bei den Arbeitern eine Wahrnehmungsveränderung. Die Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter in Guangdong begannen allmählich, das Recht als ein Instrument zum Schutz ihrer Rechte (weiquan) zu nutzen. Dabei ist zu beachten, dass dieser Rechte-Begriff sich auf gesetzliche Rechte, nicht jedoch auf unveräußerliche Menschenrechte bezieht. Es sind Rechte, die vom Gesetz vorgeschrieben sind. Der gesellschaftliche Diskurs in China über den Rechtsschutz akzeptiert geltende Gesetze als Maßstäbe für Arbeitsbedingungen und Löhne. Weiquan ist ein hegemonialer Diskurs, der von der politischen und gesellschaftlichen Elite propagiert wurde und seitdem das Vokabular und das Bewusstsein der neuen Arbeiterklasse besetzt. Er ist das beste Werkzeug, das sie als Mitglieder des »Arbeiterstammes« (dagongzu – der Stamm, der schuftet) haben, um ihre gesetzlichen Rechte zu verteidigen.

Dieser Begriff »Stamm« (zu – ein Zeichen, das auch für ethnische Gruppe steht) ist eine Erfindung der Elite zur Beschreibung dessen, was in Wirklichkeit eine Klasse ist. Die Wanderarbeiter selbst akzeptieren dieses Etikett, das bar jedes Klasseninhalts ist. In der Zeit nach Mao wurde bewusst versucht, das Konzept der Klasse herunterzuspielen, das unter dem Maoismus ein alltägliches Wort war. Der »klassenlose« Diskurs, der sich des weberschen Ansatzes der sozialen Schichtung bedient, hat das Konzept der Klasse erfolgreich aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein ausgelöscht. In diesem Diskurs werden chinesische Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter von heute niemals eine »Klasse für sich« sein.

 

Die »intellektuelle Vorhut« in Guangdong

Als Lenin ungehalten darüber wurde, dass das proletarische Klassenbewusstsein sich zu langsam entwickelte, um eine Revolution loszutreten und den historischen Prozess zu beschleunigen, verkündete er, dass die Arbeiter einer aus der Intelligenzia rekrutierten »revolutionären Vorhut« bedürften. Chinas »revolutionäre Vorhut« war die von Mao geführte KPCh. Seit dem Beginn der Wirtschaftsreformen gibt es eigentlich keine Vorhut mehr. Seit den 1990er Jahren haben einige Hongkonger Arbeiter-NGOs die Rolle der Intelligenzia von einst übernommen. Sie sind jedoch mitnichten Lenins oder Maos »Revolutionäre«.

Die Hongkonger Arbeiter-NGOs, in denen zunächst nur einige wenige junge Idealistinnen und Idealisten der Mittelklasse arbeiten, eröffneten Büros jenseits der Grenze. Indem sie chinesische Mitarbeiter einstellten, spielten diese NGOs eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der Idee vom »Schutz der Rechte«.3 Ihre Programme konzentrierten sich darauf, das Bewusstsein der Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter für die Details des Arbeitsgesetzes und die Gesetze zu wecken, die sich mit der Sicherheit im Produktionsprozess beschäftigen. Sie brachten den Wanderarbeitern bei, Lohnabrechnungen zu lesen und machten auf Diskrepanzen zwischen Zahlung und Arbeitszeiten einerseits und den rechtlichen Vorgaben andererseits aufmerksam. Sie halfen Arbeitern, die sich verletzt hatten, Kompensation einzufordern, was Expertenwissen bezüglich der Einschätzung der Verletzungen und verfahrensrechtlicher Fragen erfordert. Lokale Behörden hatten eine ambivalente Haltung gegenüber den NGOs, tolerierten sie aber, weil ihre kostenlosen Dienstleistungen sich im Einklang mit dem Aufbau einer chinesischen verrechtlichten Gesellschaft befanden. Dass sie das Recht achteten, verlieh den NGO-Aktivitäten Legitimität.

Innerhalb von zehn Jahren zahlte sich die Hartnäckigkeit der Hongkonger Arbeiter-NGOs aus. Sie hatten eine neue Generation von NGOs in der Volksrepublik ausgebildet. Weil sich die NGOs vervielfachten, wissen die meisten Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter heute in Südchina genau über die maximal zulässige Überstundenzahl und den Mindestlohn in der Region sowie über Entschädigungszahlungen bei Arbeitsunfällen Bescheid. Es ist normal geworden, den Chef wegen Unterbezahlung vor Gericht zu bringen, bei den Behörden Lohnnachforderungen zu stellen und Prozesse um die Entschädigung für Verletzungen zu führen. Der Gerichtsprozess ist eine legitime Form des Protests. Die Anwälte und ihre Mitarbeiter sind zu Bürgervertretern (gongmin dailiren) geworden. Die Zunahme an Prozessen und Bürgervertretern hat Chinas Arbeitsbeziehungen in eine neue Entwicklungsphase katapultiert.

