Große Erzählung

Die vielseitige Fotokünstlerin Herlinde Koelbl stellt derzeit in Wien eine Auswahl ihrer "Jüdischen Porträts" aus. Fotografien und Zitate, die sich einprägen.

Grete Weil, Bruno Kreisky, Ilse Bing, George Tabori. Die großformatigen Bilder zeigen jedes Detail ihrer Gesichter und manchmal auch ein Stück der Umgebung, in der sie leben. Fast immer ist diese Umgebung eine "neue Heimat", sie alle mussten während des Nazi-Regimes ins Exil fliehen. Kaum eine/r kam zurück. "Man sieht in diesen Gesichtern wirklich die Lebensspuren", sagt Herlinde Koelbl, "ich wollte aufzeigen, dass es um den/die Einzelne/n geht. Es sind die Millionen, die ermordet wurden, aber es geht immer auch darum, dass wir diesen einzelnen Menschen ins Gesicht sehen."

Wettlauf gegen die Zeit. Das Projekt "Jüdische Porträts", bereits 1989 in Buchform erschienen und Grundlage der aktuellen Ausstellung im "Westlicht", hat Herlinde Koelbl mehrere Jahre intensiv beschäftigt. Sie hat achtzig deutschsprachige jüdische Menschen getroffen, sie fotografiert und mit ihnen gesprochen: über Heimat, jüdische Identität, Religion und Philosophie. Die Fotografin selbst wurde früher bei Auslandsaufenthalten oft mit ihrem Deutsch-Sein und dem Holocaust konfrontiert. "Das hat mich veranlasst, darüber nachzudenken und zu überlegen: Was kann ich eigentlich machen? Ich habe mich dann entschlossen, meinen Teil zu dieser Geschichte beizutragen."
Darauf folgte "eine Menge Recherchearbeit". Die langen und genauen Vorbereitungsphasen, erachtet Koelbl als essentiellen Teil all ihrer Arbeiten. "Zum Teil hat es mich sehr belastet. Mein Leben, mein Denken war in dieser Zeit komplett von diesem Thema besetzt. Es geht wahrscheinlich gar nicht anders."
Bereits während der Arbeit an den "Jüdischen Porträts" war ihr bewusst, dass das Projekt "ein Wettlauf gegen die Zeit" war. Heute sind nur noch sehr wenige der Porträtierten am Leben, die EmigrantInnen und ihr Denken in Wort und Bild sind so bereits zu historischen Dokumenten geworden.
Beeindruckt war die Künstlerin von der Bescheidenheit der porträtierten Frauen und Männer, und auch, "dass sie nicht gehasst haben, nicht verbittert waren. Und dass sie Humor hatten". Die Jugendlichkeit ihres Denkens, ihre Aktivität trotz des hohen Alters, ihr Witz: "Da hab ich zum ersten Mal gedacht, das könnten Vorbilder sein fürs Alter".

Etwas wirklich Wunderbares. In Lindau geboren, besuchte Herlinde Koelbl die Modeschule und entdeckte Mitte der 1970er Jahre die Fotografie für sich, "etwas wirklich Wunderbares, genau das, was ich schon immer machen wollte". Vier Kinder hatte sie davor großgezogen, der komplette Neustart sei für die Autodidaktin nicht ganz leicht, aber doch aufregend und motivierend gewesen. "Ich war natürlich in der Zeit oft die einzige Frau in einer Gruppe von männlichen Fotografen. Da gab es auch blöde Bemerkungen, etwa: Haben Sie überhaupt einen Film drin? Das hätten sie zu einem Mann nicht gesagt". "Natürlich" sei sie unterschätzt worden. "Aber ich hab bestimmte Bilder im Kopf, die ich machen will, und es war mir das Wichtigste, die zu kriegen." Die Bilder, die sie machte, waren auch bei Printmedien wie dem Stern, der Zeit und der New York Times begehrt.
1980 erschien ihr erstes Buch, in dem sie Einblicke in "Das deutsche Wohnzimmer" offenbarte. Grundsätzlich sind Menschen für die Künstlerin das spannendste Motiv, mit dem sie sich fotografisch, als Autorin und Filmemacherin beschäftigt. "Die essentiellen Lebensfragen sind immer mit Menschen verbunden", erklärt sie. Entsprechend zieht sich auch die nonverbale Kommunikation der Körpersprache durch ihre Werke, ebenfalls eine "große Erzählung".

