In tempore belli (X)

Michail Gorbatschow, einst Generalsekretär der allbeherrschenden
Kommunistischen Partei der Sowjetunion und letzter Präsident der
Sowjetunion, dann Friedensnobelpreisträger, »Freund« Kohls und Genschers
sowie Festredner in deutschen Bierzelten zu Anlässen der deutschen
Einheit, war der Erfinder des »Neuen Denkens«. Er dachte, die Welt
würde gut, wenn nur der Kommunismus verschwindet, und meinte, er
könne den Weltfrieden schaffen, indem er aufsteht von dem Schachbrett
des Kalten Krieges, auf dem zuvor jeder Zug der einen Seite einen der
anderen nach sich zog, und die Partie sei einvernehmlich zu Ende. Der
Gegenspieler, der damalige US-Präsident Bush sen. dankte höflich und
schob die Figuren so zurecht, daß behauptet werden konnte, der Westen
habe gewonnen. Seither treibt »Gorbi« um, daß zwar er als Person im
Westen immer mal wieder freundlich behandelt, aber Rußland mit Druck
und Einkreisung begegnet wird.


In diesem Sinne schrieb er im März 2008 einen Brief an seine »Freunde,
die deutschen Journalisten«. Es gibt ein ständiges Forum deutscher
und russischer Repräsentanten mit jährlich stattfindenden Diskussionsrunden,
den »Petersburger Dialog«, das von dem damaligen Bundeskanzler
Schröder und dem russischen Präsidenten Putin eingerichtet wurde.
Dieses Gremium hat einen deutschen und einen russischen Lenkungsausschuß
mit Vorsitzenden. Auf der deutschen Seite ist das seit AngelaMerkel Lothar de Maizière, der letzte Ministerpräsident der DDR. Wenn
man weiß, wie die West-CDU ihn einst ausgebootet hatte, nachdem er
seine Rolle zur Übergabe der DDR gespielt hatte, kann man sich ungefähr
vorstellen, für wie wichtig die hierzulande Herrschenden dieses Gremium
halten. Auf russischer Seite ist Gorbatschow dieser Vorsitzende.


Nun also der Brief. Darin beschwerte er sich darüber, was für ein
Rußland-Bild in den deutschen Medien vermittelt wird: »Beim aufmerksamen
Blick auf die Flut von Veröffentlichungen in Deutschland wird
man jedoch schwer den Eindruck wieder los, als ob man es mit einer gezielten
Kampagne zu tun hat, als ob alle aus einer einzigen Quelle
schöpften, die eine Handvoll Thesen enthält (in Rußland gebe es keine
Demokratie; die Meinungsfreiheit werde unterdrückt; eine arglistige
Energiepolitik werde durchgesetzt; die Machthaber drifteten immer
weiter in Richtung Diktatur ab – und so weiter und so fort). Diese Thesen
werden in verschiedenen Tonarten wiederholt. Die Zeitungsmacher
scheinen auch keinerlei Interessen jenseits dieser Aussagen zu haben.«
Und wer aus der Reihe tanzt, wird abgestraft.


Wenn man in den vergangenen Wochen verfolgt hat, wie durch die
Medien aus dem Kriegsverbrecher Saakaswili – der in einem Teil des
von ihm beanspruchten Landes, nämlich in Südossetien, des Nachts ohne
Vorwarnung die Zivilbevölkerung mit Mörsern, Raketen und anderen
schweren Waffen hat zusammenschießen lassen – das Opfer einer »russischen
Aggression« gemacht wurde, kann man Gorbatschows Aussagen
nur als Tatsachenfeststellung bestätigen. In der Tat wäre es für eine kritische
Politik- und Medienwissenschaft schon interessant zu untersuchen,
wie in einem Lande wie dem unseren ohne eine zuständige Zentrale
für »Agitation und Propaganda« und ohne eine institutionalisierte
Zensurbehörde eine solche Gleichschaltung erfolgt. Der bekanntermaßen
existierende »CIA-Medien-Komplex«, das heißt die Tatsache, daß der
US-Geheimdienst weltweit – also auch in Deutschland – Journalisten
schmiert, damit sie das schreiben, was dem Dienst und seiner Regierung
genehm ist, reicht zur Erklärung für das Ausmaß dieses Gleichklangs
nicht aus.