Die Bewegung zur Rechtshilfe war entscheidend für die Schaffung des Bewusstseins für Arbeiterrechte, aber dadurch, dass diese Bewegung in den Diskurs über »Schutz der Rechte« eingebettet wird, individualisiert sie die Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten auf eine reaktive Art. Die Entwicklung geht immer mehr in eine auf Gerichtsprozesse orientierte und individualisierte Richtung, die zeitweilig durch Gewalt in Betrieben unterbrochen wird. Die »intellektuelle Vorhut« der Rechtsschützer beschränkt sich auf gesetzeskonforme Handlungen. Dies festzustellen heißt nicht, ihre Bemühungen herabzumindern, aber wir denken, dass sie tatsächlich dabei geholfen haben, die gesellschaftliche Unzufriedenheit zu mildern, indem sie den Groll der Arbeiter im Rechtssystem kanalisiert haben, und das ist genau der Grund dafür, warum die herrschende Elite die rechtlichen Instrumente überhaupt geschaffen hat.

 

Rechtebasierte Proteste versus interessenbasierte Proteste

Es ist lehrreich, hier den Unterschied zwischen rechtebasiertem und interessenbasiertem Protest einzuführen. Rechtebasierte Forderungen drängen auf Rechtstreue, wenn Rechtsansprüche verletzt werden. Das Recht setzt den Forderungen Obergrenzen – diese können nicht über die Mindeststandards hinausgehen, die im Recht festgeschrieben sind. Interessenbasierte Forderungen dagegen gehen über die Mindeststandards hinaus, die das Recht festlegt: z.B. die Forderung einer Lohnerhöhung über den legalen Mindestlohn.

So stellen die chinesischen Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter, indem sie den Weg des Gerichtsprozesses einschlagen, die Legitimität dieser Struktur nicht in Frage. Ihre Stufe des Bewusstseins hat noch nicht den Punkt erreicht, wo ein Recht jenseits des legalen Minimums behauptet wird. Seit das Arbeitsgesetz durchgesetzt wird, ist ihr Bewusstseinsniveau noch kaum gestiegen. Sie haben nicht die Erfahrung gemacht, für dieses Gesetz gekämpft zu haben. Solche Kämpfe hätten dazu geführt, dass ihr Klassenbewusstsein reifer geworden wäre.

 

2010: Beginn von interessenbasierten Protesten?

Der Streik im Honda Getriebewerk in Nanhai gilt als Wendepunkt in der Entwicklung von Chinas Arbeiterbewegung. Der Streik entwickelte sich von einer Phase der Rechtebasierung hin zu einer der Interessenbasierung. Zweitausend Arbeiter hatten am 17. Mai 2010 ihre Werkzeuge aus der Hand gelegt und eine Lohnerhöhung von 800 Yuan pro Monat gefordert – das war eine Steigerung um 80 Prozent. Eine solche Forderung war ohnegleichen. Arbeiterproteste hatten sich zuvor meist gegen unbezahlte Überstunden oder Gehaltsrückstände oder Rechtsverstöße gerichtet. Außerdem forderten die Streikenden eine abgestufte Lohnstruktur – worin sich die Hoffnung auf Beschäftigungssicherheit spiegelte – sowie ein Anreizsystem für Beförderungen und die Einführung eines Dienstaltersystems. Das ist eine Bestätigung für Pun Ngais Analyse, wonach diese Generation von Arbeitern nicht mehr in ihre Heimatdörfer oder -städte zurückkehren will (vgl. Pun/Lu 2010). Sie will bleiben und eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis erhalten. Eine weitere Beschwerde der Arbeiterinnen und Arbeiter galt dem großen Unterschied zwischen den hohen Gehältern der japanischen Angestellten und den niedrigen der chinesischen. Auch das war ungewöhnlich, denn die Wanderarbeiter hatten in all den vorangegangenen Jahren akzeptiert, dass das Lohnniveau für ausländisches Personal viel höher war. Vielleicht hatten sie sich hier und da in privaten Gesprächen darüber beklagt, aber noch nie öffentlich. Nun hatten die Streikführer einen Sinn dafür entwickelt, dass es einen gerechteren Anteil an der Einkommensverteilung geben müsste. Nicht völlig neu, aber in dieser Intensität bemerkenswert war schließlich die Forderung nach Neuwahl des Gewerkschaftskomitees der Fabrik, um die amtierende, vom Management eingesetzte und damit wenig wirksame Gewerkschaftsvertretung zu ersetzen.

