Hannah Arendt und das politische Denken im 20. Jahrhundert

Hannah Arendt ist inzwischen als eine der bedeutendsten Repräsentantinnen des politischen Denkens im 20. Jahrhundert anerkannt. Zuletzt wurde dies mit ihrer Allgegenwart in den Medien aus Anlass ihre

100. Geburtstages im Oktober 2006 offenkundig. Selbstkritisch wurde daran erinnert, dass die deutsche Linke (auch die westdeutsche Linke) Hannah Arendt weitgehend "rechts liegen ließ" - auf der anderen Seite wurde sie nach der Wende der Jahre 1989 - 1991 von nicht wenigen Linken sehr flink zur bedeutendsten politischen Theoretikerin des 20. Jahrhunderts geadelt. Auch solche Wendungen mahnen zur Vorsicht und provozieren Fragen. Sie selbst hätte solche Etikettierungen verabscheut. Zu Lebzeiten - so Gert Schäfer (1997: 128) - schien sie zwischen allen Stühlen zu sitzen - und sie sagte: "Ich bin nirgendwo. Ich bewege mich wahrhaftig nicht im Hauptstrom gegenwärtigen und irgend eines anderen politischen Denkens".1

Sie nahm sich die Freiheit, sich nicht zu binden und bezeichnete sich als einen "entschieden unabhängigen Geist". In dem berühmten Brief an Gershom Scholem in der Kontroverse über ihren Eichmann- Report schrieb sie: "Was Sie verstört, ist, dass meine Argumente und Herangehensweise sich von dem unterscheiden, was Sie gewohnt sind: mit andrenWorten: das Ärgerliche ist, dass ich unabhängig bin. Damit meine ich einerseits, dass ich zu keiner Organisation gehöre und immer nur für mich selbst rede, und andererseits, dass ich großes Vertrauen habe in Lessings Selbstdenken, für das meiner Meinung nach keine Ideologie, keine öffentliche Meinung und keine ›Überzeugung‹ ein Ersatz sein kann." (Arendt 1999: 185) 2

Es ist auch nicht ganz einfach, sie einer akademischen Fachdisziplin zuzuordnen: Philosophie, politische Philosophie oder Politikwissenschaft. Sie wollte keine "politische Philosophin" sein, sondern die Politik mit "von der Philosophie ungetrübten Augen" untersuchen (Schäfer 197: 140). Im Gespräch mit Günther Gaus sagte sie 1964: "Mein Beruf - wenn man davon überhaupt sprechen kann - ist politische Theorie" (Arendt 2005: 46). Die moderne Politikwissenschaft, die sich - zuerst in den USA - wie die Soziologie als empirisch verfahrende Sozialwissenschaft definiert, blieb ihr fremd. Sie gehört ganz zweifellos in die Reihe der großen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, deren 100. Geburtstag am Anfang des 21. Jahrhunderts zum Anlass genommen wird, noch einmal dieses "Jahrhundert der Extreme" (Hobsbawm) und seine Intellektuellen in Augenschein zu nehmen: z. B. Theodor W. Adorno (Jahrgang 1903), Jean-Paul Sartre (1905), Wolfgang Abendroth (wie Hannah Arendt, 1906) oder der KPD- und SPD-Politiker Herbert Wehner, dessen politische Wandlungen immer noch viele Fragen aufwerfen. Im gleichen Jahr wie Hannah Arendt wurde freilich auch Adolf Eichmann geboren, der Organisator der Vernichtung der europäischen Juden, den sie - als Prozessbeobachterin im Jahre 1961 - weniger als die Personifikation des "Bösen" schlechthin, sondern als einen Beamten wahrnahm, der den Terror der totalitären Systeme und insbesondere die Massenvernichtung von Menschen ohne Schuldgefühle - als Vollzugsperson einer bürokratischen Befehlsmaschinerie - exekutierte und deshalb - zumindest vor Gericht - dem "Bösen" den Anschein des Banalen verlieh.

Das Werk von Hannah Arendt gehört - beginnend mit dem Totalitarismus- Buch, das zuerst 1951 in den USA erschien und ihre weltweite Reputation begründete - der Epoche des Kalten Krieges nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges an. Wenn wir die Entwicklung der Hauptströmungen des politischen Denkens - nämlich Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus - kurz rekapitulieren 3, dann wird sich ebenfalls zeigen, dass es nicht einfach ist, Hannah Arendt einzuordnen. Der Liberalismus (als die Hauptströmung des bürgerlichen Denkens) gerät Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts in eine tiefe Krise. Er wird auf der einen Seite mit dem Aufstieg des Sozialismus und der Arbeiterbewegung konfrontiert, die während und nach dem Ersten Weltkrieg in die beiden großen - sich einander bekämpfenden - Strömungen des Kommunismus und der Sozialdemokratie zerfällt. Auf der anderen Seite verschmilzt die konservative Beschwörung des starken Staates und die Naturalisierung sozialer Ungleichheit mit dem Aufschwung imperialistischer Ideologien, die die expansive Politik des imperialistischen Machtstaates verherrlichen, eine expansive und aggressive Politik nach außen fordern und im Innern harte Maßnahmen gegen die "rote Gefahr" befürworten. Der Sozialdarwinismus, die Anfänge biologistischer Rassenlehren - einschließlich des Antisemitismus - haben auch die Funktion, der imperialistischen Politik eine Massenbasis gegen die Linke zu sichern. Die Historiker, die sich mit der Geschichte der Philosophie, der Literatur und der Kunst befassen, bezeichnen diese Epoche oftmals auch als Zeit der "Revolte" gegen Rationalismus und Positivismus. Sie erwähnen in diesem Zusammenhang nicht nur Friedrich Nietzsche, sondern auch die Philosophie von Henri Bergson und die Psychoanalyse von Sigmund Freud. Der Glaube an das bürgerliche Individuum als Träger von Aufklärung und der Glaube, dass sich gleichzeitig in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft die Vernunft als Fortschritt realisiere, ist gründlich erschüttert (vgl. dazu Deppe 1999:109 ff.).

Der "August 1914" eröffnete das "Zeitalter der Katastrophen" (Hobsbawm) - mit den beiden Weltkriegen, den Revolutionen (vor allem der Oktoberrevolution, aber auch dem Beginn der antikolonialen Revolution und des Bürgerkrieges in China), der Weltwirtschaftskrise, den faschistischen Regimes, dem vom deutschen Faschismus betriebenen Völkermord an den europäischen Juden ("Holocaust") und schließlich mit dem Regime des Stalinismus, das in den Prozess- und Verhaftungswellen der 30er Jahre seinen ersten Höhepunkt erreichte. Der französische Intellektuellenhistoriker Michel Winock (1999) hat die Intellektuellen, die diese Brüche - von der Belle Epoque zum Zeitalter der Katastrophen und schließlich zur "Zementierung" des Systemgegensatzes durch die Atomwaffen im Kalten Krieg (bei gleichzeitig extrem hoher ideologischer Aufladung) - durchlebt und reflektiert haben, als "Generation de la Crise" bezeichnet.

Hannah Arendt - Tochter aus gutem Hause, hochbegabte Philosophiestudentin (bei Heidegger und Jaspers) - war als junge Frau politisch ziemlich desinteressiert. Kurt Blumenfeld, den Präsidenten der zionistischen Vereinigung für Deutschland, lernte sie schon 1926 in Heidelberg kennen (Arendt/Blumenfeld 1995). Erst durch die Arbeit über die Lebensgeschichte der Rahel Varnhagen setzte sie sich - seit 1929 mit ihrem ersten Ehemann Günter Stern (alias Günther Anders) in Berlin lebend - mit der eigenen jüdischen Identität, der Problematik der Assimilation und mit dem Antisemitismus auseinander. Das Jahr 1933 veränderte ihr Leben radikal: nach kurzer Verhaftung durch die Gestapo floh sie nach Paris. Dort arbeitete sie bis zur erneuten Verfolgung und Flucht im Jahre 1940 für zionistische Organisationen. In Paris war sie mit Walter Benjamin befreundet und lernte ihren zweiten Mann, Heinrich Blücher, kennen. Die Ausreise in die USA (mit Blücher und ihrer Mutter) gelang im Jahre 1941. Sie lebte fortan in New York und arbeitete zunächst für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung "Der Aufbau". Bis sie 1951 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt, war sie eine Staatenlose. Nach dem Erfolg ihres Buches "The Origins of Totalitarianism" (1951) war sie eine weltberühmte Schriftstellerin, Essayistin und Wissenschaftlerin. Sie übernahm zahlreiche Gastprofessuren an den führenden Universitäten der USA. Sie bereiste Europa und auch Deutschland 4 immer wieder zu Vorträgen und wurde mit Ehrungen und Preisen geradezu überhäuft 5. In den letzten Jahren vor ihrem Tode (1975) hatte sie eine Professur an der New Yorker New School for Social Research. Ihre besten Freunde bzw. Mentoren waren vorher gestorben: Karl Jaspers 1969, ihr Mann Heinrich Blücher 1970; Martin Heidegger überlebte sie nur kurz bis zum Mai 1976.

