Ein Jahr Obama

Die USA zwischen Reformpolitik und rechtem Propagandafeldzug

Als Barack Obama vor einem Jahr, nach einem von den Begriffen „Hoffnung“ und „Wechsel“ geprägten Wahlkampf, die Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten gewann, kannte der Jubel keine Grenzen. Bereits der Umstand, dass erstmalig ein Afroamerikaner ins Präsidentenamt gewählt wurde, bedeutete eine tiefe Zäsur in der US-amerikanischen Geschichte. Der im Januar erfolgte Einzug Obamas ins Weiße Haus machte vielen Menschen im In- und Ausland Hoffnung auf eine politische Neuausrichtung des mächtigsten Landes der Welt.

Gewissermaßen als Echo der Euphorie und der hochfliegenden Hoffnung, der neue starke Mann werde schon alles zum Guten wenden, sprach das norwegische Nobel-Komitee dem amerikanischen Präsidenten nun Anfang Oktober den Friedensnobelpreis zu. „Es geschieht selten, dass eine Person wie jetzt Obama die Aufmerksamkeit der Welt derart auf sich zieht und neue Hoffnungen auf eine bessere Zukunft entfacht“, heißt es in der Begründung.

Und in der Tat: Obama ist nicht Bush – allein das markiert bereits einen nicht zu unterschätzenden Wandel. Zu Recht verweist das Nobel-Komitee auf Obamas Initiative zur Abrüstung der Atomwaffen und seinen Einsatz für multilaterales Handeln (den er jüngst in seiner Rede vor der UNO erläuterte). Aber auch darüber hinaus ist es in der Außenpolitik zu einer vorsichtigen Abkehr vom Kurs der Bush-Regierung gekommen. Dies belegen Obamas Hinwendung zur islamischen Welt (wie sie in der Kairoer Rede zum Ausdruck kommt), die, wenn auch zögerliche, Förderung des Umwelt- und Klimaschutzes, der Stopp der Pläne zur Raketenstationierung in Osteuropa sowie der laufende Abzug des größten Teils der US-Streitkräfte aus dem Irak. 1

Aber während, wie die Entscheidung des Nobel-Komitees illustriert, die Begeisterung über den neuen Präsidenten im Ausland anhält, ist die Euphorie in den Vereinigten Staaten selbst inzwischen verflogen. Die Gründe für diese Ernüchterung liegen einerseits in den objektiven Hindernissen, die die Reformpolitik erschweren – den konstitutionellen Hürden, der Macht der Interessengruppen und dem Widerstand der politisch Rechten. Andererseits erzeugen Obamas vorsichtiges Agieren und sein Entgegenkommen gegenüber den Republikanern auf Seiten seiner Unterstützer aus dem Wahlkampf zunehmend Enttäuschung.

Dies vor allem deshalb, weil zentrale Probleme weiterhin ihrer Lösung harren. Zwar hat der neue Präsident in den ersten Wochen seiner Amtsführung einige Reformen veranlasst, die einen Bruch mit der Politik seines Vorgängers symbolisierten. 2 Die Umsetzung anderer zentraler Versprechen, wie etwa die Schließung von Guantánamo, steht indes immer noch aus. Und gerade mit Blick auf Afghanistan, wo die Taliban, trotz massiver Truppenverstärkungen der Amerikaner, nach Aussage des dortigen ISAF-Oberkommandierenden General Stanley McChrystal allmählich die Oberhand gewinnen, sieht sich Obama in die Enge getrieben.

Innenpolitisch sieht die Lage kaum besser aus. Nach einem Sommer, der geprägt war von nachlassendem Reformeifer, halbherzigen Kompromissen und wachsendem Widerstand der amerikanischen Rechten, stehen der neue Präsident und seine Regierung bereits jetzt, zehn Monate nach ihrem Antritt, unter immensem politischen Druck. Denn ausgerechnet auf den beiden wichtigsten innenpolitischen Feldern seiner Regierungsarbeit droht Obama zu scheitern: bei der Krisenbekämpfung und der Gesundheitsreform.