Der Streik dauerte 19 Tage an und endete nach Intervention des Vorstandsvorsitzenden der Guangzhou Automobile Group (GZAG) (chinesischer Joint Venture-Partner des Honda-Werkes4), des stellvertretenden Vorsitzenden der Gewerkschaft auf Provinzebene sowie eines bekannten Rechtswissenschaftlers. Die Arbeiter erhielten die Lohnerhöhung, die sie gefordert hatten, und ihnen wurde versprochen, dass sie ihr eigenes Gewerkschaftskomitee wählen dürfen (vgl. Lüthje 2010; Chan/Hui 2010).

Über den Honda-Streik und seine Ergebnisse wurde in der Presse und insbesondere im Internet weithin berichtet. Innerhalb von zwei Wochen brachen Streiks an zwei weiteren Autoteilefabriken von Honda in der Provinz Guangdong aus und endeten ebenfalls mit großen Lohnzuwächsen für die Arbeiter. Aus anderen Teilen Chinas wurde von einem Dutzend ähnlicher Streiks berichtet. Es blieb unklar, ob diese direkt durch den Honda-Streik in Nanhai angeregt wurden, aber ein allgemeiner Zusammenhang wurde für gegeben gehalten. Die Streiks in den Honda-Werken verliefen ausnahmslos friedlich. Die Verluste für Honda und seinen chinesischen Joint Venture-Partner GZAG waren enorm, womit sich erklärt, warum Honda auf die Forderungen der Streikenden eingegangen ist. In allen Fällen griffen GZAG, Provinzregierung, Provinzgewerkschaft, örtliche Behörden sowie städtische Gewerkschaften als Mediatoren ein. Die Forderung nach großen Lohnerhöhungen wurden von Honda, anderen Firmen und der Regierung als Alarmzeichen dafür gewertet, dass die Zeit der Billiglöhne vorbei sein könnte. Trotzdem müssen wir hinsichtlich des Klassenbewusstseins feststellen, dass es sich zwar erhöht, aber keinen qualitativen Sprung getan hat.

Erstens kann man gestützt auf Insider-Informationen und anhand der Analyse der Entwicklungen seit Ende des Streiks sagen, dass es ein spontaner Streik war, auch wenn er relativ lange dauerte und mit großer Solidarität durchgeführt wurde. Es gab keine Planung, keine Organisation zentraler Aktivisten oder eines Streikkomitees. Nachdem ihre ökonomischen Forderungen erfüllt worden waren, forderten die Arbeiter – offensichtlich aus Mangel an Erfahrung – nicht, dass sofort ein neues Gewerkschaftskomitee gewählt werden sollte. Enthusiasmus, Kampfeswille und Solidarität verflogen bald, als die Provinzgewerkschaft kam, um die Neuwahl organisieren zu helfen, und dann einige Monate brauchte, bevor die erste Wahlrunde für die 30 Gewerkschaftsrepräsentanten stattfand. Die Arbeiter ließen sich von der divide-etimpera- Taktik des Managements manipulieren. Die Streikführerin verlor die Wahl in einer Stichwahl. Die 30 neugewählten Vertreter waren mehrheitlich Managementangestellte, weil die Arbeiter nicht wussten, wen sie wählen sollten. Die Wahl auf der zweiten Stufe zur Wahl des neuen Vorsitzenden der Gewerkschaft wurde auf später im Jahr 2011, wenn die Amtsperiode des bisherigen Gewerkschaftskomitees auslaufen würde, verschoben. Damit hat der Streik keinen Präzedenzfall dafür geschaffen, dass ineffektive gewerkschaftliche Vertretungen am Arbeitsplatz in einer demokratischen Wahl ausgetauscht werden können. Die Regierung und die Gewerkschaft der Provinz sind auch fest entschlossen, einen solchen Präzendenzfall zu verhindern.5

Zweitens hat sich dieser Streik, genauso wie die Streiks vorher, als nicht tragfähig dahingehend gezeigt, die Arbeiter zu einer stabilen Organisation zusammenzuziehen, um den Kampf in der Fabrik weiterzuführen, geschweige denn darüber hinaus. Von Anfang an wies der Streik alle Anzeichen für eine kurzlebige Protestaktion auf. Die beiden ursprünglichen Streikführer wollten, desillusioniert durch den niedrigen Lohn und die harte Arbeit, erst einen Streik anzetteln, als sie schon ihre Kündigung eingereicht hatten. Sie hatten keinen festen Kern von Arbeitern zur Streikführung aufgebaut; es gab keinen langfristigen Plan. Als ihre Kolleginnen und Kollegen dann wirklich streikten, verließen sie nach ein paar Tagen einfach das Werk – genauso, wie sie es schon lange vorgehabt hatten. Als dann die 19-jährige Frau Li die Führung übernahm, war sie zu unerfahren, um die Herausforderung annehmen zu können, mehr zu tun als bloß auf die konkreten Umstände zu reagieren.