Hannah Arendt personifizierte einen Typus der Intellektuellen, die durch ihre Schriften eine außerordentliche politischeWirksamkeit in der Öffentlichkeit entfalteten, die aber selbst nicht politisch organisiert waren. Zu allen politischen Organisationen hielt sie seit den frühen 50er Jahren Distanz. 6 Sie war eine typische Repräsentantin der New Yorker Intellektuellenszene der Nachkriegszeit, jener Kultur der Freigeister, mit dem die Amerikaner den Begriff der "Liberals" verbinden, den sie - je weiter rechts sie stehen - auch als Schimpfwort für kritische Intellektuelle benutzen. Dieses Intellektuellenmilieu um die Zeitschrift"Partisan Review" war auch durch Emigranten, Juden und Ex-Kommunisten (oftmals in einer Person) geprägt. Der Briefwechsel zwischen Arendt und der Schriftstellerin Mary McCarthy ist eine wertvolle Quelle, um dieses Milieu zu verstehen (Arendt/McCarthy 1995). Gleichwohl war Hannah Arendt - als Autorin eines Bestsellers, in dem Nationalsozialismus und Kommunismus als Varianten totalitärer Herrschaft bezeichnet waren - "Frontfrau" in den ideologischen Schlachtordnungen des Kalten Krieges. Zahlreiche ihrerArtikel erschienen in Zeitschriften, die von der CIA finanziert waren (auch ihre Besprechung des Buches von Peter Nettl über Rosa Luxemburg). Das war einer der Gründe dafür, dass die Linken im Westen, die sich der Freund-Feind-Ideologie des Kalten Krieges verweigerten und die sich - auch unter den Bedingungen erneuter Repression (McCarthyismus/KPD-Verbote in der BRD) - der Gleichsetzung von "rot" und "braun" widersetzten 7, zu Hannah Arendt kritische Distanz hielten.

Eine der ersten Veröffentlichungen von Hannah Arendt trägt den Titel "Der Jude als Paria" (1944). Damit charakterisiert sie auch die eigene Erfahrung als Flüchtling, Staatenlose und als Lagerinsassin von Gurs in Südfrankreich. Zugleich bezeichnet sie ein wesentliches Merkmal des "totalitären Zeitalters", dem sie in ihrem "Totalitarismusbuch " eines der bewegendsten - und auch heute noch aktuellen - Kapitel über das "Volk der Staatenlosen" (Arendt 1986: 426 ff.) gewidmet hat. Am Ende dieses Kapitels schreibt sie: "Es ist die alte Vogelfreiheit, welche die Staatenlosigkeit heute über die Flüchtlinge in aller Welt verhängt, nur dass die alte Voraussetzung, dass Vogelfreiheit Folge einer Handlung ist, mit der sich der Betroffene selbst und freiwillig aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen hat, nicht mehr zutrifft... Es ist, als ob eine globale, durchgängig verwebte zivilisatorische Welt Barbaren aus sich selbst heraus produzierte, indem sie in einem inneren Zersetzungsprozess ungezählte Millionen von Menschen in Lebensumstände stößt, die essentiell die gleichen sind wie die wilder Volksstämme oder außerhalb aller Zivilisation lebender Barbaren" (ebenda 470). Darin - so schreibt sie am Ende des Buches, nachdem sie auch die Konzentrationslager und die Mechanismen der "Ausrottung von Menschen" und der "Erniedrigung von Individuen" (ebenda 676) analysiert hat - manifestiert sich die "ungeheure Gefahr der totalitären Erfindungen, Menschen überflüssig zu machen ... (denn) in einem Zeitalter rapiden Bevölkerungszuwachses und ständigen Anwachsens der Bodenlosigkeit und Heimatlosigkeit (werden) überall dauernd Massen von Menschen im Sinne utilitaristischer Kategorien in der Tat ›überflüssig‹" (ebenda 702).

Das Werk von Hannah Arendt ist von dem Bemühen durchwirkt, eine Antwort auf die Frage nach den Ursachen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu geben. Als Intellektuelle möchte sie einen Beitrag dazu leisten, dass - wie es T. W. Adorno (1969: 85) 8 einmal formulierte - "Auschwitz nicht noch einmal sei". Er fügte hinzu: "Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, fortdauern". Diese beiden Fragen bewegten natürlich eine ganze Generation von Intellektuellen, die das Zeitalter der "Katastrophen" überlebt hatten. Bei Hannah Arendt begegnet uns jedoch eine Krisendiagnose des Jahrhunderts, die sich deutlich von den linken - in der Tradition des Marxismus stehenden - Analysen unterscheidet, die auf dem Zusammenhang von Kapitalismus/Imperialismus, Kriegen und Faschismus bestanden. Dieser Unterschied hat mit dem Einfluss der Existenzphilosophie, die ihr als Studentin von Heidegger in Marburg und von Jaspers in Heidelberg vermittelt wurde, auf ihr politisches Denken zu tun. Sie hat dem "Feigling" - sogar dem "Verbrecher " Heidegger (wie sie kurz nach 1945 formulierte) - bis 1975 die "Treue" gehalten - als ihrem Lehrer, dem "genialen Philosophen", und als ihrem Marburger Geliebten. 9

In der Laudatio zu seinem 80. Geburtstag im Jahre 1969 bewundert sie den Autor von "Sein und Zeit" als einen "Rebellen", dem es "um die Sache (aber auch um die ›Leidenschaft‹) des Denkens" ging und der dieses wieder "lebendig" gemacht habe. Dass er "vor 35 Jahren ... einmal für 10 Monate einer Versuchung nachgegeben" habe, wird ihm als "déformation professionelle" nachgesehen; "denn die Neigung zum Tyrannischen lässt sich theoretisch bei allen großen Denkern nachweisen (Kant ist die große Ausnahme)" (Arendt 1969: 902). 10 Andere Schüler von Heidegger - zum Beispiel Herbert Marcuse oder Günther Anders - sind nach 1945 sehr viel strenger mit dem Meister verfahren.11 Dennoch: die Bindung von Hannah Arendt an die Person und an das Werk von Heidegger war so eng, dass sie offenbar die Frage nach der Beziehung auch der HeideggerÂ’schen Philosophie zum Nationalsozialismus verdrängte.12 Diese inhaltliche Bindung an den Verfasser von "Sein und Zeit" (1926) und die Art und Weise, wie sie sich mit ihrem Politikbegriff davon löst, macht auch die Singularität ihres Denkens - die Reflexion einer Philosophin über Politik - aus.13

Heideggers Kritik der modernen Gesellschaft liest sich in "Sein und Zeit" wie folgt: "Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren als Seinweise des Man das, was wir als die ›Öffentlichkeit‹ kennen. Sie regelt zunächst alle Welt- und Daseinsauslegung und behält in allem Recht ... Die Öffentlichkeit verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte als das Bekannte und jedem Zugängliche aus" (zit. nach Schönherr-Mann 2006: 19). Mit "Man" umschreibt Heidegger das leere Gerede der Menge, dem es an jeder Besinnlichkeit und jedem Nachdenken über die wichtigen Probleme des Lebens wie Tod, Vergänglichkeit, Endlichkeit mangelt. "Die Welt des Man" ist die der modernen Gesellschaft, der Uneigentlichkeit, der Oberflächlichkeit, die Welt der "Entfremdung" (in den Worten des jungen Marx). Heideggers Beschreibung dieser uneigentlichen Lebenswelt hat - wie Rüdiger Safranski betont - einen deutlichen zeitkritischen Bezug: sie impliziert "Kritik an der Vermassung und Verstädterung, am nervösen öffentlichen Leben (d. h. in der Demokratie) 14, sowie an der mächtig aufkommenden Unterhaltungsindustrie, am hektischen Alltag, an der feuilletonistischen Beliebigkeit des geistigen Lebens" -Aspekte der modernen Lebenswelt, denen z. B. die Bauern mit dem Bezug zur Scholle, ihren Traditionen und Sozialgefügen noch nicht verfallen sind (Safranski 1994: 194). Freiheit bezieht sich ausschließlich auf die Freiheit und Leidenschaft des Denkens, der Subjektivität - nicht aber auf die Verfassung des Gemeinwesens und auf den Raum des Politischen. Für Heidegger ist entscheidend, dass "der Mensch" sich in dieser Uneigentlichkeit des Man, in dieser Alltäglichkeit zersetzt, sich selbst verliert.15

Eine solch pessimistische Zeitdiagnose, d. h. die bildungsbürgerliche Kritik an der Massenzivilisation, war - wie Jürgen Habermas betont - "Gemeingut der deutschen Mandarine der 20er Jahre ... Zu dieser Ideologie gehörte das elitäre Selbstverständnis der Akademiker, Geistesfetischismus, die Idolatrisierung der Muttersprache, die Verachtung alles Sozialen, das Fehlen einer in Frankreich und den USA längst ausgebildeten soziologischen Blickrichtung usw." (Habermas 1989: 16-17). Das "Pathos des heroischen Nihilismus verbindet Heidegger mit den konservativ-revolutionären Geistesverwandten, mit Spengler, den Brüdern Jünger, Carl Schmitt und dem Tat-Kreis" (ebenda). Kurt Lenk hat in seinen Studien zur Geschichte des deutschen Konservatismus - vor allem der sog. "jungkonservativen " Strömung in der Weimarer Republik - gezeigt, dass diese Elemente der Modernekritik letztlich durch den Antisozialismus und Antimarxismus zusammengehalten werden: Der "Untergang des Abendlandes" geht mit dem Aufstieg des Sozialismus bzw. der wachsenden Gefahr einer "roten Revolution" einher (Lenk 1989: 139 ff.).16 Rüdiger Safranski (1994: 474) bemerkt zur Ablehnung Heideggers durch Adorno (und trifft damit auch die Denkstrukturen der Schülerin Arendt): "Es gab (neben der politischen Ablehnung, F. D.) auch eine Ranküne gegenüber einem Philosophen, der ›philosophia perennis‹ so betrieb, als hätte es Soziologie und Psychoanalyse, diese großen Widersacher des philosophischen Geistes, nicht gegeben. Diese Ignoranz musste Adorno empören ... Dass sich Heidegger um diesen ›wissenschaftlichen‹ Modernitätsstandard gar nicht kümmerte, ihn sogar verachtete, das denunzierte Adorno an Heidegger als ›Provinzialismus‹".