Wirtschaftspolitik: Der Bock als Gärtner

Die Bekämpfung der Finanz- und Wirtschaftskrise besaß, vor allem zu Beginn von Obamas Amtszeit, eindeutig Priorität. Binnen Wochen wurde ein Konjunkturprogramm mit einem Umfang von knapp 790 Mrd. US-Dollar durch den Kongress gebracht, das den Absturz der US-Wirtschaft zumindest bremsen, wenn nicht gar aufhalten sollte. Inzwischen belegen jedoch insbesondere die laufend steigenden Arbeitslosenzahlen, die im September mit offiziell knapp zehn Prozent 3 auf den höchsten Stand seit über einem Vierteljahrhundert kletterten, dass dieses Programm, wie Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman kritisierte, trotz seines imposanten Volumens viel zu bescheiden ausgefallen ist. 4 Zudem verwässerten die Konzessionen, die Obama machte, um zumindest einige Abgeordnete und Senatoren der Republikanischen Partei (es waren deren letztlich ganze drei) zur Zustimmung zu bewegen (insbesondere Steuersenkungen anstelle von Infrastrukturinvestitionen), die Zielsetzung erheblich. Die Folge: Die Wirtschaftsleistung bricht weiter ein, immer mehr Menschen leiden unter den – in den Vereinigten Staaten kaum sozialstaatlich abgefederten – Härten der Arbeitslosigkeit.

Ganz anders die Entwicklung im Bankensektor. Hier scheinen, fürs Erste, die schlimmsten Auswirkungen der Krise überwunden – die Gewinne der Banken machen derzeit volle 31,5 Prozent der Unternehmensgewinne aus, mehr als selbst in den Jahren der Immobilienblase. 5 Allerdings birgt diese Entwicklung ein vielleicht noch größeres Problem für die Regierung, da das Pendel im Finanzsektor auf ein business as usual zurückschwingt: Der Handel mit Derivaten steigt rapide an, die Bereitschaft, (zu) hohe Risiken einzugehen, wächst wieder – und die Debatte über die Notwendigkeit stärkerer Marktregulation ist beinahe vollständig verklungen. Obama selbst hat hieran einen nicht unwesentlichen Anteil, da er die Ausarbeitung der Bankenpolitik in seinem Kabinett weitgehend den Gewährsleuten der Wall Street (Timothy Geithner, Lawrence Summers) überlassen und damit gewissermaßen den Bock zum Gärtner gemacht hat. Auf den Rat von Ökonomen, die machbare Alternativen zur Wall-Street-Dominanz aufzeigen (wie etwa Joseph Stiglitz, James K. Galbraith oder Paul Krugman), verzichtet er hingegen. Dies bestätigt – angesichts der hohen Wahlkampfspenden aus dem Bankensektor an Obama – bereits vor seinem Amtsantritt geäußerte Befürchtungen, auch ein demokratischer Präsident werde zu wenig tun, um gesellschaftliche gegenüber mächtigen privaten Interessen durchzusetzen.

Aufgrund des Umstandes, dass Barack Obama im Wahlkampf versprochen hatte, „den Unternehmens-Lobbyisten zu erklären, dass ihre Tage als AgendaSetter in Washington zu Ende sind“, und des wachsenden Unbehagens in der Gesellschaft erweist sich die Form der Bankenrettung als politisch verheerend. Auf diese Weise kann es Obama nicht gelingen, insbesondere die von der Krise betroffenen Bürgerinnen und Bürger davon zu überzeugen, dass er für sie ähnlich viel tun wird wie für die Banken und Konzerne.

Es ist zugleich, so muss man hinzufügen, ökonomisch verheerend. Denn die mangelnden Konsequenzen aus dem Bankenkollaps reproduzieren bzw. verstärken gar die Dominanz des Finanzsektors. Damit aber wächst zugleich die Gefahr einer Wiederholung der Krise.

Wie wenig Obamas im Grunde populistische Kritik an den Bonus-Zahlungen und sein Appell zu mehr Verantwortlichkeit nutzen, wenn sie lediglich verbal vorgetragen, aber nicht mit substanziellen politischen Regulierungen untersetzt werden, zeigte sich jüngst ausgerechnet am Jahrestag der Lehman-Pleite besonders drastisch: Zu Obamas Rede an der Wall Street, bei der der Präsident mahnende Worte an die Branche richtete, fand sich kein einziger Bankenchef ein. 6

Infolge der gigantischen Summen, die für Bankenrettung und Konjunkturstützung eingesetzt wurden, hat sich darüber hinaus das von der Regierung Bush geerbte Defizit im Staatshaushalt dramatisch erhöht. Gegenwärtig liegt das monatliche Defizit bei über 110 Mrd. US-Dollar; für das Haushaltsjahr 2008/09 beträgt es rund 1,4 Billionen US-Dollar – und könnte im laufenden Jahr noch höher liegen. Vermutlich wird die Regierung mittelfristig nicht ohne massive Einsparungen auskommen. Und man ahnt, wer diese Differenz am Ende wird bezahlen müssen – wie sich bereits an Obamas Absichtserklärung zeigt, die Gesundheitsreform kostenneutral für den Staatshaushalt zu gestalten.