Drittens gab es zwischen den verschiedenen Streiks, die im Juni und Juli stattfanden, keine Koordination quer über die einzelnen Arbeitsplätze. Die Arbeiter des Streiks in der Honda-Schlösserfabrik im Kreis Zhongshan nahmen, bevor sie ihren Streik begannen, keinen Kontakt zu den Streikenden im Honda-Getriebewerk in Nanhai auf.6 Es ist möglich, dass im Verlauf dieser beiden Monate Arbeiter in anderen Teilen des Landes, die Streiks begannen, von dem, was sie in den Medien und im Internet über die Honda-Streiks lasen, inspiriert worden sind, aber die kleine Streikwelle – wenn man sie denn so nennen will – zeigte keine Anzeichen von koordinierten kollektiven Anstrengungen über die Grenze von Arbeitsplätzen, Branchen oder Regionen hinweg. Die Aktionen blieben isoliert, und das Bewusstsein der Arbeiter hat sich noch immer nicht über die direkten ökonomischen Forderungen hinaus entwickelt.

Eine große Errungenschaft des Honda-Streiks von Nanhai ist freilich, dass er zu einem Präzedenzfall für die Lohnverhandlungen geworden ist. Es wurde deutlich, dass es nicht unvernünftig ist, hohe Lohnforderungen zu stellen. Ob der Streik in Nanhai diese Präzedenzfall-Qualität auch dann gehabt hätte, wenn er nicht den Rückhalt von Regierung und Provinz-Gewerkschaft gehabt hätte, bleibt allerdings fraglich.

 

Andere Streikfälle

Unserer Ansicht nach hat der Honda-Streik von Nanhai keinen Durchbruch im Klassenbewusstsein erzielt. Es gab im vergangenen Jahrzehnt einige andere Streiks und Arbeiteraktivitäten, die ihn in vielerlei Hinsicht übertrafen: in der Größe des Streiks, in der Risikobereitschaft der Arbeiter, in ihrer Organisationsfähigkeit, in der Ausdauer und in der Solidarität. Die Risikobereitschaft kann an einem Streik gesehen werden, der im Jahre 2000 von 60 Angestellten in einer Firma mit mehreren Hundert Angestellten begonnen wurde. Sie unterzeichneten einen offenen Brief an China Labor Watch, eine Arbeiter- NGO mit Sitz in New York, in dem ihre Ausweisnummern und Telefonnummern aufgeführt waren. In einem Ausdruck extremer Emotionalität drückten fünf Vertreter sogar blutige Daumenabdrücke auf ein Dokument, das sie autorisierte, als Vertreter zu fungieren. Sie baten die NGO, amerikanische Kunden aufzufordern, in ihrem Sinne einzugreifen. So auf die Außenwelt zuzugehen, war politisch sehr riskant.7

Der Honda-Streik von Nanhai war ein bedeutender interessenbasierter Protest. Aber er ist auch in dieser Hinsicht kein Präzedenzfall. Es hat Fälle gegeben, in denen Arbeiter sogar für eine kleine Erhöhung über dem Mindestlohn hart kämpfen mussten. Arbeiter einer Fabrik namens Dechang gingen im September 2007 in Streik und forderten vom Management eine Lohnerhöhung von 700 bis 800 Yuan pro Monat, nachdem die Lokalregierung bekannt gegeben hatte, dass sie den Mindestlohn nicht erhöhen würde. Das Management von Dechang hielt an den 750 Yuan fest, die mit dem damaligen Mindestlohn übereinstimmten. Die Arbeiter gingen auf die Straße. Mehrere Hundertschaften der Polizei drängten sie zurück und sperrten sie auf dem Fabrikgelände ein. In einem NGO-Bericht wurde dazu festgehalten: Der Streik von Dechang zeichnet sich durch das Bewusstsein einer neuen Generation von Arbeitern aus. Sie agieren anders als die Arbeiter von anderen Unternehmen, deren Forderungen sich eher um Zahlungen bis zur Höhe des Mindestlohns drehen. Ein anderer interessenbasierter Streik, der viel Aufmerksamkeit der Medien auf sich zog, war der der Kranführer und LKW-Fahrer eines riesigen Containerhafens in Shenzhen im November 2007. Dockarbeiter verdienten dort rund 4000 Yuan im Monat, was als gute Bezahlung galt. Aber die Arbeiter mussten eine Menge Überstunden leisten, und die Arbeit war schwer. Die Arbeiter forderten eine Erhöhung von 25 bis 50 Prozent, mindestens 4 Ruhetage pro Monat und einen Überstundensatz, der sechsmal höher war als die illegal niedrigen 3 Yuan pro Stunde. Es war kein spontaner Streik. Er brach am 1. Mai aus, einem wichtigen Tag in einem sozialistischen Staat. Die Arbeiter wählten ihre eigenen Vertreter, die mit dem Management verhandeln sollten. Die Gewerkschaft von Shenzhen diente als Vermittler und drängte das Management, den »vernünftigen« Forderungen der Arbeiter schnell nachzukommen. Die Ergebnisse der Verhandlungen wurden nicht veröffentlicht, aber es scheint, als seien sie zugunsten der Arbeiter abgeschlossen wurden, denn diese kehrten nach zwei Tagen wieder an ihre Arbeitsplätze zurück.