Für die kritische Zeitdiagnose von Hannah Arendt hat der Massendiskurs, der immer auch Elitendiskurs ist, eine zentrale Bedeutung. 17 Dieser wird durch Gustave Le Bons "Psychologie der Massen " (1895) eingeleitet; Sigmund Freuds "Massenpsychologie und Ich-Analyse" (1921) und Ortega y Gassets "Aufstand der Massen" (1930) haben ihn fortgeführt und ausdifferenziert. In der Literatur des 20. Jahrhunderts ist der Massendiskurs als kulturpessimistische Grundströmung prägend geworden. Allerdings begegnet er uns auch auf der Linken: z. B. in der Massenstreikdebatte oder bei den zahlreichen Hinweisen auf die progressive Rolle der "Volksmassen" in der Geschichte. Der konservative Massendiskurs reagiert defensiv auf das Eindringen der Massen in die Politik - von der Französischen Revolution 1789 bis zu den Kämpfen der Arbeiterbewegung um das allgemeine Wahlrecht und die Massenstreiks am Anfang des 20. Jahrhunderts in zahlreichen Ländern (nicht nur in der russischen Revolution des Jahres 1905). Insofern spielt das Verhältnis von Masse und Führung (Avantgarde) auch auf der Linken (vor allem bei Lenins Parteikonzeption) eine bedeutende Rolle. Die Massenpsychologie nimmt schon das Thema der Manipulation der Massen durch die massenmediale Inszenierung der Politik vorweg, die z. B. Adolf Hitler in "Mein Kampf" - mit Bezug auf Le Bon - konzipiert.18 Es wäre schon sinnvoll, diesen Diskurs etwas genauer aufzuarbeiten; denn die Elitenorientierung setzt sich im herrschenden Bewusstsein unserer Zeit immer mehr durch, während gleichzeitig die Massenmedien, die Popkulturen, der Massentourismus, Sport, Verkehr, Konsum, Megastädte mit 20 Millionen Einwohnern und mehr Realität geworden sind.

Für die Linke wird die Gesellschaft - die Trennung "politischer" und "ziviler" Gesellschaft bei Gramsci reflektiert diese Herausforderung - zum Terrain des Kampfes um Partizipation und Bildung sowie um die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der "Massen". Das sind - genauer bestimmt - die Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeiter, die in den modernen Großstädten leben. Die damit einhergehende Vergesellschaftung des Politischen, damit auch die Neubestimmung des politischen Raumes, wird von den Konservativen als Zerfallsprozess diagnostiziert: Technik, Vermassung, Bürokratie sind die Stichworte dieser Diskurse von rechts. Carl Schmitt z. B. verwendete den Begriff des "totalen Staates" vor 1933 in diesem Sinne: dieser bezeichnet die "Politisierung des gesamten menschlichen Daseins". "Ein pluralistischer Parteienstaat wird nicht aus Stärke und Kraft, sondern aus Schwäche ›total‹; er interveniert in alle Lebensgebiete, weil er die Ansprüche aller Interessenten erfüllen muss. Insbesondere muss er sich auf das Gebet der bisher staatsfreien Wirtschaft begeben..." (Schmitt 1985: 340 u. 342). Für die Linke jedoch wird die Demokratie bis in die Gegenwart durch zwei Kriterien bestimmt: 1. die politische Partizipation der Massen über Formen und Institutionen der Selbstorganisation der Gesellschaft, und 2. in der Verbindung von formaler Demokratie (Rechtsstaatlichkeit plus allgemeines Wahlrecht) und sozialer Demokratie (d. h. sozialer Grundrechte der Bürger gegenüber dem Staat).19 Mit anderen Worten: Freiheit, die mit der politischen Demokratie und den Grundrechten verbunden ist, und die Lösung der "sozialen Frage" gehören zusammen.20

Für HannahArendt bedeutete Freiheit, dass den Bürgern das Recht auf aktive Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten garantiert ist. Sie teilt jedoch das konservative Misstrauen gegen die Politisierung des Sozialen. "Von der Sphäre des Sozialen erwartete Arendt wenig", bemerkt ihre Biographin Young-Bruehl (1991: 359). Insofern artikuliert ihr Begriff des "Handelns" als Praxis, den sie in der "Vita Activa" entwickelt, die historischen Erfahrungen und die normativen Perspektiven dessen, "was wir heute partizipative Demokratie" nennen (Habermas 1984: 404). Genau hier erkennt sie die Rolle der sozialistischen Arbeiterbewegung und ihrer Programmatik einer radikalen Demokratie (z. B. in der Form der Räte). Gleichzeitig trennt sie dieses politische Programm von den "wirtschaftlichen und sozialen Forderungen" der Arbeiterbewegung (Arendt 1981: 210/211); denn - so ihre Überzeugung - die Fixierung auf ein wirtschaftliches und soziales Programm der Gleichheit zerstört die Freiheit, öffnet den Weg zum Totalitarismus.21

Am Schluss ihres Buches über "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" findet sich eine Passage, die deutlich macht, wie sehr ihre Zeitdiagnose einerseits dem Denken von Heidegger, andererseits dem modernen Massendiskurs verpflichtet ist. "Was moderne Menschen so leicht in die totalitären Bewegungen jagt und sie so gut vorbereitet für die totalitäre Herrschaft, ist die allenthalben zunehmende Verlassenheit. Es ist, als breche alles, was Menschen miteinander verbindet, in der Krise zusammen, so dass jeder von jedem verlassen und auf nichts mehr Verlass ist. Das eiserne Band des Terrors, mit dem der totalitäre Herrschaftsapparat die von ihm organisierten Massen in eine entfesselte Bewegung reißt, erscheint so als ein letzter Halt und die ›eiskalte‹ Logik, mit der totalitäre Gewalthaber ihre Anhänger auf das Ärgste vorbereiten, als das einzige, worauf wenigstens noch Verlass ist" (Arendt 1986: 729). Im Zentrum ihrer Überlegungen stand nicht der Versuch einer kausalen (historischen) Ableitung des deutschen Faschismus und des Stalinismus, sondern die These von der "existentiellen Verlassenheit des modernen Massenmenschen, die zuWeltverlust und zum Zusammenbruch des politischen Raumes" führte (Heuer 1987: 84). "Das Hauptmerkmal der Individuen in einer Massengesellschaft ist nicht die Brutalität oder Dummheit oder Unbildung, sondern Kontaktlosigkeit und Entwurzeltsein" (Arendt 1986: 513). "Wir leben heute in allen Teilen der Welt unter den Bedingungen einer fortschreitenden Vermassung aller gesellschaftlichen Strukturen, denen die traditionellen, politischen und gesellschaftlichen Formationen besseren oder schlechteren Widerstand leisten" (ebenda 505).

Die Ursprünge ("Origins") der totalen Herrschaft, deren wesentliche Elemente schließlich Ideologie und Terror sind, gehen auf das 19. Jahrhundert zurück: Für Arendt bilden die Auflösung des Nationalstaates und die Transformation der Klassen- zur Massengesellschaft gleichsam die Rahmenbedingungen für das Aufkommen des Antisemitismus, des Imperialismus und des Rassismus. Die Historiker verschiedener Schulen werden sich immer wieder über die Plausibilität dieser Konstruktionen zu streiten haben 22; denn im 20. Jahrhundert (vor allem in den beiden Weltkriegen, aber auch in den antikolonialen Bewegungen) kommt der Machtpolitik der Nationalstaaten zweifellos eine höhere Bedeutung zu als im 19. Jahrhundert. Auch wäre danach zu fragen, ob die Spezifik des deutschen Faschismus oder gar des russischen Stalinismus aus diesen "Ursprüngen" tatsächlich angemessen zu erfassen ist - zumal es bei Hannah Arendt nicht den Versuch gibt, den Zusammenhang von politischen Strategien und Kräfteverhältnissen zwischen den Klassen, der Rolle des Staates und den totalitären Diktaturen im Europa des 20. Jahrhunderts zu erhellen.23 Ihre Totalitarismus-Theorie war zwar politisch im Kalten Krieg höchst wirksam; sie hatte jedoch als "Theorie" zur Erklärung des Faschismus und des Stalinismus keinen Bestand; denn "sie hat ihre Totalitarismustheorie den historischen Ereignissen übergestülpt" (Augstein 2006). Gleichwohl enthält ihre Analyse bis heute gültige, großartige Teilanalysen über die Rolle der Juden und des Antisemitismus im 19. Jahrhundert sowie über den Zusammenhang von "Rasse und Bürokratie", auf den sie im Abschnitt über den "Imperialismus" am Beispiel der Politik des britischen Imperialismus in Afrika eingeht.24

Aus den Strukturen des konservativen Krisendiskurses der 20er Jahre löst sich Arendt freilich schon mit der Wahl des Themas. Ihr Werk ist - wie eingangs betont wurde - dem Kampf gegen den Totalitarismus und für die Freiheit gewidmet. Ihre "Haltung zur Welt" war - so sagte sie einmal mit dem Hinweis auf Goethe - "weder positiv noch negativ, sondern radikal kritisch" (Young-Bruehl 1991: 265). Die Kritik an den Widersprüchen der Moderne bzw. der Neuzeit, die in den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts gleichsam kulminieren und explodieren, ist in diesem Sinne radikal. Sie ist auch nicht allzu weit entfernt von jenem "stählernen Gehäuse der Hörigkeit", das Max Weber als Konsequenz der Rationalisierungsprozesse der Moderne prognostizierte, oder von der Diagnose der "verwalteten Welt", die Horkheimer und Adorno in der "Dialektik der Aufklärung", später Herbert Marcuse im "Eindimensionalen Menschen" nicht als Aufhebung der Widersprüche des Kapitalismus, sondern als deren Befestigung und "Schließung" kritisierten.

