Solidarität ist ein Fremdwort

Ärztestreik - Tanz zwischen Klassenkampf und Standesdünkel.

Als im letzten Jahr der Marburger Bund (MB), seit neuestem in den Medien als Ärztegewerkschaft bezeichnet, nach dem nicht nur für Ärzte enttäuschenden Abschluss in den Verhandlungen mit dem Bund aus der Tarifgemeinschaft mit Ver.di ausstieg, hätte es niemand für möglich gehalten, dass dies der Auftakt zum ersten flächendeckenden Streik der angestellten Ärzte in der Geschichte der BRD sein würde.

Im Ausstand der Mediziner fallen verschiedene Besonderheiten auf. Im Vergleich zu anderen Branchen gehen die Medien im Großen und Ganzen mit diesem Arbeitskampf ausgesprochen wohlwollend um. Man stelle sich nur vor, die Metaller wären mit einer Forderung von 30% in die Tarifrunde gegangen!

Auch die angegebenen Teilnehmerzahlen an den MB-Protestveranstaltungen haben die Massenmedien im Gegensatz zu ihren sonstigen Gepflogenheiten kräftig geschönt - in Einzelfällen waren auf den Kundgebungen weniger als die Hälfte der verkündeten Teilnehmenden zu sehen.

Nun ist zwar die Rechnung, die MB-Chef Ulrich Montgomery aufstellt, nicht ganz falsch: 30%, das ist im Wesentlichen das, was den Ärzten in den letzten Jahren abgezwackt wurde.
In den 90er Jahren wurde die Eingangsvergütung für ärztliche Berufsanfänger gesenkt, in einigen Bundesländern wurde das Weihnachtsgeld bereits gestrichen, und bundesweit schieben die nachgeordneten Ärzte an den Krankenhäusern einen Berg von rund 170000 unbezahlten Überstunden vor sich her.

Die EU-Arbeitszeitrichtlinie wurde ebenfalls noch nicht umgesetzt, und die Rund-um-die-Uhr-Dienste, die in dieser Form seit langem rechtswidrig sind, gehen munter weiter.
Aber diese Einkommensverluste sind mitnichten spezifisch für Mediziner. Anderen Beschäftigten an den Kliniken der BRD ergeht es ähnlich.

Ein wesentlicher Punkt, mit dem wir uns schon einmal in der SoZ (12/05) auseinandergesetzt haben, ist, dass sich im Medizinbereich in den letzten zwanzig Jahren radikale Änderungen abgespielt haben. An den Krankenhäusern hat eine ungeheure Arbeitsverdichtung stattgefunden, die Bettenzahlen wurden flächendeckend heruntergefahren, der Patientendurchlauf entsprechend erhöht - bei tendenziell eher geringerem Personaleinsatz.
Hinzu kommt ein immens gestiegener bürokratische Aufwand, der der Änderung der Vergütungsstruktur geschuldet ist, im Stellenschlüssel je nach Größe des Krankenhauses aber gar nicht bis unzureichend ausgeglichen wurde.

Auf der anderen Seite ist die Ärztegeneration, die derzeit das Gros der Belegschaften an den Kliniken stellt, mit dem Bewusstsein in den Beruf gegangen, der Arztberuf ziehe selbstverständlich ein stabiles (und hohes) Einkommen nach sich. Für die überwältigende Mehrheit der Ärzte war das Krankenhaus früher nur eine Übergangsstation in die Selbstständigkeit - unter den derzeitigen Bedingungen bei den niedergelassenen Ärzten sehen aber immer mehr Mediziner die Krankenhaustätigkeit als längerfristige Perspektive.
So hat sich im Laufe der letzten Jahre wachsender Unmut angestaut, der sich jetzt Luft macht.

Klassen- oder Standesbewusstsein?

Nun könnte man im erwachten gewerkschaftlichen Kampfeswillen der Krankenhausärzte auch einen Ausdruck gestiegenen Klassenbewusstseins sehen - schließlich sind sie bis auf die Chefärzte und die liquidationsberechtigten Oberärzte objektiv gesehen ganz gewöhnliche abhängig Beschäftigte wie die Schwestern, Pfleger, Labor- oder Radiologieassistenten auch.
Aber weit gefehlt: Die Verlautbarungen des Marburger Bundes sprechen eine deutliche Sprache, wenn es darum geht herauszustellen, dass die Ärzte erheblich gleicher sind als andere. Denn bei ihnen handelt es sich angeblich um die "Leistungsträger" an den Kliniken, und auf die Frage, wo bei gedeckeltem Budget das Geld herkommen soll, das sie fordern, gab es die Antwort: "Unten ist noch Luft drin."

So etwas hören die Kolleginnen und Kollegen aus dem technischen und Pflegebereich selbstredend nicht gern, und so ist es kein Wunder, dass sich im Laufe der Streiks an den Krankenhäusern das Klima zwischen Ärzten und "dem Rest" deutlich verschlechtert hat.
Denn Solidarität mit den Kampfmassnahmen der "sonstigen Beschäftigten" gab es von Seiten der Ärzte nicht. Die wiederum streikten bisher eigentlich nicht wirklich, sondern feierten offiziell ihre Überstunden ab - mit Billigung ihrer Chefärzte; ein interessanter Punkt, auf den wir noch zurückkommen.