Andere hatten versucht, eine Neuwahl der vom Management dominierten Gewerkschaften zu fordern. Im Jahr 2008 verteilte eine Gruppe von Arbeitern der Nestlé-Fabrik in Dongguan Flugblätter an Kollegen, in denen sie forderten, dass die Gewerkschaft, die schon seit 12 Jahren bestand, ausgewechselt werden sollte. Über diesen Vorfall wurde in der Presse berichtet, auch in der China Daily. Er wurde dargestellt als ein Beispiel dafür, dass ein Management das Gewerkschaftsgesetz verletzte, indem es versäumte, regelmäßige Gewerkschaftsvertreterwahlen zu organisieren (vgl. Zhan 2008). Der Anführer der Arbeiter wurde mit der Begründung »Fehlverhalten« aus dem Unternehmen entlassen. Weder die Lokalregierung noch die Gewerkschaft unterstützten ihn in irgendeiner Weise.

In Fabriken, in denen es keine Gewerkschaftsvertretung am Arbeitsplatz gibt, kämpfen Arbeiter manchmal um die Einrichtung einer neuen Gewerkschaftsvertretung. In Lenins Worten besitzen diese Arbeiter ein »Gewerkschaftsbewusstsein«. Auf dem Papier ist der Vorgang der Gründung einer Gewerkschaftsvertretung an einem Arbeitsplatz sehr einfach. Man braucht mindestens 25 Unterschriften von Arbeitern (Art. 13, Gewerkschaftsgesetz der VR China, 2001), um bei der Gewerkschaft auf der nächsthöheren Ebene zu beantragen, dass eine Wahl zur Errichtung der Gewerkschaftsvertretung durchgeführt wird.8 Im Jahr 2003 sammelte Liu, ein 29-jähriger Arbeiter einer Hongkonger Zuliefererfabrik für Wassersportbekleidung für eine neuseeländische Firma, 182 Unterschriften (von insgesamt 2000 Arbeitern) und ging damit zur Gewerkschaft auf Distriktebene, um die Errichtung einer Gewerkschaft zu beantragen. Er rief dann einen Korrespondenten der New York Times in Beijing an und bat ihn, nach Shenzhen zu kommen und über die Ereignisse zu berichten (vgl. Kahn 2003). Am Ende manipulierten und kontrollierten die lokale Gewerkschaft und das Fabrikmanagement die Gewerkschaftsvertreterwahl, sodass diese Anstrengung ergebnislos blieb. Liu ging dann zu einer anderen Fabrik und versuchte das gleiche, blieb aber erfolglos.9 Lius Bewusstsein war schon weiter als das der beiden Streikführer bei Honda in Nanhai: Er begann mit der Organisation, bevor er etwas unternahm, und war bereit, das Risiko der Konfrontation mit dem Management und der Lokalregierung auf sich zu nehmen.

Der Fall, der bisher die höchste Stufe von Gewerkschaftsbewusstsein, Organisationsfähigkeit, Kampfgeist und Solidarität angesichts massiver polizeilicher Unterdrückung und Gewalt veranschaulicht, ist der Streik bei Uniden. Der Kampf begann im Dezember 2004 und dauerte mit Unterbrechungen ungefähr fünf Monate. Die Managementkultur in dieser Fabrik in japanischem Besitz mit 1600 Beschäftigten war rau und repressiv. Ursprünglich waren die Forderungen der Arbeiter aufgrund der hohen Anzahl von Rechtsverstößen rechtebasiert. Die Organisatoren des Protests veröffentlichten einige offene Briefe an lokale Regierungsbehörden und das Management, nutzten das Internet geschickt, um ihre Arbeiterkollegen und die Öffentlichkeit über die aktuellen Entwicklungen zu informieren, und koordinierten tägliche und stündliche Protestaktionen. Diese Berichte und offenen Briefe lieferten über Monate ein anschauliches Bild des Ausmaßes und der Intensität des Kampfes innerhalb und außerhalb der Fabrik. Der Aufruf zum Handeln enthielt eine Liste mit 15 Forderungen im Zusammenhang mit Löhnen, Arbeitszeiten, Strafen, Entlassungen und Sozialleistungen; darunter war auch die Forderung nach der Errichtung einer Gewerkschaftsvertretung.10 Das japanische Management gab vielen Forderungen schnell nach, dieser aber nicht. Um die Arbeiter von der Gründung der Gewerkschaftsvertretung abzuhalten, versuchte das Management, die Anführer zu isolieren, erniedrigte sie in der Öffentlichkeit und ließ sie durch Sicherheitspersonal verprügeln. Dies zog drei Tage andauernde schwere Konfrontationen zwischen Streikenden und Polizei nach sich. Am Ende wurde zwar eine Gewerkschaftsvertreterwahl versprochen, aber ähnlich wie bei Nestlé entledigte sich das Management der Streikführer, und die demoralisierten Arbeiter verloren die Kontrolle über die Gewerkschaftsvertreterwahl.