Das letzte Kapitel der "Vita Activa" beschwört den Sieg des "Animal laborans"; denn "in ihrem letzten Stadium verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft von Jobholdern" - und diese verlangt "ein automatisches Funktionieren" (Arendt 1981: 314). Die Moderne zeichnet sich durch Säkularisierung aus (Nietzsche: Gott ist tot!) - aber, "dieWeltlosigkeit, die mit der Neuzeit einsetzt, ist in der Tat beispiellos" (ebenda 312). Das Endstadium der Gesellschaft kennt nur eine "vergesellschaftete Menschheit" (ebenda 313) - für Hannah Arendt die negative Utopie schlechthin. Und doch sieht sie darin die dominante Entwicklungstendenz der modernen Gesellschaft, die mit der Technik, der Industrialisierung, der Vermassung und der Bürokratisierung etc. verbunden ist.An diesem Punkt gibt es anscheinend kein Hoffen mehr und das Grauen von Auschwitz (allgemeiner: "der Lager" und des Völkermordes) ist nicht mehr zu verdrängen. Die "negative Utopie" ist also nicht nur mit den totalitären Systemen verbunden. Sie bedroht auch die formal demokratischen Systeme entwickelter industriekapitalistischer Gesellschaften. Deshalb hat Hannah Arendt aufAnsätze der Zerstörung einer demokratischen politischen Kultur in den USA äußerst sensibel und - als Emigrantin - auch furchtsam reagiert: auf den McCarthyismus Anfang der 50er Jahre, auf den Vietnam-Krieg und die Watergate-Affaire Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre. 25 Die politische Krise des 20. Jahrhunderts ist doppelt bestimmt: durch die Politik der Vernichtung sowie durch die Vernichtung des Politischen (Breier 1992: 23).

Gegen diese durch und durch pessimistische Entwicklungsperspektive der modernen Gesellschaft und der modernen Politik setzt Hannah Arendt ihren streng normativen Politikbegriff, der ihr den Ruf einbrachte, "des Aristoteles verzweifelte Tochter" zu sein (Fritz- Vanahme 1993). Philosophische Reflexion der Politik wird so verstanden als ein Lichtstrahl, der in die Dunkelheit der herrschenden Entwicklungstendenzen hineinleuchten soll: "aus der Finsternis der Kreatur in die Helle des Menschlichen zu gelangen" - so formuliert sie es am Ende des Buches "Über die Revolution" (Arendt 1963: 362). Der "Sinn von Politik", so behauptet sie entschieden, "ist Freiheit"! Aber sie weiß sehr genau: "seit der Antike war niemand mehr der Ansicht, dass der Sinn von Politik die Freiheit ist; (denn) ... in der Neuzeit (galt), theoretisch wie praktisch, das Politische als ein Mittel, die Lebensversorgung der Gesellschaft und die Produktivität der freien gesellschaftlichen Entwicklung zu schützen" (Arendt 1993: 28 u. 30). Hier begegnet uns erneut das Spannungsverhältnis von Gesellschaft und Politik, das ihre philosophisch-politischen Analysen durchwirkt. Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Un-Politik, der Zerstörung von Politik durch Gewalt. Es ist das Jahrhundert der Kriege und Revolutionen, die - das ist ihr gemeinsames Merkmal - "im Zeichen der Gewalt stehen" - besonders die totalitären Diktaturen, deren Instrument der Terror nach innen und der Krieg nach außen ist (ebenda 123/124). In dem Essay "Macht und Gewalt" aus dem Jahre 1970 - jetzt vor dem Hintergrund des Vietnam- Krieges und der Studentenrevolten in der Welt - stellt sie fest, dass Macht und Politik zusammengehören; denn Macht "gehört zum Wesen aller staatlichen Gemeinwesen". Sie bedarf nur der Legitimität. Die Gewalt dagegen kann niemals legitim sein. Terror ist ein Element der Gewaltherrschaft ebenso wie Hochrüstung und Militarisierung, die in der Atombombe ihre Vollendung findet. Diese desavouiert - als Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft - zugleich gründlich den Begriff des Fortschritts (Arendt 1970: 82).26

Voraussetzung der politischen Freiheit ist für Hannah Arendt die Freiheit des Denkens. Daraus resultiert u. a. ihre Ablehnung aller "Systemtheorien", die das Subjekt und seine Freiheit auslöschen; damit bezog sie sich vor allem auf die Philosophie Hegels sowie auf die "Wissenssoziologie" - einschließlich des Historischen Materialismus und des Satzes von Marx, dass "es nicht das Bewußtsein der Menschen (ist), das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt" (MEW 13: 9). Politische Freiheit bedeutet den freien Zugang zu Informationen. Meinungsbildung erfolgt in einem Prozess, in dem eine Vielzahl unterschiedlicher Meinungen (der Begriff des Interesses, der seinerseits aus den Bedingungen der gesellschaftlichen Reproduktion abgeleitet ist, spielt für sie in diesem Zusammenhang keine Rolle) in öffentlicher Debatte mit der Perspektive von Entscheidungen über politisches Handeln ausgetragen werden. Grundbedingung einer Verfassung der Freiheit ist nicht nur "eine in ihrer Macht beschränkte Regierung", also der Rechtsstaat, sondern "das Recht (der Bürger) auf aktive Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten" (Arendt 1963: 281). Das "eigentlicheWesen des politischen Lebens (bildet) die Debatte" (zit. nach Schäfer 1997: 146).

Der normativ-idealistische - und nicht empirisch-analytische oder gar materialistische - Zugang zum Begriff des Politischen führt Hannah Arendt zurück zu einer Verklärung der griechischen Polis. "Für die Griechen war die Vita Activa vor allem das politische Leben, das Leben des Handelns. Arbeit und Herstellen waren die an die Notwendigkeit geknüpften Tätigkeiten, die dazu dienten, die materiellen Bedürfnisse des Menschen zu befriedigen, wohingegen das Handeln oder die Praxis die Polis errichtete und erhielt" (Young-Brühl 1991: 442). Im Gegensatz zum "Haushalt" (dem "oikos") war "der Raum der Polis das Reich der Freiheit", d. h. für die griechischen Philosophen war "der Sitz der Freiheit ausschließlich im politischen Bereich lokalisiert" (Arendt 1981: 33). Dieses Idealbild der Polis hält natürlich einer kritisch-historischen Überprüfung kaum stand (vgl. u. a. Canfora 2006: 34 ff.). Sie überträgt es auch (partiell) auf die amerikanische Revolution (nach 1776), die ihr deshalb als die "bessere" Revolution - im Vergleich zu 1789 in Paris - erscheint, weil diese sich ernsthaft mit der Volkssouveränität, der Gewaltenteilung, dem Föderalismus und schließlich mit der Bedeutung des öffentlichen Raumes für Debatten und Meinungsbildung auseinandergesetzt habe. Der Versuch der Französischen Revolution nach 1793 hingegen, die Menschenrechte - vor allem das Programm der Gleichheit jenseits der gleichen Bürgerrechte - mit Gewalt durchzusetzen, habe schließlich den "Geist der Freiheit" erstickt (Arendt 1963: 183 ff.).

Hannah Arendt ist sich wohl bewusst, dass ihr Traum von der idealen Polis als "freie Assoziation" freier Individuen den Begriff der Volkssouveränität keineswegs in der Perspektive einer Polis der Gleichen bestimmen kann. Schon der Massendiskurs impliziert - auch unausgesprochen - den Elitenbegriff; und Arendts Kritik der Massengesellschaft impliziert stets die Auseinandersetzung nicht nur mit der (sozialistischen) Ideologie der Gleichheit, sondern auch mit den Nivellierungstendenzen moderner Vergesellschaftung. 27 So kommt sie zu dem Ergebnis (was natürlich im Fall der antiken Polis und ihrer Sklavenhaltergesellschaft auch den Tatsachen entspricht), dass die Sache der Freiheit, der "Geschmack an öffentlicher Freiheit " (1963: 355), die Teilhabe an den öffentlichen Debatten von einer Elite betrieben wird. "Sie fragt sogleich: ›Wer wählt diese Elite aus? Wer sagt, wer zu ihr gehört‹" - und sie weiß natürlich um das "Peinliche an dem Begriff", das mit den oligarchischen Herrschaftsformen verbunden ist (ebenda 355). Gleichwohl wäre die Freiheit am besten bewahrt in einer "aristokratischen Staatsform", über die sie am Ende des Buches über die "Revolution" schreibt: "Öffentliche Freiheit, öffentliches Glück und die Verantwortlichkeit für öffentlicheAngelegenheiten würden dann denWenigen zufallen, die in allen Gesellschafts- und Berufsschichten daran Geschmack haben" (1999: 161 ff.). "Sie sind ohnehin die politische Elite eines Landes, und kein Staat kann behaupten, seineAufgabe zu erfüllen ..., der sich nicht ihrer bedient und ihr nicht den gehörigen öffentlichen Raum zur Verfügung stellt." (ebenda 359). Dass Hannah Arendt diese Überlegungen in ihrem Buch "Über die Revolution" entwickelt, gibt dieser Elitentheorie freilich eine ganz andere Wendung: der Revolution - und vor allem dem Rätesystem in den neuzeitlichen, europäischen Revolutionen - fällt die Aufgabe zu, diese Elite auszuwählen.28