Gesundheitsreform im Krebsgang

Die Gesundheitsreform ist das Politikfeld, das bereits weitgehend über das innenpolitische Schicksal des neuen Präsidenten entscheiden könnte, bevor er ein volles Jahr im Amt ist. Wie alle anderen demokratischen Präsidentschaftskandidaten hatte auch Obama eine grundlegende Reform des Gesundheitswesens auf seine Fahnen geschrieben. Und eine solche ist in der Tat dringend geboten: In der reichsten Volkswirtschaft der Welt leben rund 50 Millionen Menschen ohne Krankenversicherung. Darüber hinaus ist es legal, dass Krankenkassen bereits bei Versicherungsabschluss bestehende Erkrankungen vom Versicherungsschutz ausnehmen. Selbst rückwirkende Kündigungen von Policen, die in der Regel dann erfolgen, wenn die Kosten für die Kassen steigen – also wenn jemand wirklich schwer erkrankt ist –, sind zulässig. Für die Betroffenen bedeutet dies in der Regel den jähen Absturz in die Armut.

Gleichzeitig ist das Gesundheitswesen einer der größten Wirtschaftssektoren der USA. Es macht rund ein Sechstel der gesamten US-Wirtschaft aus. Entsprechend gigantisch sind die Profite – und die Interessen der Profiteure. Letztere haben stets – zuletzt zu Beginn der Präsidentschaft Bill Clintons – verhindert, dass grundlegende Änderungen am Gesundheitssystem vorgenommen werden, indem sie alle wichtigen politischen Kandidaten in ihren Wahlkämpfen mit massiven Geldspenden unterstützten und sich auf diese Weise ihrer politischen Loyalität versicherten. Denn in amerikanischen Wahlkämpfen gilt, gerade für die Senatoren (und natürlich vor allem die Präsidentschaftskandidaten): Gewählt wird nur derjenige, der die „richtigen“, sprich: finanzstarken, Freunde hat.

Die zentralen Ziele der Gesundheitsreform sind die Einführung einer allgemeinen Versicherungspflicht 7 und die Erweiterung von Medicaid, der staatlichen Versicherung für Sozialhilfebezieher. Finanziert werden soll die Reform durch Steuererhöhungen für Reiche, wie sie Obama bereits im Wahlkampf versprach, und über Kostensenkungen im extrem teuren US-Gesundheitssystem (die wiederum selbst eines der Reformziele sind).

Als die neue Regierung ihre Vorschläge für eine Gesundheitsreform vorlegte, war das Vorhaben zunächst von hohen öffentlichen Zustimmungswerten getragen. Inzwischen jedoch befindet sie sich, nach einem Sommer, der von heftiger Kritik der Lobbyisten im Verbund mit einer Offensive der politisch Rechten geprägt war, im Krebsgang. Ob am Ende überhaupt noch etwas verabschiedet werden wird, das den Titel „Reform“ verdient, scheint derzeit offen. Fest steht jedoch bereits jetzt, dass von den hochfliegenden Plänen aus der Zeit des Wahlkampfs wenig übrig bleiben wird.

Zuerst wurde die von vielen liberals und Linken befürwortete Einführung einer staatlichen Krankenkasse für alle („single payer“) ad acta gelegt; sie war nicht einmal Gegenstand der Beratungen im Team Obamas. Stattdessen einigte man sich dort auf eine sogenannte public option. Kern dieses Vorschlags ist die Einführung einer staatlichen Krankenversicherung, die in Konkurrenz mit den privaten Versicherungsunternehmen um Kunden werben soll – und dies vermutlich auch könnte, da sie keine Profite abwerfen müsste und Policen somit billiger anbieten könnte.

