Viel Harmonie – wenig Klärung

Anmerkungen zum 3. ver.di-Bundeskongress

in (09.11.2011)

Vom 17. – 24. September 2011 fand in Leipzig unter dem Motto »Vereint für Gerechtigkeit« der 3. ver.di-Bundeskongress statt. Trotz einiger kontroverser Diskussionen zeichnete er sich doch durch ein hohes Maß an Harmonie aus. Wichtige organisationspolitische Fragen wurden nur am Rande behandelt und blieben ungeklärt.

 

Die Grundlage für die harmonische Grundstimmung des Kongresses wurde schon bei der Eröffnungsveranstaltung gelegt. In seiner Rede hob Bundespräsident Wulff die Bedeutung der Gewerkschaften für die soziale Marktwirtschaft hervor und lobte sie für ihre verantwortungsvolle Tarifpolitik. Er betonte die gesellschafts- und sozialpolitische Funktion der Gewerkschaften und lobte sie für ihr Verantwortungsbewusstsein. In Zeiten neoliberaler Politik empfanden die meisten Delegierten diese sozialpartnerschaftlichen Töne des Bundespräsidenten als Wertschätzung für die gewerkschaftliche Arbeit in der »Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft« ver.di.

 

Schon vor dem Gewerkschaftskongress war ein möglicher Konflikt um eine gesetzliche Regelung zur Tarifeinheit entschärft worden. Auf Landesbezirks- und Fachbereichskonferenzen hatte es keine Mehrheiten für eine entsprechende gemeinsame Initiative von DGB und Arbeitgeberverbänden gegeben, obwohl sich der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske dafür stark gemacht hatte. Daraufhin hatte der Gewerkschaftsrat auf Antrag des Bundesvorstands seine Unterstützung für diese Initiative zurückgezogen und so einen konfliktarmen Kongressverlauf befördert.

In seinen mündlichen Erläuterungen zum Rechenschaftsbericht verwies Frank Bsirske zwar darauf, dass damit wichtige Fragen der Tarifstrategie noch klärungsbedürftig blieben, doch eine Diskussion darüber, wie Tarifeinheit praktisch herzustellen sei oder welche Konsequenzen für die Tarifpolitik zu ziehen wären, fand auf dem Kongress leider nicht statt.

 

Auch zu einer anderen ver.di-»Baustelle« gab es kaum eine (selbstkritische) Debatte, nämlich zur Mitglieder- und Organisationsentwicklung. Dabei hätte es mehrere Ansatzpunkte dafür gegeben, wie z.B. eine »Evaluation« anlässlich des zehnjährigen Bestehens von ver.di oder eine Auswertung des Projekts »Chance 2011«. Der Gewerkschaftsrat hatte 2008 mit einem Beschluss unter dem Label »Chance 2011« einen Prozess zur verstärkten Mitgliederorientierung in ver.di angestoßen. Dazu lag lediglich eine schriftliche Zwischenbilanz vor. Im Kongressverlauf war es ausgerechnet der Vorsitzende, der neben einigen ermutigenden Trends (Mitgliederverluste pro Jahr zwischen 2007–2010 zwei Prozent nach über vier Prozent zwischen 2004 und 2006) kritische Anmerkungen zur Mitgliederentwicklung machte. Dieser Prozess soll nun unter der Überschrift »Perspektive 2015« weitergeführt werden.

Das Thema »Mitglieder- und Organisationsentwicklung« wurde in der Aussprache von den Delegierten kaum aufgenommen, obwohl ver.di wegen der bereits beschlossenen Aufstockung des Streiksfonds von drei auf acht Prozent der jährlichen Beitragseinnahmen vor wichtigen organisatorischen Weichenstellungen steht. Auseinandersetzungen über organisationspolitische Prioritäten und die Verteilung der knapperen Sach- und Personalmittel auf die Bundesverwaltung, die Landesbezirke, die Bezirke und Fachbereiche sind abzusehen.