Die Arbeiter von Uniden zeigten ein hohes Maß an Gewerkschaftsbewusstsein. Sogar nachdem sie ökonomische Zugeständnisse errungen hatten, kämpften sie weiter für ihre eigene Gewerkschaftsvertretung. Der Protest war geplant und gut koordiniert. Trotzdem unterließen die Streikführer Versuche, sich über den eigenen Arbeitsplatz hinaus zu organisieren. Das Thema »Klasse« wurde allerdings mit einer Dosis Nationalismus verwässert. Der Streik fand nämlich in einer Zeit statt, als antijapanische Massenkundgebungen überall in China stattfanden; in der Provinz war es die dritte Woche der antijapanischen Straßenproteste.

 

Die Abwesenheit von Gewerkschaftsbewusstsein

Die oben beschriebenen Fälle von Arbeiterprotesten, von denen drei eigene Gewerkschaftsvertretungen wählen wollten, sind seltene Vorkommnisse. Für die Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter als Ganzes ist die Idee der Gewerkschaft nur sehr vage existent. Diejenigen Streikführer, die Gewerkschaftsvertretungen forderten, sind insofern wirklich Vorreiter. Dass es keine große Welle der Gründung von Gewerkschaftsvertretungen gegeben hat, zeigt, dass das Gewerkschaftsbewusstsein der Arbeiter noch schwach ausgebildet ist. Darum werden die in Einzelfällen an den Arbeitsplätzen gewählten Gewerkschaftsvertretungen auch Schwierigkeiten haben, sich zu halten.

Dass die Arbeiter ihre unmittelbaren ökonomischen Sorgen in einen Kampf um kollektive Rechte überführen, steht noch aus. Wenn manchmal Gewerkschaftsbewusstsein aufflackert, ist zu beobachten, dass diejenigen, die eine Gewerkschaftsvertretung gefordert haben, nur bei der offiziellen Gewerkschaft registriert werden wollen. Das könnte ein strategischer Schritt sein. Wir aber meinen, dass der Grund dafür eher darin liegt, dass die Arbeiter immer noch der Illusion nachhängen, dass man den offiziellen Gewerkschaften vertrauen könnte. Die Arbeiter von Honda in Nanhai erlaubten der Provinz-Gewerkschaft, die Führung zu übernehmen. Sie vertrauten den Falschen. Am Ende sind die Gewerkschaftsvertreter jetzt mehrheitlich Mitglieder des Managements. Eines der zentralen Arbeiterrechte, wie sie von der International Labor Organization (ILO) gefordert werden, ist die Vereinigungsfreiheit. Aber chinesische Arbeiter fordern diese nicht. Der chinesische Staat nimmt diese Möglichkeit vorweg, indem er sich öffentlich einverstanden damit erklärt, dass die Arbeiter ihre eigenen offiziellen Gewerkschaften wählen. In Wirklichkeit würde er allerdings niemals die Kontrolle aus der Hand geben. Der Versuch des Staates und des Allchinesischen Gewerkschaftsverbandes, die »Kollektivverhandlungen « zu fördern, um mit Hilfe regulierter Arbeitsbeziehungen die gesellschaftliche Stabilität zu sichern, ist eine unrealistische Lösung. Ohne wirklich repräsentative Gewerkschaften kann es keine wirklich kollektiven Verhandlungen geben. Die Kampagne wird nichts weiter sein als eine weitere bürokratische Übung. Unterdessen wird es immer schwerer, im Konfliktfall den Prozessweg zu gehen. Die Zahl der Prozesse seit dem Erlass des Arbeitsvertragsgesetzes im Jahr 2008 hat sich vervielfacht, und ein riesiger Rückstau in der Bearbeitung von Fällen harrt seiner Erledigung. Das Vertrauen der Arbeiter in das Rechtssystem wird bald der Frustration weichen.