Dieser Vorschlag einer public option geriet umgehend ins Visier der großen Versicherungskonzerne, die sich auf keinen Fall einer derartigen Konkurrenz ausgesetzt sehen wollen. Ihre Lobbyisten hatten sich bereits lange auf diese „Bedrohung“ eingestellt und rechte Demokraten im Senat, die sogenannten blue dogs, darauf eingeschworen bzw. mit massiven Spendengeldern dazu „überredet“, jeden Gesetzentwurf zu blockieren, der eine public option beinhaltete. 8

Hier offenbart sich ein grundlegendes Problem der neuen Administration: Obwohl die Demokraten in beiden Häusern des Kongresses über eine satte Mehrheit verfügen, ist die Durchsetzung von Reformvorhaben schwierig. Und dies nicht nur wegen Obamas offensichtlich vergeblichen Versuchen, auch Abgeordnete der Republikaner für seine Reformpolitik zu gewinnen (bei der Gesundheitsreform geht es diesbezüglich nur noch um die – mögliche – Zustimmung einer einzigen republikanischen Senatorin, Olympia Snowe aus Maine). Vielmehr sieht er sich mit objektiven Hürden konfrontiert, die in der spezifischen Struktur des amerikanischen politischen Systems liegen. Denn während das Repräsentantenhaus auf proportionaler Repräsentanz entsprechend der Bevölkerungszahl beruht, ist im – mächtigeren – Senat jeder Bundesstaat mit zwei Senatoren vertreten. Diese Regelung aber stellt sicher, dass die großen Bundesstaaten massiv unterrepräsentiert sind, während die ländlich strukturierten, dünn besiedelten Bundesstaaten des Südens und Westens – das Herzland des amerikanischen Konservatismus – weit überproportionalen Einfluss besitzen. Diese Regelung erschwert – siehe die Rolle der blue dogs – progressive Reformen selbst dann, wenn die Partei des Präsidenten über eine nominell große Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses verfügt. Die Handlungsspielräume des vermeintlich „mächtigsten Menschen der Welt“ sind also massiv eingeschränkt – durch die politische Verfassung wie durch mächtige Konzerninteressen.

Im August erklärte der Präsident schließlich, die public option sei kein zentraler Punkt der Reform, es sei auch eine genossenschaftliche Lösung denkbar. Der seit Mitte Oktober vorliegende Gesetzentwurf des Senatsfinanzausschusses – der unter Leitung von Max Baucus, einem Demokraten aus Montana, erarbeitet wurde, dessen Kampagne maßgeblich die Versicherungskonzerne finanzierten – erwähnt diese denn auch nicht mehr. 9

Hier zeigt sich das Problem, dass Obama im Bestreben, für seine Reformen auch Mandatsträger der Republikaner zu gewinnen, allzu viel politisches Terrain preisgeben könnte. Seit dem schrittweisen Rückzug von der public option, die die meisten Demokraten, netroots und anderen Aktivisten des Wahlkampfs sehr wohl für zentral halten und die auch eine große gesellschaftliche Mehrheit befürwortet, wird der Präsident nun auch erstmals von der amerikanischen Linken kritisiert, die bislang weitgehend stillgehalten hatte. Gewerkschaftsvertreter wandten sich dagegen, die public option aufzugeben, und zahlreiche Abgeordnete erklärten, nur einer Reform zuzustimmen, die nicht auf diese verzichte. Der Präsident läuft also Gefahr, mit seiner Politik des Ausgleichs den aktivsten Kern seiner Wählerbasis zu verprellen.

Widerstand von rechts

Die heftigste Kritik an der Gesundheitsreform – und am Präsidenten – wird indes von der politisch Rechten vorgetragen. Sie diffamiert das Vorhaben, ganz im Sinne der Versicherungskonzerne, als „Angriff auf die Freiheit“ und setzt damit auf ein geradezu klassisch amerikanisches Thema: die Kritik von Staat und big government. 10 Mit ihren polemischen Angriffen und vor allem mit ihren Massenmobilisierungen eroberte eine lose Allianz aus christlichen Fundamentalisten, Marktliberalen und rassistischen Rechtsaußen im Laufe des Sommers, vor allem in der Debatte über die Gesundheitsreform, zunehmend die mediale Lufthoheit. Ihre Strategie ist dabei einfach: Sie versuchen, bei der großen Mehrheit von über 80 Prozent, die über irgendeine Form der Krankenversicherung verfügt, 11 Unsicherheit und Angst über die Reform zu verbreiten – und dies auch mittels gezielter Desinformation.

Die Proteste artikulierten sich einerseits in dezentralen town hall meetings, auf denen die Basis der Republikanischen Partei und anderer Kräfte Sturm lief gegen die neue Regierung im Allgemeinen und die Gesundheitsreform im Besonderen. Im April und im Juli wurden darüber hinaus sogenannte tea parties 12 organisiert, bei denen die Ablehnung von Steuern und big government, aber auch – und gerade – von Obama selbst im Mittelpunkt stand. Höhepunkt der Proteste war der „Taxpayers’ March on Washington, D.C.“, bei dem am 12. September Zehntausende auf die Straße gingen.