Dass die öffentlichen Arbeitgeber nicht so schnell einknicken würden, war abzusehen. Ihr Verhandlungsangebot war zwar angesichts der oben aufgeführten Rechnung tatsächlich ärmlich, aber sie stehen vor dem Problem, dass sich jede Gehaltserhöhung an den Krankenhäusern direkt auf den Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung auswirkt, und das soll um jeden Preis vermieden werden, denn die Regierung sucht ja gerade Wege, die Kosten der Krankenversorgung weiter zu drücken.

Zu ihrem Maßnahmenkatalog gehört unter anderem auch die Arbeitszeitverlängerung an den Kliniken, gegen die das Krankenhauspersonal in den landeseigenen Häusern über 15 Wochen streikte. Außerdem sollen die Profite der neu entstandenen gerade richtig boomenden Krankenhauskonzerne nicht in Gefahr geraten.

Die Ärzte dagegen haben, wie sich in den letzten Wochen herausstellte, gegen eine Arbeitszeitverlängerung - besser gesagt, gegen eine offiziell höhere Arbeitszeit an Stelle der derzeitigen inoffiziellen, denn Überstunden werden nicht bezahlt, weil es sie offiziell nicht geben darf - nichts einzuwenden, bis zu 48 Wochenstunden sind im Gespräch. Sie wollen schlicht mehr Geld.

Und da kommen die Chefärzte ins Spiel. Die sind gegenüber der Geschäftsführung dafür verantwortlich, dass der Laden "wirtschaftlich" geführt wird - das steht seit Jahren in jedem neuen Chefarztvertrag. Damit geraten sie bei den geschilderten Arbeitsbedingungen an den Kliniken allerdings zunehmend unter den Druck der nachgeordneten Ärzte. Darum benutzen sie letztere jetzt als Rammbock.

Sie wollen eine Regelung, die ihnen ermöglicht, wieder in Ruhe ihrer Lieblingsbeschäftigung, nämlich dem Abkassieren von Privatpatienten nachzugehen, ohne sich um die Beschwerden der Assistenzärzte, Überstundenvergütungen und ähnliche lästige Dinge kümmern zu müssen - ganz zu schweigen von der Tatsache, dass manche Häuser große Schwierigkeiten haben, überhaupt noch qualifiziertes ärztliches Personal zu bekommen, weil dieses in bessere Gefilde abwandert.

Deshalb kann der Marburger Bund sich auch einen Streik ohne Streikkasse leisten, denn das Abfeiern von Überstunden bei fortlaufender Lohnzahlung ist nur mit Zustimmung der Klinikchefs möglich. Dass die Ärztekammer Rückendeckung gibt, ist nicht nur aus Standessolidarität selbstverständlich - schließlich war der derzeitige Präsident der Bundesärztekammer Hoppe nicht umsonst Vorgänger von Montgomery als Vorsitzender des MB. (Der MB vertritt inzwischen 100000 der insgesamt 146000 Krankenhausärzte; in Ver.di sollen bundesweit noch 600 organisiert sein.)

Ebenso selbstverständlich war es auch, dass der Streik der nichtärztlichen Beschäftigten weder der Ärztekammer noch dem Marburger Bund auch nur ein Wort der Solidarität wert war. Und als jetzt das Ergebnis der Verhandlungen feststand, entblödete sich der MB nicht, in seiner Begründung, warum er den Abschluss nicht übernimmt, zu behaupten, schliesslich lasteten die zusätzlichen Nacht- und Bereitschaftsdienste allein auf den Ärzten (die Urabstimmung bei Ver.di über das insgesamt enttäuschende Ergebnis war bei Redaktionsschluss noch nicht gelaufen).

Dass das auch für eine ganze Reihe anderer Beschäftigter an den Krankenhäusern (Operationsbereich, Ambulanz, Labor, Radiologie etc.) zutrifft, wurde verschwiegen.

Was bleibt?

Herauskommen wird letztlich nicht annähernd das, was sich die streikenden Mediziner erhoffen, auch wenn sie weiterstreiken. Aber es steht zu befürchten, dass sie daraus nicht den Schluss ziehen werden, es wäre richtiger gewesen, mit den anderen Krankenhausbeschäftigten gemeinsam für menschenwürdige Arbeitszeiten und -bedingungen und einen gerechten Lohn zu streiken.

Denn die Arbeitsbedingungen der angestellten Ärzte sind tatsächlich ebenso unzumutbar wie die der nichtärztlichen Beschäftigten. Aber bei diesem Ärztestreik handelt es sich nicht um einen emanzipatorischen Akt, sondern um den Versuch der Aufrechterhaltung abbröckelnder Standesprivilegien.

Die Entsolidarisierung zwischen dem ärztlichen und dem nichtärztlichen Personal, die sich in dieser Tarifrunde offen zeigt, ist allein dem Verhalten des ersteren geschuldet und dürfte das Arbeitsklima in den sonst in den Hochglanzbroschüren der Krankenhauskonzerne so gelobten "Teams" nicht gerade verbessern.

Eines muss man den Ärzten allerdings lassen: Ihre Organisation, der MB, ist nicht, wie Ver.di, mit Forderungen aufgetreten, die die andere Seite als Einladung zum Hinlangen begreifen musste. Von der Konsequenz, mit der sie bisher ihren Kampf führten, könnte sich die Ver.di-Bürokratie eine Scheibe abschneiden. Aber das macht ihre Missachtung der Menschen, mit denen sie tagtäglich zusammenarbeiten, nicht sympathischer.