Der präventive Sicherheitsstaat nimmt Gestalt an

Die Ausweitung staatlicher Machtbefugnisse

Die Idee der Prävention führt zu einer deutlichen Ausweitung staatlicher Machtbefugnisse. Staatliche Überwachung bezog sich in der Vergangenheit immer auf einen konkreten Sachverhalt. Inzwischen hat ein verändertes Verständnis von Risiko dazu geführt, dass Kontrolle unabhängiger von Anlässen erfolgt. Die Idee der Prävention ist nun Leitlinie der Sicherheitspolitik geworden. Sie führt zu einer deutlichen Ausweitung staatlicher Machtbefugnisse.


GID 191, Dezember 2008, S. 5-7

Sicherheit hat Hochkonjunktur. Ob terroristische Anschläge oder StalkerInnen, die scheinbar immer gewalttätigere Jugend oder die Mafia: Die persönliche Sicherheit scheint von allen Seiten bedroht zu werden. Die daraus entstehende Verunsicherung in der Bevölkerung wird von der Politik gerne bedient und als Legitimation für immer weitergehende Befugnisse des Staates genutzt. Dabei werden vor allem Einzelfälle spektakulärer und/oder folgenschwerer Straftaten herangezogen, um das Schließen von „Sicherheitslücken“ zu begründen und ein konsequentes Vorgehen der Sicherheitsbehörden anzumahnen.
Auf diesem Weg wird einerseits der Illusion Vorschub geleistet, dass eine absolute Sicherheit vor sämtlichen Gefahren und Risiken in einer hochkomplexen Gesellschaft möglich sei. Diese werden immer weniger als Bestandteil eines allgemeinen, selbstverständlichen Lebensrisikos angesehen, sondern als Bedrohungen, die um jeden Preis verhindert werden müssen. Andererseits wird damit ein Präventionskonzept zur hegemonialen Leitlinie staatlicher Sicherheitspolitik, das sich dem Ziel verschreibt, sämtliche Risiken frühzeitig zu erkennen, um zu verhindern, dass sie sich zu einer konkreten Gefahr verdichten oder tatsächlich zu einem Schaden führen. Prävention und Sicherheit sind dabei eng miteinander verwoben: Der Wunsch nach Sicherheit fördert Strategien der Prävention, ebenso wie die (vermeintlichen) Möglichkeiten der Prävention das Sicherheitsdenken vorantreiben.


Logik der Prävention

Die Idee der Prävention ist zum prominenten Leitgedanken für Politik und Behörden geworden. Sie ist nicht nur in der Kriminalitätsbekämpfung zu finden, sondern bestimmt staatliches Handeln in allen sicherheitsrelevanten Bereichen. Dies führt zu grundlegenden Veränderungen bei Maßnahmen und Strategien der Sicherheitsproduktion, die rechtsstaatliche Standards untergraben und sich als Herausbildung eines „präventiven Sicherheitsstaats“ beschreiben lassen. Im Zuge dessen nehmen die Bedeutung von Privatheit und individuellen Freiheitsrechten wie auch die Möglichkeiten der Begrenzung und Kontrolle staatlicher Gewalt ab.
Prävention im Sinne von Risikoerkennung und Risikoabwehr bedingt eine weitreichende Vorverlagerung staatlicher Eingriffsbefugnisse. Informationen über etwaige risikoträchtige Situationen, Orte oder Personen müssen gesammelt, zusammengeführt und ausgewertet werden, um anhand des so gewonnenen Datenmaterials bestimmen zu können, ob ein Risiko vorliegt, dieses hinnehmbar ist oder eine Reaktion erfordert. Letztere findet aber nicht erst dann statt, wenn sich die jeweilige Situation zu einer konkreten Gefahr verdichtet hat. Die Logik der Prävention will vielmehr bereits diese Verdichtung verhindern, in dem sie schon in deren Vorfeld sozialgestalterisch einwirkt, um die Konkretisierung eines ausgemachten Risikos zu verhindern.