Angefeuert werden die Demonstranten vom Establishment der Republikanischen Partei, die seit Obamas Amtsantritt gegen alles Sturm läuft, was aus dem Weißen Haus kommt. Manche preschen dabei besonders weit vor. So brachte der Gouverneur von Texas, Rick Perry, offen die Möglichkeit der Sezession seines Staates ins Gespräch. Der republikanische Kongressabgeordnete Spencer Bachus aus Alabama behauptete jüngst in McCarthy-Manier, im Kongress säßen anderthalb Dutzend „Sozialisten“. Und der Abgeordnete Joe Wilson aus South Carolina bezichtigte Obama während seiner Rede zur Gesundheitsreform vor dem Kongress in einem Zwischenruf der Lüge (You lie!) – eine Bemerkung, für die er sich später zwar entschuldigen musste, die aber auf Zustimmung, ja Begeisterung seiner Anhänger traf.

Die anhaltenden Proteste gehen allerdings nicht von der Republikanischen Partei aus. Trotz ihrer fortschreitenden Radikalisierung, die sie auf der politischen Landkarte weit nach rechts, weit jenseits der europäischen konservativen Parteien geführt hat, wird auch sie oftmals nur noch als Teil des Establishments in Washington wahrgenommen – gerade von der christlichen Rechten als der treibenden Kraft hinter den Massenprotesten.

Die Stärke der radikalen christlichen und nationalistischen Rechten liegt erstens in der hohen Mobilisierungsfähigkeit ihrer Anhänger und zweitens in ihrem medialen Einfluss bzw. ihrer medialen Resonanz begründet. Letztere hat dazu geführt, dass Radiomoderatoren zu den eigentlichen Stichwortgebern der Anti-Obama-Proteste geworden sind: Zu Rush Limbaugh, der schon lange im Geschäft ist und mit seiner täglichen Sendung schätzungsweise 20 Millionen Menschen erreicht, gesellen sich jüngere Stimmen wie etwa Laura Ingraham oder Glenn Beck, der multimedial präsente Shootingstar der Saison. 13 Flankiert werden ihre Attacken gegen Obama insbesondere von Rupert Murdochs strammrechter Sendergruppe Fox TV.

Politik der Angst

Insbesondere die talk radio hosts artikulieren ihre verbalen Attacken in grob gestrickter, ja geradezu gehässiger Form. Ihre täglich mehrstündigen Sendungen sind dabei zum Labor von Angstmache und Verschwörungstheorien geworden. „Ich habe Angst. Sie sollten auch Angst haben“, stachelt beispielsweise Glenn Beck seine Zuhörer auf. Diese Form der Ansprache, die Richard Hofstadter bereits in den 60er Jahren als „paranoiden Stil“ interpretierte, hat in den USA eine lange Tradition, die bis zu den Anfängen der Republik zurückgeht. Ihre Spur reicht von der Furcht vor „Illuminaten“ im 18. Jahrhundert über die Angst vor Freimaurern und Jesuiten im 19. bis zum paranoiden Antikommunismus von McCarthy und der ultrakonservativen John Birch Society im 20. Jahrhundert. 14

Markenzeichen der Radiosendungen ist dabei die manichäische Unterscheidung zwischen „Wir“ und „die“. „Wir“, das sind die guten, fleißigen, patriotischen Amerikaner; „die“, das sind die anderen, die schlechten, faulen, unpatriotischen, liberalen Un-Americans. Im vermeintlichen Kampf zwischen Gut und Böse werden die Gegner zu Feinden stilisiert.

Die Radiomoderatoren vermischen dabei völlig zusammenhanglose „Fakten“ und konstruieren auf der Basis dieses Cocktails offen Verschwörungstheorien. Bereits die John Birch Society äußerte seinerzeit die irrwitzige Behauptung, Präsident Eisenhower sei ein kommunistischer Geheimagent der Sowjetunion. Geradezu klassisch ist heute die Litanei von der angeblich linken Mediendominanz bzw. -kontrolle. Aber die Rechten gehen noch weiter. So wurde Obama auf den tea parties mit Hitler verglichen, und Glenn Beck bezeichnet ihn wahlweise als „Marxist“, „Faschist“ oder „Nazi“. Beck fachte im Sommer auch das Gerücht an, die Katastrophenbehörde FEMA plane die Errichtung von Konzentrationslagern, und die republikanische Kongressabgeordnete Michele Bachmann aus Minnesota spekulierte über die Einrichtung von „Umerziehungslagern“.