Es ist schwer vorherzusagen, wie lange es dauern wird, bis ein kollektives Bewusstsein und eine unabhängige Gewerkschaft erlangt werden können. Schließlich lehrt uns die Geschichte, dass es für die Arbeiter im 18., 19. und 20. Jahrhundert Jahrzehnte gedauert hat, bis sie sich in reifen Gewerkschaftsstrukturen organisierten und, nachdem sie stark genug waren, auch die Anerkennung von Kapital und Staat errangen. Erst dann waren die Arbeitgeber bereit, mit den Gewerkschaften zu verhandeln. Trotz des großen Entwicklungssprungs in der Kommunikationstechnologie hat es in Guangdong ein solches kollektives Handeln noch nicht gegeben. Sollte es aber zu einer drastischen konjunkturellen Abkühlung, einer galoppierenden Inflation oder einer sich noch schneller öffnenden Einkommensschere und in der Folge zu immer neuen Erhebungen der Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter kommen, wird das den Reifeprozess beschleunigen. Wir haben in unserem Artikel auch aufgezeigt, welche Faktoren die Entwicklung des Klassenbewusstseins behindern. Ein Faktor ist, dass die materiellen Bedingungen der Wanderarbeiter sich ständig verbessern – auch wenn diese Verbesserung nicht mit derjenigen Schritt halten kann, die die gedeihende Mittelklasse erlebt. Anders als Länder wie Vietnam oder Bangladesh, in denen die Mittel der Arbeiter zum Überleben durch eine hohe Inflation bedroht wurden, was regelmäßige Streiks und Massenproteste auslöste, hat die chinesische Regierung solche Aufstände vermeiden können, indem sie den Mindestlohn in den letzten Jahren an die Inflation angepasst hat.

Es ist eine weitverbreitete Ansicht, dass die zweite Generation der Wanderarbeiter, die besser ausgebildet ist, ein besseres Leben haben will und in den Städten bleiben will, ein Faktor gesellschaftlicher Instabilität sei. Diese Argumentationslinie hält Alterskohorten für einen wichtigen Faktor bei der Erhöhung des Klassenbewusstseins. Wir haben aber schon weiter oben darauf hingewiesen, dass selbst dreißig Jahre eine noch zu kurze Zeitspanne sind, um Klassenformation und Klassenbewusstsein ganz zu verstehen, und dass uns erst ein längerer Beobachtungszeitraum erlauben wird, eine historische Perspektive zu gewinnen. Die Herausbildung einer »Klasse für sich« braucht länger als eine oder zwei Generationen. So spricht die Realität gegen die Hoffnung, dass die zweite Generation der Wanderarbeiter eine neue Etappe des Klassenbewusstseins durchsetzen kann.

Der chinesische Staat fürchtet im Zusammenhang mit der Arbeiterbewegung am meisten, dass die ökonomischen Forderungen der Arbeiter zu politischen werden könnten. Deshalb sieht er in den Arbeiter-NGOs und den »Bürgervertretern« einen potenziellen Nährboden für politische Vorreiter. Tatsächlich aber vermitteln die NGOs den Arbeitern gar keine politische Ideologie. In einer staatlich kontrollierten Gesellschaft, in der das politische Klima außerhalb bestimmter formalistischer Parolen wie »Marktsozialismus«, die keinen sozialistischen Inhalt mehr haben, nicht-ideologisch gehalten wird, haben Wanderarbeiter wenig, was sie zu einem eigenen Klassenstandpunkt inspirieren könnte. Die Fähigkeit von Fließbandarbeitern, einen solchen zu entwickeln, ist insofern begrenzt. Zu besserer Organisation und Kommunikation in der Lage sind Techniker (vgl. Ch.Chan 2008, 279-306) oder, wie sich bei den Streiks von V-Tech und Uniden gezeigt hat, Angestellte.11 Wenn es keine Vorreiter aus der Intelligenzia gibt, werden die Vorreiter am Ende aus der Arbeiterklasse selbst hervorgehen. Und diese – und nicht die weniger gebildeten Fließbandarbeiter – könnten es dann sein, die die Herausforderung annehmen, die Geschichte der Arbeiter nach vorne zu bringen.