Sichtbar wird diese Entwicklung unter anderem in der quantitativen und qualitativen Zunahme von staatlich geführten Datenbanken, in denen sach-, ereignis- und personenbezogene Daten gespeichert und zusammengeführt werden, um mit Hilfe dieses Datenmaterials neue Risikofaktoren oder Risikoträger identifizieren zu können. Stellvertretend für diese Entwicklung stehen die beim Bundeskriminalamt geführten Datenbanken über Fingerabdrücke, über Lichtbilder (jeweils mehr als drei Millionen Personen) und über DNA-Identifizierungsmuster, wo schon jetzt mehr als 590.000 Personendatensätze gespeichert sind, obwohl diese kriminalistische Methode erst seit wenigen Jahren angewandt wird. Dies liegt unter anderem auch daran, dass die Möglichkeiten der Abnahme von DNA-Proben und deren Speicherung in der letzten Zeit kontinuierlich ausgeweitet wurden und mittlerweile fast zum Standardrepertoire der Ermittlungsbehörden, wie die erkennungsdienstliche Behandlung, geworden sind.
In Folge dieser Entwicklung sind staatliche Eingriffe damit nicht mehr abhängig vom Vorliegen einer konkreten Gefahr oder dem Verdacht einer konkreten Straftat. So wird beispielsweise das Strafrecht zunehmend um so genannte abstrakte Gefährdungstatbestände erweitert, die eine Strafbarkeit nicht erst bei konkreten Schädigungen oder Verletzungen vorsehen, sondern schon für riskante Handlungen anordnen. Hauptanwendungsbereich ist das Umwelt- und Wirtschaftsstrafrecht, aber auch beispielsweise das Versammlungsrecht, wo schon das Verwenden von Schutz- und Vermummungsmitteln verboten ist.
Dies führt einerseits zu einer Entgrenzung staatlicher Macht und einer massiven Ausweitung staatlicher Eingriffe, andererseits zu einer Aufstockung des Arsenals staatlicher Sicherheitsmaßnahmen. Da es sich bei dem Risiko nur um eine statistische Wahrscheinlichkeit handelt, dass sich eine bestimmte Lage zu einem späteren Zeitpunkt zu einer Gefahr entwickeln könnte, sind potenziell alle Situationen, Orte und Personen als risikobehaftet zu klassifizieren. Denn es kann letztlich nie ausgeschlossen werden, dass ein bestimmter Faktor sich - im Zusammenwirken mit anderen Faktoren - zu einem Risiko entwickelt. Angesichts dessen müssen sämtliche Lebensbereiche in den Blick genommen und kontrolliert werden.

In diesem Zusammenhang gewinnen staatliche Handlungsformen an Bedeutung, die nicht reaktiv, sondern proaktiv ausgestaltet sind. So ist beispielsweise die Polizei heute nicht mehr nur für die Aufklärung von Straftaten und für die Abwehr von Gefahren zuständig. Hinzugekommen ist die so genannte Straftaten- und Gefahrenvorsorge, die es der Polizei gestattet, auch unabhängig von konkreten Gefahrenlagen oder einem Straftatverdacht einzugreifen, Informationen zu erheben und zu verarbeiten. Beredtes Beispiel dafür sind verdachtsunabhängige Kontrollen oder die Videoüberwachung, mittels derer Kriminalitätsschwerpunkte und andere „gefährliche Orte“ überwacht werden können, unabhängig von dem konkreten Verhalten der sich an diesem Ort aufhaltenden Personen. Auf diesem Weg entsteht an der Schnittstelle zwischen Straf- und Polizeirecht eine Form proaktiver Prävention, die sich nicht mehr an einem konkreten Individuum orientiert, sondern sich entweder an risikoträchtigen Orten, Strukturen und Lagen ausrichtet oder gleich die Bevölkerungsmitglieder in ihrer Gesamtheit als Risikofaktoren klassifiziert, wie die verdachtsunabhängige Vorratsspeicherung aller Telekommunikationsdaten eindrucksvoll unter Beweis stellt.


Ausschluss und Entrechtung

Zugleich führt das Primat der Sicherheit zu einer beschränkten Reichweite des Rechts. Rechtsstaatliche Schutzstandards und Grundrechte gelten nicht für alle und auch nicht in allen Fällen. Betroffen davon sind vor allem Mitglieder von „Risikogruppen“, bei denen sich bestimmte Risikofaktoren häufen und die daher als besonders gefährlich angesehen werden. Ihnen wird neben sozialen und ökonomischen Teilhaberechten oft auch der Rückgriff auf rechtliche Schutzinstrumente versagt. Sie werden ausgeschlossen - entweder räumlich und zeitlich konkretisiert oder für immer. Dies zeigt sich in dem Umgang mit MigrantInnen an den europäischen Außengrenzen ebenso wie in der Schaffung eines Lagersystems innerhalb der Grenzen Europas. Das gleiche gilt für das Gefängnis und die Ausweitung der Sicherungsverwahrung in Deutschland.