Von besonderer Bedeutung sind in diesem verschwörungstheoretischen Kontext die sogenannten birthers. Sie zweifeln offen an, dass Barack Obama überhaupt in den Vereinigten Staaten geboren wurde. Obwohl dies offensichtlich Unsinn ist, genießen die birthers prominente Unterstützung, wie etwa durch den Fernsehmoderator Lou Dobbs auf CNN. Rush Limbaugh meinte angesichts der Verleihung des Friedensnobelpreises an den US-Präsidenten: „Ich glaube, er ist der zweite Kenianer, der den Preis bekommt.“

Die potentielle Explosivität der Behauptung, Obama sei in Wirklichkeit gar nicht in den USA geboren, liegt darin begründet, dass in den USA nur Präsident werden darf, wer im Lande selbst gebürtig ist. Hätte der amtierende Präsident also im Ausland das Licht der Welt erblickt, wäre seine Amtsführung illegal – woraus sich wiederum ein Recht auf (bewaffneten) Widerstand ableiten ließe. Dies verschärft die Gefahr, die von dem Schattenreich rechtsradikaler, nicht selten bewaffneter Gruppen ausgeht. So vollzieht sich derzeit ein bislang kaum wahrgenommener Aufschwung der militias, also jener Wehrsportgruppen, die bereits in den 90er Jahren stark verbreitet waren. 15

Bereits im April warnte ein Bericht des „Heimatschutzministeriums“ vor der wachsenden Gefahr eines gewalttätigen Rechtsextremismus. Seit dieser Warnung wurden unter anderen ein Arzt, der Abtreibungen vornahm, und ein Wachmann im Holocaust-Museum in Washington D.C. erschossen. Und die Morddrohungen gegen Obama sind Legion. Kurz: Die rechtsextremistische Subkultur, aus der einst Timothy McVeigh, Urheber des Anschlags von Oklahoma City 1995, hervorging, wächst bedrohlich.

Black President, White Backlash

Im September äußerte Ex-Präsident Jimmy Carter die Vermutung, hinter den Angriffen auf Obama stecke in Wahrheit nicht die Ausgestaltung der Gesundheitsreform oder anderer politischer Vorhaben. Treibendes Motiv sei vielmehr Rassismus. Paul Krugman sieht in der Geschichte von Rassismus und Sklaverei auch die Ursache dafür, dass die USA heute das einzige große industrialisierte Land sind, in dem es keine allgemeine Krankenversicherung gibt. 16 Und in der Tat: Es wäre naiv anzunehmen, dass mit dem schwarzen Präsidenten der Rassismus verschwunden wäre. Im Gegenteil: Der Umstand, dass der Präsident eine schwarze Hautfarbe hat, mag in traditionellen Landstrichen sogar mobilisierend wirken – insbesondere, aber nicht ausschließlich, in der älteren Generation, die in Verhältnissen aufwuchs, in denen white supremacy und damit die Überzeugung, Schwarze seien minderwertig, die Norm war. Ein schwarzer Hausherr im Weißen Haus erschüttert in diesem Sinne das Weltbild vieler, gerade männlicher Konservativer zutiefst. 17

Elementarer Bestandteil des rechten Propagandafeldzugs ist deshalb auch ein mal getarnter, mal offener Rassismus. So hat Glenn Beck den schwarzen Präsidenten wiederholt einen „Rassisten“ genannt. Und er fürchte, sagt Beck, Obama sei „einem tief sitzenden Hass auf Weiße“ erlegen. Beck spekulierte gar darüber, dass die Gesundheitsreform Teil von Obamas Plan sei, stillschweigend Reparationen vom weißen Amerika einzutreiben für das historische Unrecht, das an den Schwarzen verübt wurde. Der Erzkonservative Pat Buchanan ging sogar noch einen Schritt weiter und behauptete, Weiße erlitten nun „genau dasselbe, was den Schwarzen angetan wurde.“ Wo aber, fragt man sich, existiert in den Vereinigten Staaten heute ein System der Sklaverei, in dem Weiße als Eigentum behandelt und mit Peitschen traktiert werden?