 

Bei den Wahlen zum Bundesvorstand gab es keine Überraschungen: Frank Bsirske wurde mit dem besten Ergebnis von über 94 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Auch die beiden stellvertretenden Vorsitzenden Andrea Koczic und Frank Wernecke sowie die anderen Bundesvorstandsmitglieder erhielten gute Ergebnisse mit über 80 Prozent Zustimmung. Nur die für Personal verantwortliche Isolde Kunkel-Weber musste sich mit einem schlechteren Ergebnis begnügen. Neu im Bundesvorstand sind die Kolleginnen Beate Mensch (Fachbereich Finanzdienstleistungen), Christine Behle (Verkehr) und Stefanie Nutzenberger (Handel). Eine Kontroverse über die Zahl der – unverändert 14 – Bundesvorstandsmitglieder gab es im Gegensatz zum letzten Bundeskongress nicht.

 

In Diskussionsbeiträgen während der Antragsberatung nahmen Themen wie Mindestlohn, Leiharbeit, prekäre Arbeitsverhältnisse insgesamt, Herabsetzung des Rentenalters, Streikrecht (insbesondere in kirchlichen Einrichtungen) und die Rolle der Bundeswehr einen breiten Raum ein.

Vieles wurde hier kontrovers diskutiert, z.B. die Höhe eines gesetzlichen Mindestlohns. Gegen die Forderung nach zehn Euro Mindestlohn argumentierte nicht nur Frank Bsirke mit dem Verweis auf die Beschlusslage des DGB, der sich beim letzten Kongress zunächst auf 8,50 Euro festgelegt hatte. Auch aus dem Kreis der Delegierten kam Ablehnung, da ver.di Tarifverträge abgeschlossen hat, die deutlich unter dieser Marke liegen. Hier war Kompromissfähigkeit gefragt. Nach längerer Diskussion lautete der Kompromiss: ver.di for-dert einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro, strebt aber eine zügige Erhöhung auf zehn Euro an.

Auch bei anderen Themen wurde deutlich, wie vielfältig die Interessen in ver.di, wie komplex die Probleme sind. Vor diesem Hintergrund war bei der Antragsberatung vielfach der Wunsch der Delegierten nach einfachen Lösungen bzw. gesetzlichen Regelungen unverkennbar.

 

Allerdings zeigte eine Podiumsdiskussion mit VertreterInnen von SPD, CDU, den Grünen und der Linkspartei, dass von der Politik nicht viel zu erwarten ist. Vor allem Frank Walter Steinmeier enttäuschte viele sozialdemokratische Gewerkschafter, weil er – vor allem zum Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen – keine klaren Aussagen machte. Die Erwartungen der sozialdemokratischen Gewerkschafter für die Bundestagswahl 2013 wurden so offenbar getrübt.

 

Trotz kontroverser Diskussionen über gesellschaftspolitische Fragen hat der Kongress wesentliche Themen der weiteren gewerkschaftlichen Entwicklung nicht aufgegriffen. Das trifft nicht nur für die bereits erwähnten Felder der Tarifpolitik und der Organisationsentwicklung zu, sondern auch für die künftige strategische Ausrichtung von ver.di: Der Leitantrag des Gewerkschaftsrats zur Begründung einer »Dienstleistungspolitik« mit dem Titel »Gute Arbeit – gute Dienstleistungen« wurde ohne große Diskussion beschlossen, obwohl er als strategischer Ansatzpunkt zur gesellschaftlichen Aufwertung von Dienstleistungsarbeit konzipiert war.

 

Die erforderlichen Klärungsprozesse haben keine Zeit bis zum nächsten Gewerkschaftskongress, der in vier Jahren stattfinden wird (ein satzungsändernder Antrag auf Verlängerung der Amtszeiten erhielt nicht die erforderliche Mehrheit). Daher wird der Gewerkschaftsrat als höchstes Gremium zwischen den Gewerkschaftskongressen die anstehenden Entscheidungen treffen müssen. Wie erfolgreich ver.di künftig »Vereint für Gerechtigkeit« streiten kann, wird auch davon abhängen, ob die anstehenden Klärungen von einer Debatte unter den ver.di-Aktiven begleitet werden – einer Debatte, die beim 3. Bundeskongress jedenfalls zu kurz kam.

 

 

erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 10/11

express im Netz unter: www.express-afp.info, www.labournet.de/express