Besonders deutlich zeigen sich Tendenzen der Entrechtung derzeit im Bereich der Terrorismusbekämpfung. Überall auf der Welt sind Entwicklungen feststellbar, die des Terrorismus Verdächtige vom Zugang zu den Institutionen und Instrumenten des Rechtsstaates ausschließen sollen. Dazu ist es nicht erforderlich, nach Guantanamo oder auf die in den USA geschaffenen Sondermilitärgerichte zu schauen. Auch in Deutschland werden immer wieder entsprechende Diskussionen geführt: sei es der Umgang mit den CIA-rendition-Fällen (1) oder die Frage der Verwertbarkeit von unter Folter gewonnenen Beweisen. Ein weiteres Beispiel ist die Terror-Liste der EU. Das Verfahren, nach dem über die Aufnahme in und die Streichung von der Liste entschieden wird, ist streng geheim. Wer einmal auf die Liste kommt, verliert mit einem Schlag seine ökonomische Freiheit; eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Aufnahme in die Liste ist kaum möglich.


Gesellschaftliche Hintergründe und Perspektiven

Die beschriebene Entwicklung ist eng verbunden mit weit reichenden gesellschaftlichen Transformationsprozessen in den vergangenen vierzig Jahren, die zu einem grundlegenden Wandel der gesellschaftlichen Bedingungen für staatliche Sicherheitsproduktion geführt haben. So haben die ökonomischen und sozialstrukturellen Veränderungen zu einer Prekarisierung der Lebensverhältnisse von Teilen der Bevölkerung, zu einer zunehmenden sozialen Individualisierung und zur Entstehung von neuen Abgrenzungsbedürfnissen vor allem gegenüber den neuen marginalisierten Schichten geführt. Darüber hinaus propagieren Vertreter des Neoliberalismus den Vorrang marktorientierter Wirtschaftskonzepte vor individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen und Erfordernissen. Ein parallel dazu wirkender moralisch-fundamentalistischer Konservatismus dient als Begründung für Ab- und Ausgrenzungsstrategien und eine Ersetzung des „Kampfes gegen die Armut“ durch einen „Kampf gegen die Armen“; ein Prozess, der vor allem im angloamerikanischen Raum und in Mittel- und Südamerika zu beobachten ist. Schließlich führt ein veränderter Sicherheitsdiskurs dazu, dass Delinquenten immer weniger als unterstützungsbedürftige und resozialisierungsfähige Mitglieder der Gesellschaft angesehen werden, sondern als die „gefährlichen Anderen“, die von der Gesellschaftsmajorität ferngehalten werden müssen.

Die damit verbundene gesellschaftliche Verunsicherung hat demnach ihre Ursache in den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen und nicht primär in einer vermeintlich neuen Bedrohungslage. Dies bedeutet wiederum, dass eine wie auch immer geänderte objektive „Sicherheitslage“ nicht automatisch zu einem höheren subjektiven Sicherheitsempfinden führen würde. Politische Interventionen im Feld der Inneren Sicherheit müssen diese Grundlagen der gegenwärtigen Entwicklung einbeziehen und zum Ausgangspunkt für ihre Überlegungen machen, anstatt auf eine Sicherheitspolitik zu reagieren, die täglich mit neuen Projekten aufwartet. Dazu ist es einerseits erforderlich, die staatliche Sicherheitspolitik als Inszenierung zu entlarven, die nicht dazu dient, einen zusätzlichen Gewinn an Sicherheit für den/die Einzelne/n oder die Gesellschaft zu schaffen, sondern vorwiegend staatliche Handlungsfähigkeit in den Zeiten der Krise demonstrieren soll. Andererseits gilt es deutlich zu machen, dass die Sicherheit der Einzelnen heute weniger durch Straftaten, als vielmehr durch eine immer weniger kontrollierbare und begrenzte staatliche Gewalt bedroht wird.

 

Fußnote:
(1) Heimliche Verschleppung von Verdächtigen in andere Länder (zwecks Verhör und Srafverfolgung)