Ähnlich wie Beck und Buchanan scheinen jedoch viele Menschen an der Basis der rechten Bewegung zu denken. Für ihre Geisteshaltung gibt es eine Flut von Belegen – zuletzt etwa die aufgehängten Obama-Puppen bei den town hall meetings (eine ziemlich direkte Anspielung auf die rassistische Lynchjustiz) oder die Rufe nach „White Power“ und die Fahnen der Konföderierten (den sklavenhaltenden Südstaaten aus der Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs) auf dem „Taxpayers’ March“.

Dieser Rassismus setzte allerdings bereits während des Wahlkampfs ein. Als sich Obamas Sieg abzeichnete, wurde die Stimmung auf den Veranstaltungen der Republikaner zusehends rauer – Rufe wie „Verrat!“, „Terrorist!“ und „Kopf ab!“ erschallten, ohne dass die republikanische Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin dagegen eingeschritten wäre.

Die heftige Ablehnung Obamas wird noch durch den Umstand verstärkt, dass er nicht nur der erste schwarze Präsident ist, sondern dass er sich auch brillant artikulieren kann. Ihm unterläuft, anders als seinem weißen Amtsvorgänger, kaum ein sprachlicher Lapsus. Black and educated – diese Kombination trifft die antiintellektualistische Strömung insbesondere des ländlichen Amerika ins Mark. Nicht zufällig stimmte vor einem Jahr eine deutliche Mehrheit der weißen Männer gegen Obama.

Obama am Scheideweg

Der Umstand, dass die Vereinigten Staaten nun erstmals einen schwarzen Präsidenten haben, trägt also wesentlich zum Widerstand der Rechten bei, die sich nicht mit den sich wandelnden Realitäten einer multikulturellen Gesellschaft – und mit dem Ende der Ära unangefochtener globaler Vorherrschaft der USA – abfinden will.

Dennoch muss der rechte Widerstand für Präsident Obama und die Demokratische Partei nicht unbedingt eine Schwächung bedeuten. Schließlich handelt es sich, wie Umfragen immer wieder belegen, um eine gesellschaftliche Minderheit. Insofern wirken die Proteste langfristig keineswegs notwendig zum Vorteil der Republikaner. Im Gegenteil: Für die Partei, die den Kampf gegen Obama und den Schulterschluss mit den Rechtsaußen über die eigene programmatische Erneuerung und Öffnung zur Mitte stellt, droht diese Politik angesichts der sich rasch wandelnden Zusammensetzung der Bevölkerung, die vor Jahresfrist wesentlich zum Wahlsieg Obamas beitrug, eher zu einem demographischen Selbstmord zu werden. 18 Hinzu kommt, dass sich die Republikaner offenbar weigern, eine Regierung als legitim anzusehen, die der politische Gegner stellt. Kurz: Ihr dauerhaftes negative campaigning mag Obama zusetzen, für die Begründung einer eigenen Hegemonie aber reicht dies nicht.

Gleichwohl dürfen der Druck, der von dieser lauten Minderheit ausgeht, und die von ihr ausgehende Desinformationskampagne nicht unterschätzt werden – gerade im Hinblick auf das Großprojekt Gesundheitsreform, wo die Rechte mit den mächtigen Versicherungskonzernen in einem Boot sitzt. Fest steht, dass auch die Zukunft von Obamas Präsidentschaft wesentlich vom Ausgang dieses Streits abhängt. Scheitert die Reform, ist der neue Präsident nur ein Jahr nach Amtsantritt politisch schwer angeschlagen. Insofern ist Obama dazu verdammt, einen Weg zu finden, die bestehenden Hindernisse zu überwinden.

Erschwerend kommt allerdings hinzu, dass die unzureichende Politik gegen die Wirtschaftskrise, bei gleichzeitig wachsendem Haushaltsdefizit, den Unmut in der Bevölkerung verstärkt. Dieser könnte sich, auch unabhängig von der Gesundheitsreform, bereits im nächsten Jahr bei den Kongresswahlen zu Lasten demokratischer Kandidaten auswirken. In diesem Fall drohte Obama dasselbe Schicksal wie seinerzeit Bill Clinton, der sich für die folgenden sechs Jahre seiner Regierung einer republikanischen Mehrheit im Kongress gegenübersah.

