Fünf Anmerkungen zur politischen Beziehung von Armut und Einkommen
»Mehr Geld« – noch immer verströmt dies den Geruch des Niederen, ›bloß Materiellen‹, der falschen Anreize, gar Lebensziele. Dem schönen Schein der materiellen Glücksversprechen auf den Leim gegangen zu sein, wird als Kritik interessanterweise vor allem dann formuliert, wenn es um die Lebensführung des modernen Pöbels und dessen Ausstattung mit »allgemeinem Äquivalent« geht. Wolfgang Völker untersucht die Motive dieser politisch-moralischen Erziehungsveranstaltung. Der Beitrag ist ein Vorabdruck aus der nächsten Ausgabe der Widersprüche, die unter dem Titel »Hinten anstellen. Zur Regulation von Armut in der aktivierten Bürgergesellschaft« als H. 119/120 im Verlag Westfälisches Dampfboot erscheinen wird.
1. Armutsgrenzen sind Einkommensgrenzen
Der Zusammenhang von Armut und Einkommen ist in der politischen Debatte über Armut und Arme ein wesentliches Thema. In dieser Diskussion ist man häufig mit einem Paradox konfrontiert: Es gibt kaum eine Diskussion über Armut und ihre Bekämpfung, in der nicht der Satz fällt, dass der Mangel an Geld bzw. Einkommen, also die materielle Dimension doch nicht das eigentliche Problem der Armut sei. Wahlweise wird dann noch hinzugefügt: »Die Armen geben ihr Geld für die falschen Sachen aus«, »Sie können nicht richtig mit Geld umgehen«, »Sie haben andere Probleme: ihnen fehlen Vorbilder, Ziele, Aufgaben, Bildung und Aufstiegswille«.
2010 war das europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung. In der Europäischen Union ist man sich darüber einig, dass Armut etwas mit Einkommen zu tun hat. 79 Millionen Menschen leben in Europa unter der Armutsgrenze, die als Einkommensgrenze definiert ist. Es gibt einen Konsens der Definition von Armut als relative Einkommensarmut, und es gibt einen Konsens über die Armutsgrenze bzw. Armutsrisikogrenze. Sie wird von der EU bei 60 Prozent des Durchschnittseinkommens des jeweiligen Landes angesetzt. Auch im wissenschaftlichen Diskurs ist man sich darüber einig, dass Armut wesentlich mit dem verfügbaren Einkommen zu tun hat, und es werden Armutsgrenzen definiert. Die bisher veröffentlichten Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung beziehen sich ebenfalls auf Armutsgrenzen, die in Geld ausgedrückt werden.
In der Armutsforschung unterscheidet man grob zwei Perspektiven: den Ressourcenansatz und den Le-benslagenansatz. Beide sind sich darin einig, dass die Menge des verfügbaren Einkommens die grundlegende Größe ist, die darüber entscheidet, ob jemand arm ist oder nicht. Dass das Leben armer Menschen genauso wie das nicht armer Menschen aus verschiedenen weiteren Dimensionen – wie Wohnen, Gesundheit, Erwerbsarbeit, Verfügung über soziale Netzwerke usw. – besteht, ist bekannt. Bekannt ist auch, dass der Mangel an Einkommen zu einem Mangel oder der Unterversorgung in den anderen Dimensionen führt.