Metamorphosen. Mit viel positivem Körpergefühl befasst sich die für ihre Arbeiten vielfach ausgezeichnete Herlinde Koelbl in ihrem Buch "Starke Frauen" (1996). Für die Aktfotografien, die nicht dem gesellschaftlich diktierten Schlankheitsideal entsprechen, war sie auf der Suche nach Frauen mit Selbstvertrauen. "In dem Moment, wo man sich selbst akzeptiert und angenommen hat, hat man auch eine andere Ausstrahlung", schwärmt die Fotografin von ihren Modellen. Beide Seiten hätten von der entspannten Atmosphäre während der Aufnahmen profitiert. Entscheidend sei gewesen, die individuelle Persönlichkeit der Frauen zu unterstreichen, anstatt "aus ihnen etwas anderes zu machen, das mit ihnen nichts zu tun hat" - inspirieren ließ sich Herlinde Koelbl dabei von energievollen Göttinnen-Figuren. Männer hat die Fotografin im gleichnamigen Bildband schon 1984 sehr genau betrachtet, "damals hat es ziemlich viel Aufsehen erregt, es war so ungewöhnlich, dass eine Frau das macht".
Für das Langzeitprojekt "Spuren der Macht" widmete sich die Künstlerin von 1991 bis 1998 verschiedenen AmtsträgerInnen und untersuchte - gewohnt präzise - fotografisch und mittels Interviews, welche (sichtbaren) Veränderungen diese Menschen während ihrer Karrieren erfuhren. "Angela Merkel zum Beispiel ist inzwischen sehr selbstsicher geworden und versucht auch, ihr öffentliches Bild zu steuern", beschreibt Herlinde Koelbl eine dieser vielen Metamorphosen.
Die Suche nach fiktiven und realen Frauen in der Kriminalgeschichte nahm Herlinde Koelbl in ihrem Buch- und Ausstellungsprojekt "Die Kommissarinnen" (2004) auf. Seit Ende der 1970er Jahre ermitteln immer häufiger Frauen im Hauptabendprogramm - klug, mutig, oder auch einfach nur klischeebeladen. Die Künstlerin fotografierte im Stil einer VerbrecherInnenkartei und stellt, ergänzt durch Texte, u. a. von Thea Dorn, die historische Realität den TV-Krimi-Welten gegenüber.
Letztes Jahr erschien "Haare", Herlinde Koelbls jüngste Fotoserie. Das Thema komme in allen Kulturen vor und ebenso in allen ihren Arbeiten. Welche Möglichkeiten des Ausdrucks, welche Bedeutungen und Funktionen der Behaarung an sämtlichen Stellen des menschlichen Körpers zukommen, untersucht sie nach ausgiebiger Recherchearbeit, die sie in viele verschiedene Länder geführt hatte. "Wie jemand seine Haare gestaltet, das ist wirklich das ganz Eigene, was er oder sie ausdrücken will. Das ist immer ein Statement", ist die Künstlerin sicher.
Pläne für nächste Projekte gibt es längst. Herlinde Koelbl lässt jedoch offen, worum es sich handelt, wie immer, wenn sie etwas noch "nicht abgeschlossen" hat. Weil sie der Überzeugung ist, dass man "die Dinge tun muss, nicht sie zerreden".

HERLINDE KOELBL.
Jüdische Porträts, 5.2.-23.3.
WestLicht. Schauplatz für Fotografie, 1070 Wien, Westbahnstraße 40, Infos und Tickets:
T. 01/522 66 36, www.westlicht.com oder info@westlicht.com

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin,
www.anschlaege.at