 

Aus dem Englischen übersetzt und leicht gekürzt von Katja Levy und Wolfram Adolphi

 

Literatur

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Chan, Anita, »Globalization, China’s Free (Read Bonded) Labour Market, and the Chinese Trade Union«, in: Asia Pacifi c Business Review, 6. Jg., 2000, H. 3-4, 260-81

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Chan, Chris, The Challenge of Labour in China: Strikes and the Changing Labour Regime in Global Factories, London 2008

Chan, Chris King-Chi, u. Elaine Hui, Labor Activism and Trade Union Reform in China: The Case of Honda Workers’ Strike, 2010 (unveröff. Entwurf)

Kahn, Joe, »When Chinese Workers Unite, the Bosses often Run the Union«, in: New York Times, 29.12.2003

Lenin, Wladimir I., Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung (1902), LW 5, 355-549

Lüthje, Boy, »Auto Worker Strikes in China: What Did They Win?«, in: Labor Notes, 23.12.2010; vgl. http://www.labornotes.org/2010/12/auto-worker-strikes-china-what-did-theywin (aufgerufen am 15.1.2011)

Marx, Karl, Das Elend der Philosophie (1847), MEW 4, 63-182

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Pelling, Henry, A History of British Trade Unionism, London 1992

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dies. u. Lu Huilin, »Unfi nished Proletarianization: Self, Anger, and Class Action among the Second Generation of Peasant-Workers in Present-Day China«, in: Modern China, 36. Jg., 2010, H. 5, 493-519

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Thompson, Edward P., The Making of the English Working Class, New York 1966

Wallerstein, Immanuel, Unthinking Social Science: The Limits of Nineteenth-century Paradigms, Cambridge 1991

Zhan Lisheng, »Workers of Dongguan Nestle factory complain that the 12-year old union never had an election«, in: China Daily, 11.7.2008; vgl. http://fi nance.sina.com.cn/roll/20080711/19052324259.shtml (aufgerufen am 17.1.2011)

ders., »Nescafé trade union under investigation«, in: China Daily, 10.9.2008; vgl. http://www.chinadaily.com.cn/china/2008-07/10/content_6833346.htm (aufgerufen am 17.1.2011)

 

1 Der Beitrag ist eine von Autorin und Autor gekürzte und leicht bearbeitete Fassung eines Artikels für das Buch: David Goodman (Hg.), Workers and Peasants in the Transformation of Urban China, vorauss. London 2012.

2 In der chinesischen akademischen Welt ist jetzt auch der Begriff »neue Generation von Bauernarbeitern« (xinshengdai nongmingong) verbreitet.

3 Die wichtigsten dieser NGOs waren: Hong Kong Christian Workers’ Committee (HKCIC), Asia Monitor Resource Centre (AMRC) und Chinese Working Women’s Network (CWWN). Viele der in ihnen vereinten Idealisten hatten als Universitätsstudenten oder frischgebackene Absolventen auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 gemeinsame Erfahrungen gemacht. Als sich diese Bewegung auflöste, wollten sie die chinesische Gesellschaft besser verstehen und hofften, dass sie in soziale Bewegungen in China involviert würden. Die Gründung der Arbeiter-NGOs erschien ihnen zu einer Zeit, da die politischen Rechte und die Vereinigungsfreiheit ernsthaft eingeschränkt waren, als der beste Weg, ihren Idealismus in die Tat umzusetzen.

4 Alle ausländischen Firmen, die Montagewerke in China errichten wollen, müssen Joint Ventures sein. Die chinesischen Partner in diesen Joint Ventures sind alle lokale Staatsunternehmen. In Guangzhou ist es die Guangzhou Automobile Group. Der Vorstandsvorsitzende ist ein wichtiger Regierungsbeamter, der zugleich Arbeitgeber und Mediator ist und die Aufgabe hat, die Arbeiter vor der Ausbeutung durch die Ausländer zu beschützen.

5 Die Information stammt von Studierenden der Zhongshan Universität, die die Entwicklungen nach dem Streik erforschten. Sie besuchten das Unternehmen und die Wohnheime mehrmals im Jahr 2010 und konnten frei mit den Arbeitern sprechen. – Die Interpretation, dass der Streik gescheitert war, ist aber die der Autorin und des Autors.

6 Diese Information stammt von einem chinesischen Arbeiteraktivisten, der nach Nanhai ging, um mehr über den dortigen Streik herauszufinden, und mit einigen der Streikenden zusammentraf.

7 Die Informationen hierzu stammen aus Primärquellen aus den persönlichen Akten der Autorin und des Autors.

8 http://www.novexcn.com/trade_union_law.html (aufgerufen am 18.1.2011).

9 Gespräch mit Liu 2007 in Shenzhen.

10 http://bbs.chinaunix.net/viewthread.php?tid=468440 (aufgerufen am 17.1.2011).

11 Ein anderes Beispiel sind die Angestellten von Walmart. Als in allen Walmart- Filialen in China Gewerkschaften gebildet worden waren, waren es – wie Gai Haitao, ehemals Gewerkschaftsvorsitzender in der Walmart-Filiale in Nanchang Baiyi, berichtet – bei Entlassungen 2008 nicht die einfachen Arbeiter, die mit dem Konzern kollektiv verhandelt haben, sondern Angehörige des Managements. 

 

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