2. »Geld regiert die Welt«
Politisch interessant ist, warum häufig versucht wird, die Rolle des Einkommens bei der Armutsbekämpfung klein zu reden. Alle wissen, dass sie Geld brauchen, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben vollzieht sich in einer Gesellschaft, deren Reichtum, wie Marx es formulierte, als ungeheure Warenansammlung erscheint – und zu einem gewichtigen Teil über den Kauf dieser Waren. Geld ist in dieser Gesellschaft das allgemeine Äquivalent, das allgemein anerkannte Tauschmittel. Für die Mitglieder dieser Gesellschaft ist die Verfügung über Geld neben der Verfügung über politische, zivile und soziale Rechte wesentlich für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Sind die Gesellschaftsmitglieder als mit Rechten ausgestattete BürgerInnen gleich, so sind sie (nicht nur) als Verfügende über Geld ungleich. Diese Verfügung über Geld eröffnet – ebenso wie das Innehaben von Rechten – Freiheiten. Mit der Menge des verfügbaren Geldes steigt die Wahlfreiheit, wofür das Geld ausgegeben werden kann. Auch wenn die Verfügung über unterschiedliche Mengen an Geld soziale Ungleichheit ausdrückt, hat die Verfügung über Geld auch eine wichtige Gleichheitsdimension. Diese geht verloren, wenn über Armutspolitik die Verfügung über das allgemeine Äquivalent zurückgeschraubt wird. Dass diese Möglichkeit zur Regel der sozialpolitischen Regulation von Armut gehört, lässt sich wahlweise im Sozialgesetzbuch II oder Sozialgesetzbuch XII (inklusive Asylbewerberleistungsgesetz) nachlesen. Als Leistungsarten sind Geld-, Sach- und Dienstleistungen vorgesehen. Für bestimmte Gruppen sind immer auch Gutscheine vorgesehen, neuerdings für die Teilhabe armer Kinder an Bildung, Kultur und Sport. Erhalten BürgerInnen zur Bekämpfung ihrer Armutslage bedürftigkeitsgeprüfte Sachleistungen oder Gutscheine (vielleicht auch noch zweckbestimmt oder nur an bestimmten Orten einlösbar) an Stelle von Geld oder werden auf Tafeln und Kleiderkammern verwiesen, dann sind sie diskriminiert. Sie sind vom allgemeinen Tauschgeschehen ausgeschlossen und unterscheiden sich von der Allgemeinheit. Gleichzeitig wird auch ihre Freiheit und Autonomie beschränkt, die sie, zwar auf niedrigstem Niveau, aber prinzipiell mit der Verfügung über Geld hätten.
3. »Was kostet die Welt?«
Die Verfügung über Geld hat neben der Dimension der Gleichheit die Dimension der sozialen Ungleichheit und der sozialen Unterscheidung. Wer über mehr Geld verfügt, kann sich mehr und anderes leisten. Das kann auch ein Blick in den letzten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung veranschaulichen. Ein Paar mit zwei Kindern unter 14 Jahren gilt dort als arm, wenn es weniger als 1 640 Euro und als reich, wenn es 6 863 Euro und mehr im Monat zur Verfügung hat. Es dürfte unbestreitbar sein, dass sich die Handlungsspielräume der beiden Familien im Alltag deutlich unterscheiden.
Wenn nun darauf hingewiesen wird, dass die reiche Familie ja sicher in einer ganz anderen Gegend wohnt, viel mehr für Miete oder Wohneigentum zahlt, sicher höhere Kosten für Benzin und Kfz-Steuer hat oder gar zwei Autos und eine Ferienwohnung finanzieren muss, sowie dass die Ausgaben für Kultur, Bildung und gesundheitsfördernden Sport höher als bei der armen Familie sind, dann befindet man sich mitten drin im Problem von Einkommen, Armut und sozialer Ungleichheit. Hier stellt sich schnell die Frage, wer was für seine Lebensführung braucht und wie viel er oder sie dafür ausgibt.
Armutspolitisch landet man mit dieser Frage bei der Bedarfsbemessung der Regelsätze im SGB II/SGB XII. Auch hier spielt Einkommen eine wesentliche Rolle. Im Rahmen des Statistikmodells der Bedarfsbemessung wurde bisher mit Hilfe der Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe betrachtet, wie viel die Ein-Personen-Haushalte der unteren 20 Prozent der bundesdeutschen Einkommenshierarchie für ihren Lebensunterhalt ausgeben. Aus diesen Auswertungen wurden die Regelsätze abgeleitet. Zu dieser Ableitung gehörte und gehört es, nicht alle Ausgaben als relevant für das physische und soziokulturelle Existenzminimum von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen anzusehen.
Trotz der Klarstellung des Bundesverfassungsgerichts im Februar 2010, dass hier keine Willkür und keine Schätzung ins Blaue hinein zulässig sind, wird vom zuständigen Ministerium weiter so gerechnet, dass die Bekämpfung der Armut nicht zu teuer kommt. Da werden die unteren 20 Prozent der Einkommenshierarchie mit den unteren 15 Prozent ersetzt, da werden u.a. Ausgaben für Tabak, Bier und Schnittblumen als nicht wesentlich für das Existenzminimum herausgerechnet und prophylaktisch für die jährliche Fortschreibung der Regelsätze neben der Preisentwicklung auch die Lohnentwicklung herangezogen. Die Bedarfsbemessung innerhalb des Statistikmodells ist durch die Fokussierung auf das Ausgabeverhalten der untersten Ein-kommensgruppen, das als Grundlage für die Bedarfsermittlung gilt, grundsätzlich beschränkt. Sozialleistungen, deren Aufgabe als Armutsvermeidung beschrieben wird, landen so in weiten Teilen auf einem Niveau unterhalb der definierten Armutsgrenzen.