Es ist also dieses entschlossene Festhalten an einer normativ-idealen Bestimmung des Politikbegriffes, das Hannah Arendt - und das scheint eine überraschende Wende in ihrem Denken zu sein - dazu bringt, von der Revolution als einer "Hoffnung" zu sprechen, obwohl sie doch in ihrer Arbeit "Über die Revolution" (1963) die Geschichte der neuzeitlichen Revolutionen eher in einer negativen Perspektive (das bezieht sich dann vor allem auf die proletarischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts) sieht. Die "ungarische Revolution " von 1956 hatte für das Festhalten an diesem "Hoffnungsschimmer " eine große Bedeutung - man kann wohl davon ausgehen, dass sie die Bewegungen, die schließlich mehr als 30 Jahre später in Mittel- und Osteuropa zum Zusammenbruch der staatssozialistischen Systeme geführt haben, ebenfalls in einer solch optimistischen Perspektive begrüßt hätte. Die antikolonialen Revolutionen der 50er und 60er Jahre oder die kubanische Revolution nach 1957/58 werden von Hannah Arendt freilich nicht erwähnt. Die Massengesellschaft und die totalitären Regime werden - so die Hoffnung von Arendt - immer wieder durch Revolutionen herausgefordert, die dem Geist der Freiheit - oftmals nur für einen kurzen Augenblick - Realität verleihen. Sie vermitteln die "Erfahrung des In-Freiheit-Handelns" (1963: 40). Dabei entdeckt Hannah Arendt die Bedeutung der Räte, die - seit der englischen Revolution von 1648 ff. - mit unterschiedlichen Bezeichnungen ins Leben gerufen wurden, als Organe der Selbstverwaltung "an der Basis", in der Kommune, im Betrieb, in der Armee und in den staatlichen Einrichtungen. Diese Organe der Revolution bilden den Raum der Freiheit; sie "sind ihrem Wesen nach anti-parteilich, d. h. sie richten sich nicht gegen eine Volksvertretung, die durch Klasseninteressen auf der einen Seite, durch Ideologien oderWeltanschauungen auf der anderen bestimmt ist." (zit. n. Heuer 1987: 106)

Die Räte - so sagt sie um 1970 in einem Interview - "wollen mitbestimmen ... In dieser Richtung (eines Rätestaates) sehe ich die Möglichkeit zur Bildung eines neuen Staatsbegriffs". Dabei wiederholt sie ihre These, dass "auf diese Weise ein Selbstausleseprozess möglich ist, um eine wirkliche politische Elite heranzuziehen..., die an den öffentlichen Angelegenheiten interessiert ist" (Arendt 1970: 133). Auch auf diesem Felde führt ein gründliches Studium der Rolle der Räte (bzw. räteähnlicher Organisationen) in den neuzeitlichen Revolutionen nicht unbedingt zur Bestätigung der Thesen von Hannah Arendt - erinnert sei nur an die widersprüchliche Rolle der Arbeiter- und Soldatenräte in der deutschen Novemberrevolution. Der soziale Kern der neuzeitlichen Revolutionen wird von Arendt nicht hinreichend gewürdigt. 29 Richtig ist jedoch, dass alle revolutionären Prozesse einer radikalen Demokratisierung auf der einen und einer Umwälzung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse auf der anderen Seite diesen Widerspruch zwischen Basisorganisationen der Selbstverwaltung (die zugleich den Rahmen für eine öffentliche Debatte über Ziele und Wege der Revolution bildeten) und einer Zentralisierung der staatlichen Macht (die schließlich durch eine Staatspartei ausgeübt wurde) mehr oder weniger intensiv und dramatisch ausgetragen haben. Das Werk von Hannah Arendt klärt allerdings die komplexen Probleme dieses Widerspruchs nicht; denn ihre Konzeption einer "halbierten Revolution", die nur für die Freiheit, nicht aber für die soziale Gerechtigkeit wirkt, wird der Problematik der neuzeitlichen Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts nicht gerecht.

Daher scheint mir auch die These, dass sie eine "Revolutionärin" - beeinflusst "durch das Denken Rosa Luxemburgs" (Storlokken 2006) - gewesen sei, nicht unbedingt überzeugend. Oft wird in diesem Zusammenhang auf ihren Ehemann Heinrich Blücher verwiesen, der schließlich Prolet, Teilnehmer der Novemberrevolution ("Spartakist") und "KPOler" gewesen sei. Blücher hatte sich allerdings zu dem Zeitpunkt, als er Hannah Arendt in Paris kennen lernte, theoretisch und politisch vom Marxismus/Kommunismus völlig gelöst, was der Briefwechsel mit Hannah Arendt (1996) und einige Vorlesungsmanuskripte von Blücher am New York Bard College bestätigen. Gegenüber dem MarxschenWerk wie der Theoriegeschichte des Marxismus, allgemeiner: gegenüber dem neuzeitlichen sozialwissenschaftlichen Denken und einer kritisch-materialistischen Politikanalyse gibt es bei Hannah Arendt eine gleichsam strukturelle Blockade, die mit ihrem Verständnis von Philosophie und der Freiheit des Denkens zusammenhängt. Die Analyse der Gründe würde erneut zu Heidegger und zu "Sein und Zeit" führen.

Arendt arbeitete nach dem "Totalitarismus-Buch" (also zwischen 1952 und 1956) an einem Buch über Marxismus (Young-Bruehl 1991: 384 ff). Einige Ergebnisse dieser Arbeiten sind in "Vita Activa ", "Über die Revolution" und in die Essaysammlung "Between Past and Future" eingeflossen. Allerdings zeigt die Auseinandersetzung mit dem MarxschenArbeitsbegriff und seiner Geschichtsphilosophie in "Vita Activa", dass sie dessen Analyse des Systems der kapitalistischen Warenproduktion und der Lohnarbeit nicht zur Kenntnis genommen bzw. verstanden hat. 30 Der Rückgriff auf die Aristotelische Dreiteilung von Arbeiten, Herstellen und Praxis (als der von der Arbeit befreiten Tätigkeit) vermag eine Analyse der entwickelten kapitalistischen Arbeitsgesellschaft und ihrerWidersprüche nicht zu ersetzen. Hier macht sich wiederum jene Denkblockade gegenüber dem Begriff von Gesellschaft bzw. von Gesellschaftsformation geltend, die sie analytisch und begrifflich niemals überwunden hat. Eigentlich hätte sich Hannah Arendt über den berühmten Satz von Marx aus dem Dritten Band des "Kapital" freuen müssen: "Das Reich der Freiheit beginn in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion ... Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden ... Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann. Die Verkürzung des Arbeitstages ist die Grundbedingung" (MEW 25: 828). Arendt (1981: 95) kennt das Zitat, behauptet aber, es charakterisiere bei Marx den unaufgelösten Widerspruch, dass dieser die Arbeit als "ewige Naturnotwendigkeit" gefasst, der proletarischen Revolution jedoch die Aufgabe zugeschrieben habe, die Menschen von der Arbeit zu befreien. Diese Interpretation ist schlicht falsch!

Nun gibt es im Nachlass einen Brief, in dem sie der "roten Ideologie " bescheinigt, einen "höchst anständigen Stammbaum" zu haben, "während die braune mehr oder weniger aus der Gosse kam" (Heuer 1987: 48/49). Dazu konzedierte sie der frühen sozialistischen Arbeiterbewegung, dass sie sich - mit dem Rätegedanken - um eine neue Form öffentlicher Politik bemüht habe. In "Vita Activa" (1981: 210/11) bescheinigt sie der "europäischen Arbeiterklasse", dass diese in den Revolutionen von 1848 bis 1956 (Ungarn) "eines der glorreichsten und vielleicht das einzige Kapitel geschrieben" habe, "das zu einer Hoffnung auf eine erwachende Produktivität der abendländischen Völker berechtigt". Dazu gehört auch der Vorschlag, "das bestehende und im Volke hoffnungslos diskreditierte europäische Parteiensystem durch ein Rätesystem zu ersetzen". Zugleich wiederholt sie ihre These, dass "das Revolutionäre der Arbeiterbewegung ... nicht in der Radikalität wirtschaftlicher und sozialer Forderungen (besteht), sondern einzig darin zum Vorschein (kommt), wo sie mit dem Anspruch auf eine neue Staatsform auftritt. In diesem Zusammenhang wird auch ihre Sympathie für Rosa Luxemburg verständlich (Arendt 2006). An dieser bewundert sie gerade ihre "Un- Orthodoxie" - sowohl in der "Akkumulation des Kapitals", also in ihrer Imperialismusanalyse, in der sie die Marxsche These von der "ursprünglichen Akkumulation" als der Frühgeschichte des Kapitalismus zurückwies. 31 Selbstverständlich hebt sie auch Luxemburgs Kritik an Lenins Parteitheorie sowie ihre kritischen Bemerkungen zur Unterdrückung der Freiheit in der russischen Revolution hervor, die sie im Gefängnis 1917 niedergeschrieben hat. Außerdem fasziniert Arendt das Milieu jüdischer Familien in Polen, dem Rosa Luxemburg entstammt - und sie erwähnt ausdrücklich die Liebesbeziehung zwischen Rosa und Leo Jogiches. Schließlich erwähnt sie auch die Außenseiterposition von Rosa Luxemburg in der kommunistischen Bewegung. Es war Ruth Fischer (als Vorsitzende der KPD im Jahre 1924), die den "Luxemburgismus" als die "Syphilis in der Arbeiterbewegung" bezeichnete (Abendroth 1976: 72).Wirklich gründlich hat sich dieWissenschaftlerin HannahArendt jedoch nicht mit dem Werk von Rosa Luxemburg auseinandergesetzt. 32 Bei dem Text, auf den wir uns beziehen, handelt es sich um die Rezension der großartigen Luxemburg-Biographie von Peter Nettl aus dem Jahre 1961. Aus der "Akkumulation des Kapitals" wird im Imperialismus- Abschnitt des Totalitarismus-Buches in der Fußnote zwei Mal zitiert. 33 In "Über die Revolution" nimmt sie keineswegs die Gelegenheit wahr, ausführlicher auf Luxemburg einzugehen.