Schließlich droht auch der Afghanistankrieg zu einer Achillesferse der demokratischen Administration zu werden – nicht nur, weil hier ein Friedensnobelpreisträger Krieg führt. Denn längst beschränkt sich die Kritik an „Obamas Krieg“ nicht mehr auf das linksliberale Lager. Ob der Präsident allerdings bereit und in der Lage ist, sich auch noch mit dem mächtigen militärisch-industriellen Komplex anzulegen, muss bezweifelt werden.

Dennoch: Sollte Obama ein Waterloo am Hindukusch vermeiden können, und sollte es ihm gelingen, bis Ende des Jahres doch noch eine Gesundheitsreform durchzubringen, die diesen Namen auch verdient, würde er gestärkt aus der ersten großen Krise seiner Administration hervorgehen. Und das wäre, bei aller gebotenen Kritik an Obamas Amtsführung, immer noch das Beste, was dem Land unter den gegebenen Bedingungen widerfahren könnte.

 

1 Zu Obamas Außenpolitik vgl. auch den Beitrag von Egon Bahr in diesem Heft.
2 Vgl. Harold Meyerson, Die Beerdigung der Reagan-Ära. Die ersten 100 Tage Barack Obamas im Weißen Haus, in: „Blätter“, 5/2009, S. 47-52.
3 Inoffiziell liegt die Quote der Arbeitslosen und Unterbeschäftigten bei 17 Prozent, und selbst diese Zahl berücksichtigt nicht die Millionen Menschen, die statistisch gar nicht mehr erfasst werden; vgl. „Washington Post“, 7.10.2009.
4 Paul Krugman, Behind the Curve, in: „New York Times“, 8.3.2009.
5 Dean Baker, Banks 1, America 0, in: „The Guardian“, 5.10.2009.
6 „Wall Street Journal“, 15.9.2009.
7 Wer keine Versicherung abschließt, soll dann eine Strafe zahlen; zugleich ist beabsichtigt, sozial Schwache finanziell zu unterstützen.
8 Frank Rich, The Rabbit Ragu Democrats, in: „New York Times“, 4.10.2009.
9 Vgl. John Nichols, Baucus Committee OKs a Health Bill, But Not Reform. Blog „The Beat“ auf www.thenation.com, 13.10.2009.
10 Vgl. auch Albert Scharenberg, Comeback der „liberal tradition“? Die USA nach Bush, in: „Blätter“, 3/2008, S. 53-61.
11 Hierunter ist auch ein erheblicher Anteil von schätzungsweise 25 Prozent, der über staatliche Programme (wie Medicaid, Medicare und die Versicherung für die Angehörigen der Streitkräfte) ver- sichert ist, was von der Opposition allerdings durchweg unterschlagen wird.
12 Bereits der Name erinnert an die anti-englischen Steuer- und Zollproteste aus der Zeit vor der Unabhängigkeitserklärung (Boston Tea Party 1773).
13 Vgl. David von Drehle, The Agitator, in: „Newsweek“, 28.9.2009, S. 30-36.
14 Richard Hofstadter, The Paranoid Style in American Politics, in: „Harper’s Magazine“, 11/1964, S. 77-86.
15 Vgl. Larry Keller, The Second Wave, in: „Intelligence Report“ (Southern Poverty Law Center), Fall 2009, S. 30-39 (hier auch ein Überblick über die wichtigsten Strömungen und Organisationen der rechts- extremen Szene); zu den militias in den 90er Jahren vgl. Mark Potok, The American Extreme Right: The 1990s and Beyond, in: Roger Eatwell und Cas Mudde (Hg.), Western Democracies and the New Extreme Right Challenge, London und New York 2004, S. 41-61.
16 Vgl. Paul Krugman, The Conscience of a Liberal. Reclaiming America from the Right, New York 2007.
17 Allerdings ist dem ersten schwarzen Präsidenten selbst jedwede offensive Thematisierung dieses Zusammenhangs zwischen politisch und rassistisch motiviertem Widerstand verwehrt. Mit Blick auf den Umstand, dass rund drei Viertel der Bevölkerung weiß sind, kann er eine solche Debatte nur verlieren. Dementsprechend distanzierte sich Obama denn auch von Carters Vermutung, rassistische Motive seien ein zentrales Motiv für die Kritik an seiner Person. Zu Obamas Position vgl. auch seine Rede aus dem Wahlkampf, dokumentiert in: „Blätter“, 5/2008, S. 112-121.
18 Vgl. Albert Scharenberg, Black President, in: „Blätter“, 12/2008, S. 65-69.
Analysen und Alternativen - Ausgabe 11/2009 - Seite 47 bis 56