4. »Wer arbeitet, soll mehr haben als jemand, der nicht arbeitet«
Erwerbsarbeit wird in der Regel als Königsweg aus der Armut gesehen. Durchaus auch von Armen selber. Wenn das gelten soll, dann muss das Einkommen aus dieser Arbeit auch mindestens so hoch sein, dass die Armutsgrenzen überschritten werden. Das Prinzip »Arbeit um jeden Preis« ist keine Armutsbekämpfung, sondern eher die Förderung von Armut. Die armutspolitische Diskussion um das Verhältnis von Einkommen und Sozialleistungen, die das Existenzminimum sichern sollen, führt regelmäßig auch zur Frage des so genannten »Lohnabstandsgebots«. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner Entscheidung zur Bedarfsbemessung der Regelsätze im SGB II und SGB XII nicht geäußert. Optimistische Interpretationen des Urteils sahen das Lohnabstandsgebot damit schon auf dem Müllhaufen der Geschichte. Die politische Diskussion hat es aber schnell wieder auf die Tagesordnung gesetzt, und das mantrahaft vorgetragene Argument, wer (lohn)arbeitet, solle mehr haben als die, die nicht (lohn)arbeiten, scheint nicht an Überzeugungskraft zu verlieren.
Zwar wird in sozialwissenschaftlichen, sozialrechtlichen und sozialpolitischen Diskussionen durchaus die Position vertreten, dass die Lohnhöhe und die Höhe des soziokulturellen Existenzminimums unterschiedlich zu betrachten seien. Löhne haben nicht die Funktion, einen letztlich normativ gesetzten, an den gegebenen gesellschaftlichen Umständen orientierten soziokulturellen Bedarf, der der Menschenwürde entsprechen soll, zu bezahlen. Gleichwohl bestimmt die Höhe von grundsichernden sozialstaatlichen Leistungen (und die Bedingungen, an die sie geknüpft sind) den Grad der Freiheit von lohnabhängig Arbeitenden, nicht »um jeden Preis« arbeiten zu müssen. Um diesen sozialen und politischen Konflikt zwischen Kommodifizierung oder Dekommodifizierung der Ware Arbeitskraft geht es letztlich, wenn das Lohnabstandsgebot in der armutspolitischen Diskussion verwendet wird.
Wichtig und folgenreich sind politisch allerdings auch die darin zum Tragen kommenden Gerechtigkeitsvorstellungen, die an Prinzipien einer auf dem Arbeitsethos beruhenden Tauschgerechtigkeit anknüpfen und geeignet sind, die traditionsreiche, mehr oder weniger latente Unterscheidung von würdigen und unwürdigen Armen wieder zu beleben. Diese Gerechtigkeitsvorstellungen sind anschlussfähig an Armutspolitiken, die auf niedrige Sozialleistungen mit hohem Druck zur Arbeitsaufnahme setzen. Die damit verbundenen Schwierigkeiten für eine an egalitären Vorstellungen orientierte Politik werden durch die Ausweitung von Niedriglohnbeschäftigung und prekären Arbeitsverhältnissen sogar noch verstärkt. Alle politischen Vorschläge, die in Richtung garantierter existenzsichernder Einkommen – sei es auf Basis von Lohn oder Transferleistung – zielen, haben mit diesem Problem zu kämpfen und sind dennoch emanzipatorisch, weil sie sich dem Dogma der Kommodifizierung, d.h. von »Arbeit um jeden Preis« verweigern. Der Streit über das rechte Maß des Verhältnisses von Einkommen aus Lohnarbeit und Transfereinkommen ohne Lohnarbeit zeigt, wie nützlich die Armut politisch gegenüber denjenigen ist, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen.