Der Versuch, Rosa Luxemburg als "unmarxistische" Vertreterin des revolutionären Sozialismus interessant werden zu lassen, ist wenig überzeugend - er kann nur auf Kosten des Ausblendens ihrer Positionen in der Revisionismus- und in der Massenstreikdebatte sowie ihrer Positionen und Aktivitäten im Ersten Weltkrieg und in der Novemberrevolution konstruiert werden. Selbst das Manuskript über die "Russische Revolution" wird vollständig missverstanden, wenn es auf den Satz über die "Freiheit des Andersdenkenden" sowie auf die Kritik an der Nationalitätenpolitik der Bolschewiki reduziert wird, ohne das "unsterbliche Verdienst" zu erwähnen, das sie den Bolschewiki um Lenin und Trotzki zuschrieb, "mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben" (Luxemburg 1968: 141).34

Hannah Arendt hat auch in den 50er und 60er Jahren - also in den Hoch-Zeiten des Kalten Krieges - nicht zur Kenntnis genommen, dass es im Westen - auch vor der Marxismus-Renaissance der 70er Jahre, die die 68er Studierendenbewegung auslöste - eine eigenständige und ausdifferenzierte marxistische Theorietradition gab, die den "anständigen Stammbaum" der "roten Ideologie" fortführte. PerryAnderson hat diese Strömung in seinem Buch "Über den westlichen Marxismus" zwischen Sozialdemokratie und Staatssozialismus positioniert. Er ordnet ihr Autoren wie Lukacs, Korsch, Gramsci, Benjamin, Horkheimer, Marcuse, Adorno, Sartre, Althusser, Poulantzas usw. zu (vgl. Anderson 1978: 46). Dazu gab es z. B. hervorragende Historiker (wie z. B. Isaac Deutscher, Eric Hobsbawm, Albert Soboul, Ernesto Ragionieri), die sich als Marxisten bezeichneten und von denen einige den kommunistischen Parteien ihrer Länder angehörten. Zu diesen Wissenschaftlern sowie zu anderen zeitgenössischen Vertretern dieser Strömung, zu der in New York Marxisten um Paul M. Sweezy und Paul Baran gehörten, die die Zeitschrift "Monthly Review", herausgaben, zu den Vordenkern der "Neuen Linken" in den 60er Jahren, aber auch zu den intellektuellen und kulturellen Milieus der großen kommunistischen Parteien in Italien und Frankreich hatte sie keine Beziehung. Von einer Frankreich-Reise Anfang der 50er Jahre schrieb sie, "Camus ist zweifellos der beste Mann, den es augenblicklich in Frankreich gibt". Sartre und Merleau-Ponty dagegen werden scharf kritisiert - wegen ihrer linken, politischen Optionen und Aktivitäten in diesen Jahren (Young- Bruehl 1991: 388/389). 35

Hannah Arendt - so sei zum Schluss festgehalten - ist auch dann, wenn der Pulverdampf der ideologischen Scharmützel des Kalten Krieges verflogen ist, nicht als politische Theoretikerin in die Traditionslinie der europäischen - antikapitalistischen - Linken des 20. Jahrhunderts einzuordnen. Sie stand in den ideologischen Schlachten des Kalten Krieges - ob sie das wollte oder nicht - durch denWelterfolg ihres Totalitarismus-Buches in der vordersten Frontlinie, obwohl sie wenig Sympathie für die Instrumentalisierung ihrer Thesen für primitive Agitation hatte. Dennoch haben Generationen von Studierenden der Politikwissenschaft, von Sozialkundelehrern und Journalisten im Westen Hannah Arendt als Kronzeugin benannt, wenn sie Faschismus und Kommunismus gleichsetzten. Nach dem Ende des Kalten Krieges und nach den Katastrophen des Sozialismus/Marxismus des 20. Jahrhunderts hätte allerdings ein "offener Marxismus" - bzw. ein "offenes kritisches Denken" - nicht nur die eigenen Fehler und Defizite zu thematisieren, sondern auch für die Frage offen zu sein, was von anderen Denkansätzen, Theorien, Analysen zu lernen sei. Dabei käme auch die Erneuerung eines kritischen - antikapitalistischen - Denkens an dem Werk von Hannah Arendt nicht vorbei. Sie war eine großartige Schriftstellerin und Denkerin; sie personifizierte auf beeindruckende Weise jenen Typus der Intellektuellen, die ihre intellektuelle Autonomie als "Freiheit des Denkens" zu bewahren verstehen. Ihre Totalitarismuskritik hat sich daher niemals nur auf den Faschismus und Kommunismus beschränkt, sondern auch die Gefahren der Vernichtung der Freiheit und desAbbaus der Demokratie in den entwickelten Industriegesellschaften des Westens benannt. Kurz vor ihrem Tod schrieb sie 1975 einen Artikel über "200 Jahre amerikanische Revolution". Darin analysierte sie die Krise, in die die "Weltmacht Nr. 1" in der Folge des Vietnamkrieges, der Wirtschaftskrisen dieser Jahre und der Watergate-Affaire geraten war. Der Rückblick und die Würdigung der "zweihundert Jahre der Freiheit mit all ihren Höhen und Tiefen" scheint ihr notwendig, um die politische Realität dieser Tage um so schärfer zu kritisieren: "Es ist, als hätte es ein Haufen von Schwindlern und ziemlich untalentierten Mafiosi geschafft, sich die Regierung der ›größten Weltmacht‹ anzueignen" (Arendt 1999: 170).

Hannah Arendt hat sich - mit ihren Analysen zum Charakter des totalitären Regimes, zum Antisemitismus und Rassismus, zum Flüchtlingswesen usw. - Bereichen zugewandt, die für einen Teil der Linken tabuisiert waren, obwohl sie später zugeben mussten, dass jene Elemente totalitärer Herrschaft, die Hannah Arendt im stalinistischen Regime ausmachte, schließlich doch zum Scheitern des staatssozialistischen Experimentes beigetragen haben. Außerdem hat sich Hannah Arendt mit Themen befasst, die im gesamten marxistischen Denken - mit seiner Tendenz zum Ökonomismus und zum Klassenreduktionismus - unterbelichtet waren bzw. lange verdrängt wurden. Dazu gehört vor allem die Auseinandersetzung mit der Bedeutung desAntisemitismus und des Völkermordes an den europäischen Juden. 36 Schließlich muss auch die Linke dafür sorgen, dass Arendts Plädoyer für die Freiheit, das die Sympathie für die Revolution, für Rosa Luxemburg und die Räteidee einschließt - nicht in Vergessenheit gerät. Wenn wir uns eine Zukunft des Sozialismus nur unter der Voraussetzung denken können, dass individuelle und kollektive Freiheitsrechte nicht eingeschränkt, sondern erweitert werden, dann gehört das Werk von Hannah Arendt zu jenem Erbe, auf das sich die neue Ordnung zu gründen hätte.

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Frank Deppe - Jg. 1941, Politikwissenschaftler, Prof. em. der Universität Marburg, hielt am 15. Juli 2006 seine Abschiedsvorlesung zum Thema: "Krise und Erneuerung marxistischer Theorie".

1 Im Jahre 1972 sagte sie in einer Diskussion: "Sie fragen mich also, wo ich stehe. Ich stehe nirgendwo. Ich schwimme wirklich nicht im Strom des gegenwärtigen oder irgendeines anderen politischen Denkens. Allerdings nicht deshalb, weil ich besonders originell sein will - es hat sich vielmehr einfach so ergeben, dass ich nirgendwo richtig hineinpasse. " (Arendt 2005: 111)

2 Auf die Frage von Scholem, ob sie nicht ihr jüdisches Volk liebe, antwortete sie: "Erstens habe ich nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv ›geliebt‹, weder das deutsche, noch das französische, noch das amerikanische, noch etwa die Arbeiterklasse oder was es sonst noch gibt. Ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig. Zweitens aber wäre mir diese Liebe zu den Juden, da ich selbst jüdisch bin, suspekt. Ich liebe nicht mich selbst und nicht dasjenige, wovon ich weiß, dass es irgendwie zu unserer Substanz gehört Â… Ich kann Ihnen in der ganzen Frage nur eine Sache zugeben, nämlich, dass Unrecht, begangen von meinem eigenen Volk, mich selbstverständlich mehr erregt als Unrecht, das andere Völker begehen." (nach Heuer 1987: 62)

3 Vgl. dazu die bisher erschienenen Bände meines "Politischen Denkens im 20. Jahrhundert". (Deppe 1999; Deppe 2003; Deppe 2006)

4 Von August 1949 bis März 1950 arbeitete Hannah Arendt bei der Vertretung der "Jewish Cultural Reconstruction" in Wiesbaden. In ihrem Bericht über Deutschland war sie geschockt von der Gleichgültigkeit und Selbstgerechtigkeit, mit der die meisten Deutschen die Katastrophe des "Dritten Reiches" und des Krieges verarbeiteten. "Nirgends wird dieser Alptraum von Zerstörung und Schrecken weniger verspürt und nirgendwo wird weniger darüber gesprochen als in Deutschland. Überall fällt einem auf, dass es keine Reaktion auf das Geschehene gibt, aber es ist schwer zu sagen, ob es sich dabei um eine absichtliche Weigerung zu trauern oder um den Ausdruck einer echten Gefühlsunfähigkeit handelt. " (Arendt 1993: 24)

5 Die These von ihrer "Sonderstellung" oder gar "Marginalität", die gerade Kurt Sontheimer (2005: 11) mit Bezug auf Agnes Heller wiederholt hat, kann sich nur auf ihren Denkansatz, nicht aber auf ihre Anerkennung als Autorin innerhalb des herrschenden Kulturund Wissenschaftsbetriebes beziehen.