Dennoch bleibt Gorbi an der Oberfläche, wenn er sich nur über das
Medienphänomen äußert, ohne über die dahinter stehenden Interessen
zu reden. Er sollte sich erinnern, daß der alte Bush I ihm am 9. Februar
1990 seinen Außenminister Baker geschickt hatte, um ihm die Zustimmung
abzuhandeln, das ganze Deutschland in die NATO aufzunehmen;
als Gegenleistung werde die NATO »ihr Territorium um keinen Zentimeter
in Richtung Osten« ausdehnen. Die früheren Staaten des »Warschauer
Paktes« sind heute alle in der NATO und mit den baltischen Republiken
auch drei ehemalige Sowjetrepubliken; Georgien und die Ukrainewären die Nr. 4 und 5. Das ist eine sich verengende Einkreisung Rußlands
und dazu gehört auch die Stationierung US-amerikanischer Raketenabwehrsysteme
in Polen und Tschechien. Das US-Militär in Afghanistan
und Irak ist ebenfalls Teil dieser neuerlichen Einkreisung; zugleich
ist es Teil der »Neuordnung« des Nahen und Mittleren Ostens und der
ebenfalls bezweckten Einkreisung Chinas. Der Konflikt im Kaukasus,
die beabsichtigte Aufnahme Georgiens in die NATO stehen ebenfalls in
diesem Zusammenhang.


Insofern gilt: Je mehr Vertreter der gegenwärtigen US-Administration
und deren Wasserträger in Europa davon reden, es werde einen neuen
Kalten Krieg des Westens gegen Rußland nicht geben, desto stärker keimt
der Verdacht, daß genau daran gearbeitet wird. Da hilft auch das russische
Bekunden wenig, Rußland fürchte einen neuen kalten Krieg nicht.
Der französische Außenminister redet von »Sanktionen« gegen Rußland,
um den Druck zu erhöhen, läßt dann aber sagen, das hätte er nicht gesagt.
Es soll starke Erklärungen geben, wie gesagt, der Solidarität mit einem
aktiven Kriegsverbrecher und dessen Wiederaufrüstung. Das große
Spiel um Öl und Gas und Macht wird größer. Und damit auch die Gefahr
eines »großen« Krieges, auch wenn alle erklären, sie wollten ihn nicht.


Der Präsident Estlands, Toomas H. Ilves, ist einer der stärksten Befürworter
jener Saakaswili-Solidarität. Er sagte, bezogen auf Rußland:
»Eine strategische Partnerschaft ist möglich mit Ländern, die unsere
Werte teilen.« Ilves übrigens wurde in der Emigration geboren, studierte
in den USA und arbeitete bis zum Ende der Sowjetunion bei »Radio Free
Europe«. 1991 kam er nach Estland, wurde dessen Außenminister und
schließlich Präsident. Denkungsarten haben Gründe.


Was aber ist eine »strategische Partnerschaft«? Ein politisches und militärisches
Bündnis? Oder eine geordnete, friedliche Zusammenarbeit
zum gegenseitigen Vorteil? Das nannte man früher »Friedliche Koexistenz
«. Im Westen scheinen heute viele der Herrschenden und Regierenden
diesen Unterschied vergessen zu haben. Der Westen will eine
Welt, in der alle sind wie er selbst. Die Beziehungen zur islamischen
Welt wurden durch Kriege und Kriegsdrohungen auf den wohl tiefsten
Stand gebracht, seit Papst Urban II. im Jahre 1095 zum Kreuzzug gerufen
hatte.


Die politischen Beziehungen zu China wurden im Vorfeld der Olympiade
zielgerichtet verschlechtert, nun also die zu Rußland, und gegenüber
den linken Regierungen in Lateinamerika werden neue militärische
und geheimdienstliche Aktionen auf den Weg gebracht. Das
riecht nach weiteren Spannungen und künftigen Kriegen. Es sei denn,
es walten Vernunft und Augenmaß. Da wird dann Gorbis Naivität fast
wieder sympathisch.