5. Geld macht glücklich? Geld macht nicht glücklich?
Der Slogan des Hamburger Spendenparlaments lautet »Geld macht glücklich«, Sozial- und andere Lotterien versprechen, dass man mit Geld Wünsche erfüllen kann. Sigmund Freud meinte, Geld macht nicht glücklich, weil es sich dabei nicht um einen typischen Kinderwunsch handele. Interessanterweise wird, wie eingangs erwähnt, die Vorstellung von mehr Geld in den Händen von armen Haushalten des Öfteren nicht mit Glück assoziiert, sondern mit autoritären Bevormundungsphantasien.
Nun kann man, wie hier versucht, gegenüber solchen Arme abwertenden und Armut kulturalisierenden Argumenten darauf bestehen, dass es erstens nicht Aufgabe des Staates ist, die BürgerInnen zu erziehen und dass zweitens die Verfügung über mehr Geld eine befreiende Wirkung mit sich bringt. Meine These lautet: Hätten Arme mehr Einkommen, wäre für die Mehrheit von ihnen das Armutsproblem gelöst. Sie wären von etlichen Sorgen befreit. Falls sie noch andere Sorgen gesundheitlicher oder psychosozialer Art haben, muss es entsprechend gute professionelle Angebote geben, bei und mit denen sie diese Sorgen los werden können.
Nun kann in der Argumentation aber noch einen Schritt weiter gegangen werden. Wenn politisch damit ernst gemacht werden soll, dass mehr Geld für private Haushalte die mit Armut verbundenen Beschränkungen nicht löst, dann bietet sich als Alternative der freie Zugang zu öffentlichen Gütern und deren Ausbau im Sinne einer Infrastruktur für alle an. Allen, die meinen, dass mehr Einkommen Armen nichts nütze oder gar schade, kann so der Vorschlag zur Güte gemacht werden: kostenfreie Bildung, kostenloses Essen in Kita und Schule, kostenlose öffentlich geförderte Kultur und Gratismobilität im Nahverkehr sowie Schritte zur Dekommodifizierung des Wohnens. Eine solche Politik der Förderung der öffentlichen Güter für alle hat den Vorteil, dass sie in der Armutspolitik gängige Diskriminierungen über Bedürftigkeitsprüfungen vermeidet und nicht Sonderbedarfe und -programme gegen Armut, sondern einen anderen Reichtum der Lebensbedingungen für alle zur Diskussion stellt. Die Frage, ob Geld glücklich macht oder nicht, kann vor diesem Hintergrund offen bleiben.
Fest steht jedoch: Arbeitslosengeld II macht nicht glücklich.
6. Kaufmännischer Abschluss
Die Beziehung von Armut und Einkommen lässt sich auch unter der Fragestellung betrachten, wie teuer dem Staat die Verwaltung der Armut ist. Das 2010 beschlossene Kürzungspaket sieht kräftige Kürzungen zu Lasten von Haushalten von Armen, Geringverdienenden und Erwerbslosen vor. Die Kürzungen belaufen sich bis zum Jahr 2014 auf 4,5 Mrd. Euro durch effektivere Vermittlung in Arbeit plus 7,2 Mrd. Euro durch Abschaffung der Beiträge zur Rentenversicherung für SGB II-Berechtigte plus 2,4 Mrd. Euro faktische Streichung des Elterngeldes für SGB II-Berechtigte und 0,12 Mrd. Euro Kürzungen beim Wohngeld.
Demgegenüber rechnet die Bundesregierung bis zum Jahr 2014 mit Mehrkosten von 2,86 Mrd. Euro für das so genannte Bildungs- und Teilhabepaket und 1,47 Mrd. Euro für die Regelsatzerhöhung, macht zusammen 4,74 Mrd. Euro. Den Kürzungen in Höhe von 14,22 Mrd. Euro stehen also Ausgaben in Höhe von 4,74 Mrd. Euro gegenüber. Das ergibt 9,48 Mrd. Euro »Einsparungen« auf Kosten von Armen, Geringverdienenden und Erwerbslosen.
Wie schrieb doch Ernst Bloch: »Was tun Sie? Fragte ich. Ich spare Licht, sagt die arme Frau. Sie saß in der dunklen Küche, schon lange. Das war immerhin leichter, als Essen zu sparen. Da es nicht für alle reicht, springen die Armen ein. Sie sind für die Herren tätig, auch wenn sie ruhen und verlassen sind«. (Ernst Bloch: »Die Arme«, in: Spuren, neue erweiterte Ausgabe, Frankfurt 1969, S. 21)
erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 6/11
express im Netz unter: www.express-afp.info, www.labournet.de/express