6 In Palästina hatte sich um Judah Magnes eine Gruppe mit dem Namen Ikhud ("Einheit") gebildet. Sie verfolgte auch im Prozess der Gründung des Staates Israel den Gedanken der jüdisch-arabischen Kooperation. In den USA gründete Magnes eine unterstützende Organisation, in der sich - u. a. neben Erich Fromm und dem Soziologen David Riesman - auch Hannah Arendt engagierte. 1948 schrieb sie in der Zeitschrift "Commentary" einen Artikel mit dem Titel "Noch ist Zeit: Zur Rettung der jüdischen Heimat". (vgl.Young-Bruehl 1991: 321 ff.) Danach engagierte sie sich nicht mehr in Organisationen.

7 Franziska Augstein (2006) schreibt zum 100. Geburtstag: "Hannah Arendt wurde berühmt, weil ihre schon vor Ausbruch des Kalten Krieges entwickelte These den politischen Erfordernissen des Westens entsprach: Die Sowjetunion ist so schlimm wie der Nationalsozialismus. Als sie das Buch in den 40er Jahren schrieb, waren nähere Informationen nur mühsam erhältlich. Dass sie vom Sowjetsystem wenig wusste, störte indes im Kalten Krieg nicht weiter."

8 Hannah Arendt konnte "die Frankfurter" (um Horkheimer und Adorno) überhaupt nicht leiden; im Briefwechsel werden sie sogar als "Schweinebande" (Arendt/Blücher 1999: 127) tituliert. Das einerseits hatte persönliche Gründe (z. B. die gescheiterte Habilitation von Günther Stern in Frankfurt Ende der 20er Jahre oder - wichtiger - ihre Freundschaft mit Walter Benjamin in Paris). Andererseits hielt sie "die Frankfurter " für orthodoxe Marxisten (vgl. dazu Young-Bruehl 1991: 132, 241 ff.); die Reflexion auf den Zusammenhang von kapitalistischer Vergesellschaftung und Ideologiekritik war der Schülerin von Martin Heidegger vollkommen fremd.

9 Diese Beziehung ist einerseits dokumentiert im Briefwechsel (Arendt/ Heidegger 1998); andererseits hat diese Beziehung immer wieder die Phantasie von Schriftstellerinnen (Cathérine Clément: Martin und Hannah, 1999) beflügelt oder neue Forschungen angeregt. Gerade ist eine umfangreiche Studie von Antonia Grunenberg: Hannah Arendt und Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe, München/Zürich 2006, erschienen.

10 Als ihr Buch "Vita Activa" (1958) erschien, schrieb sie Heidegger im Oktober 1960: "Ich habe den Verlag angewiesen, Dir ein Buch von mir zu schicken... Du wirst sehen, dass das Buch keine Widmung trägt. Wäre es zwischen uns je mit rechten Dingen zugegangen - ich meine zwischen, also weder Dich noch mich -, so hätte ich Dich gefragt, ob ich es dir widmen darf; es ist unmittelbar aus den ersten Freiburger Tagen entstanden und schuldet dir in jeder Hinsicht so ziemlich alles." (Arendt/Heidegger 1998: 149)

11 Herbert Marcuse schrieb Heidegger am 28. August 1947 einen Brief, in dem er ihn aufforderte, seine "Reden, Schriften und Handlungen" aus den Jahren 1933/34 zu "widerrufen", und sich mit der Kritik auseinander zu setzen, dass er einem "Regime" gedient habe, "das Millionen von Juden umgebracht hat - bloß weil sie Juden waren, das den Terror zum Normalzustand gemacht hat und alles, was je wirklich mit dem Begriff Geist und Freiheit und Wahrheit verbunden war, in sein blutiges Gegenteil verkehrt hat". In seiner Antwort lehnte es Heidegger ab, sich öffentlich zu distanzieren. Über die Verbrechen des NS-Regimes schrieb er: "Zu den schweren berechtigten Vorwürfen, die Sie aussprechen über ein Regime, das Millionen Juden umgebracht hat ..., kann ich nur hinzufügen, dass statt ›Juden‹ ›Ostdeutsche‹ zu stehen hat und dann genauso gilt für einen (Terror) der Alliierten, mit dem Unterschied, dass alles, was seit 1945 geschieht, der Weltöffentlichkeit bekannt ist, während der blutige Terror der Nazis vor dem deutschen Volke tatsächlich geheim gehalten worden ist" (Farias 1989: 372 ff.). 1949 sagte Heidegger bei einem Vortrag in Bremen: "Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben." (ebenda 376) Hannah Arendt musste diese Einstellung von Heidegger bekannt sein.

12 Zu Lebzeiten von Hannah Arendt hat Karl Löwith auf diese Bindung aufmerksam gemacht. Die Schriften von Farias (1989) und Faye (2005) haben die inhaltlichen Bezüge zwischen seinem Denken und der NS-Ideologie nachgewiesen - beide sind zuerst in Frankreich erschienen, wo Heidegger (zu dessen frühen Schülern sich ja auch die französischen Existentialisten - Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre und Merleau-Ponty - rechneten, obwohl Heidegger dies zurückwies) eine große Fangemeinde hatte und hat.

13 Auch mit Carl Schmitt, dem "Kronjuristen des Dritten Reiches" (vgl. Deppe 2003: 157 ff.) ging sie relativ wohlwollend um. Im "Totalitarismus "-Buch wird er immer wieder positiv zitiert (häufiger als Rosa Luxemburg!). Dort sagt sie von ihm: er war "zweifellos der bedeutendste Mann in Deutschland auf dem Gebiet des Verfassungs- und Völkerrechts ... (und er) hat sich die allergrößte Mühe gegeben, es den Nazis recht zu machen. Es ist ihm nie gelungen; die Nazis haben ihn schleunigst durch zweit- und drittrangige Begabungen ... ersetzt und an die Wand gespielt." (Arendt 1986: 544) Solche "Mythen" dienen der Gemeinde der Schmitt-Anhänger bis heute, um ihren Meister als ein Opfer - und nicht als einen der geistigen Wegbereiter - des deutschen Faschismus zu stilisieren.

14 "Es kann kein Zweifel bestehen, dass Heidegger trotz seiner Ontologie der Freiheit sich in Sein und Zeit als Gegner der pluralistischen Demokratie zu erkennen gibt." (Safranski 1994: 202)

15 Brumlik (2006: 1484) weist zu Recht darauf hin, "dass es keineswegs nur persönliche Leidenschaft und Bewunderung war, die Arendt zu Martin Heidegger hinzog. Ihre Kritik der Gesellschaft stellt systematisch gesehen nichts anderes dar als eine Variante von Heideggers Kritik des ›Man‹, wie sie in ›Sein und Zeit‹ entfaltet ist".

16 Karl Jaspers, bei dem Hannah Arendt nach dem Weggang aus Marburg promovierte und der ihr lebenslanger Freund und Vertrauter blieb, veröffentlichte im Jahre 1930 eine überaus kritische und pessimistische Zeitdiagnose "Zur geistigen Situation der Zeit"- "alles versagt, es gibt nichts, was nicht fragwürdig wäre..." - mit der Technik und der Demokratisierung (durch das allgemeine Wahlrecht) hat sich die "Herrschaft der Massen" sowie der bürokratischen Apparate durchgesetzt. Damit gerät die Welt in die Hände der Mittelmäßigkeit usw. usf. Dieser Jargon befremdet auch deshalb, weil der große Philosoph im Jahre 1931 die faschistische Gefahr offenbar überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt. Hannah Arendt veröffentlichte 1946 einen Essay über Existentialphilosophie, in dem sie Heidegger scharf kritisierte und jedem seiner Fehler "eine Leistung Japsers" entgegensetzte (Young- Bruehl 1991: 310). Später wollte sie den Essay nicht in ihre Werksammlung aufnehmen.

17 In "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" (1986: 502) schreibt sie im Abschnitt über die "Massen" (als Ergebnis der "Auflösung der Klassengesellschaft ": "Der Ausdruck ›Masse‹ ist überall da zutreffend, und nur da, wo wir es mit Gruppen zu tun haben, die sich, entweder weil sie zu zahlreich oder weil sie zu gleichgültig für öffentliche Angelegenheiten sind, in keiner Organisation strukturieren lassen, die auf gemeinsamen Interessen an einer gemeinsam erfahrenen und verwalteten Welt beruht, also in keinen Parteien, keinen Interessenverbänden, keinen lokalen Selbstverwaltungen, keinen Gewerkschaften, keinen Berufsvereinen". Die Massenbasis des deutschen Faschismus z. B., der die gesamte Gesellschaft mit einem Netzwerk von Parteiorganisationen überzog, wäre durch diese Bestimmung (auch vor 1933) nicht exakt zu erfassen.

18 Im zweiten Band meines "Politischen Denkens im 20. Jahrhundert" (Deppe 2003: 91 ff.) habe ich "Organisationsprobleme der Massengesellschaft" diskutiert und zugleich Bezüge zum Zeitalter der "Massenproduktion " (i. e. "Fordismus ") und zum "American Century" hergestellt.

19 Das war das zentrale Thema der sog. Staatsrechtslehrer- Debatten in der Weimarer Republik sowie im "Austromarxismus" (Otto Bauer u. a.) (vgl. dazu Blau 1980 und Abendroth 1984).

20 Im Gefolge der "Französischen Revolution" von 1789 - mit ihren Losungen "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" - hatten vor allem liberale Autoren die Auffassung vertreten, dass Freiheit und Gleichheit nicht "zusammengehen" können. Wirtschaftliche und politische Freiheit - vor allem die Anerkennung und der Schutz des Privateigentums - setzten gesellschaftliche Ungleichheit voraus. Die politische Durchsetzung der sozialen Gleichheit sei nur durch die Aufhebung der Freiheit (d. h. durch eine Diktatur) möglich. Einer der Lieblingsautoren von Hannah Arendt, Alexis de Tocqueville, hat in seiner Schrift über die "Demokratie in Amerika" (1835) diese Befürchtung wie folgt zusammengefasst: "Die Gleichheit löst nämlich zwei Tendenzen aus: die eine führt die Menschen geradewegs zur Freiheit und kann sie auch plötzlich in die Anarchie treiben; die andere leitet sie auf längerem, verschwiegenerem, aber sicherem Wege in die Knechtschaft." (Tocqueville 1956: 178) Seit der Französischen Revolution hat die gesellschaftliche und politische Linke die Position vertreten, dass Freiheit ohne soziale Gleichheit nur der privilegierten Minderheit der Besitzenden zugute kommt.

21 Diesen Gedanken entwickelt sie dann ausführlicher in ihrem Buch "Über die Revolution", in dem die "gute" Revolution der Founding Fathers der USA (1776 ff.) mit der "schlechten" Revolution von 1789 ff. verglichen wird: Die "gute" Revolution war politisch, d. h. sie etablierte einen Rahmen für einen freien öffentlichen Diskurs; die "schlechte" wollte die soziale Gleichheit mit dem Mittel der politischen Gewalt herstellen (was übrigens nur zum Teil auf die Revolution von 1789 zutrifft; die "Verschwörung für die Gleichheit " des Gracchus Babeuf wurde im Jahre 1795 aufgedeckt - aber erst 20 Jahre später durch das Buch des Mitverschwörers Filipo Buonarroti bekannt).

22 Sheila Benhabib (2006) schreibt in einem Artikel zum 100. Geburtstag: "Die Studie ›Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft‹ frustrierte schon Arendts Zeitgenossen, weil sie eine Mischung aus Geschichtsschreibung, Philosophie, Journalismus und sogar Literaturbetrachtung war ... Historiker haben (ihre) Auffassung von der Bürokratie unter totalitären Regimen infrage gestellt; sie haben ihre Thesen über das moderne Verschwinden der Gemeinschaft und das zunehmende Gefühl der Verlassenheit beim ›Massenmenschen‹ in der Zeit vor Hitlers Aufstieg zur Macht widerlegt..."

23 Sie selbst war sich solcher Defizite wohl bewusst. Nach der Veröffentlichung der "Origins" beantragte sie ein Stipendium, um über den Marxismus zu forschen. Im Antrag schrieb sie: "Der schwerwiegendste Mangel von Origins ist das Fehlen einer angemessenen historischen und begrifflichen Auseinandersetzung mit den ideologischen Hintergründen des Bolschewismus." (zit. n.Young-Bruehl 1991: 384) "Klaus-Dietmar Henke, ehemaliger Direktor des Hannah- Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung in Dresden, berichtet, dass die Mitarbeiter des Instituts jahrelang versucht hätten, gemeinsame Bezugspunkte zwischen NS- und Sowjetdiktatur zu finden - vergeblich... Hannah Arendt (selbst) ... zählte sowohl die entstalinisierte Sowjetunion als auch das DDR-Regime nicht zu den totalitären Regimen." (Augstein 2006)

24 Der Imperialismus- Abschnitt in "Origins" wurde bei der Rezeption des Buches in den 50er Jahren fast vollständig ignoriert - schon der Begriff suggerierte eine gewisse Nähe zum Marxismus-Leninismus, den Arendt ablehnte. In diesem Abschnitt bezieht sie sich - in einer Fußnote - auch auf Rosa Luxemburg (Arendt 1986: 254/5). Sie bezeichnet deren "Akkumulation des Kapitals " als interessant, weil diese zu "Resultaten" kam, "die mit dem Marxismus weder in seiner orthodoxen noch in seiner reformierten Form in Einklang zu bringen waren" (ebenda). Allerdings wäre es wohl übertrieben, aufgrund dieser Fußnote davon zu sprechen, dass sich Hannah Arendt intensiv mit dem Werk von Luxemburg beschäftigt habe.Wesentlich wichtiger sind neuere Analysen des Kapitalismus, die an die LuxemburgÂ’sche These von der Notwendigkeit der Existenz nichtkapitalistischer Verhältnisse für die Kapitalakkumulation anknüpfen: in den 80er Jahren Burkhardt Lutz mit seiner Analyse vom Ende der langen, expansiven Nachkriegswelle des Golden Age ("Der kurze Traum immerwährender Prosperität"); und neuerdings David Harvey, der in seinem Buch "The New Imperialism" (2003) immer wieder auf Hannah Arendts Kapitel über den "Imperialismus" (sowie auf Rosa Luxemburg) zurückkommt.

25 Zum 200. Jahrestag der amerikanischen Revolution schrieb Arendt (1999: 161 ff.) 1975 - also kurz vor ihrem Tod - einen Artikel, in dem sie davon ausgeht, dass sich "die Republik ... und ihre Institutionen der Freiheit in einer Krise befinden..."

26 Günther Anders, der erste Ehemann von Hannah Arendt und ebenfalls Schüler von Heidegger, hat diese Problematik im ersten Band seines philosophischen Hauptwerkes "Die Antiquiertheit des Menschen" (1956) in den Mittelpunkt gestellt.

27 In einem Artikel über die Rassendiskriminierung in Little Rock (1957) vertrat Arendt (1991: 95 ff.) "ketzerische Ansichten über die Negerfrage und equality". Sie plädiert dort entschieden für die Aufhebung der rechtlich-politischen Diskriminierung, spricht sich aber gleichzeitig für das "unabdingbare gesellschaftliche Recht... (auf) Diskriminierung " aus; denn: "Eine Massengesellschaft, in der die Unterscheidungslinien verwischt und die Gruppenunterschiede eingeebnet werden, ist eine Gefahr für die Gesellschaft an sich und weniger eine Gefahr für die Integrität des einzelnen, denn persönliche Identität speist sich aus einer Quelle, die jenseits des Bereichs der Gesellschaft entspringt. " (ebenda 105)

28 Max Weber hatte - trotz seiner Skepsis gegenüber der parlamentarischen Regierungsform - die Aufgabe des Parlamentarismus darin gesehen, das politische Führungspersonal in der repräsentativen Demokratie auszuwählen. Hannah Arendt ist hier wesentlich radikaler; denn sie schreibt diese Aufgabe der Revolution und dem Rätesystem zu. Da in den bisherigen Revolutionen die Ansätze einer Rätedemokratie stets gescheitert sind, rückt auch die Vorstellung von einer durch die Räte auserwählten "Aristokratie", die die Verfassung, den Rechtsstaat und die öffentliche Freiheit verteidigt, ins Reich der politischen Romantik.

29 Arendt ist sich natürlich der Bedeutung der "sozialen Frage" bewusst. Sie argumentiert jedoch, dass keine der Revolutionen in der Lage sei, die soziale Frage zu lösen. "Soweit die Erinnerung der Menschheit reicht, hat das menschliche Leben unter dem Fluch der Armut gestanden, und wenn dieser Fluch heute aus den Ländern des Westens zu verschwinden scheint, so kann niemand behaupten, dass dies einer der west-Â’ lichen Revolutionen zu verdanken sei. Keine Revolution hat je die ›soziale Frage‹ gelöst und Menschen von der Not befreit, obwohl alle Revolutionen nach dem 18. Jahrhundert, mit der einzigen Ausnahme der ungarischen Revolution des Jahres 1956, dem Beispiel der Französischen Revolution gefolgt sind und die gewaltigen Kräfte der Not und des Elends in dem Kampf gegen Zwangsherrschaft und Unterdrückung in die Waagschale geworfen haben." (Arendt 1963: 142)

30 Das Marxsche Hauptwerk heißt nicht "Die Arbeit", sondern "Das Kapital".

31 "MarxÂ’ ursprüngliche Akkumulation des Kapitals war nicht ... ein Einzelereignis, ein einmaliger Akt der Expropriation durch die entstehende Bourgeoisie ... Im Gegenteil, die Expropriation muss immer wieder von neuem wiederholt werden, um das System in Gang zu halten." (Arendt 1968: 31)

32 Wirklich intensiv hat sie sich mit Bertolt Brecht und vor allem mit ihrem Freund (aus den Pariser Jahren) Walter Benjamin befasst. (Arendt 1971; Schöttker/ Wiziska 2006) Brecht würdigt sie als Dichter und Dramatiker, der aus der ehrlichen Motivation heraus, gegen Elend, Faschismus und Ausbeutung zu kämpfen, sich der kommunistischen Bewegung anschloss und deshalb auch sowohl seine Autonomie als Intellektueller als auch seine ursprünglich ethischen Antriebe an die Politik der Partei anzupassen hatte. Benjamin hält sie für den bedeutendsten Essayisten deutscher Sprache. Ihr eigenes Schicksal war mit den "Geschichtsphilosophischen Thesen" von Benjamin eng verbunden; denn dieser übergab ihr das Manuskript vor seinem Tode. Sie rettete es in die USA und übergab es dort Horkheimer und Adorno vom "Institut für Sozialforschung". Sie hatte die beiden im Verdacht, dass sie dieses letzte Manuskript von Benjamin unterdrücken wollten. Darin hatte Benjamin radikal mit dem Fortschrittsdenken aufgeräumt: der "Engel der Geschichte" blickt zurück auf eine "einzige Katastrophe", während vor ihm (in der Zukunft) "die Trümmerhaufen ...zum Himmel " wachsen (These 9). In der These 11 kritisiert Benjamin die deutsche Sozialdemokratie, die die technische Entwicklung stets als Fortschritt (im Sinne eines Naturgesetzes) begriffen habe, der letztlich zum Sozialismus führe: "Dieser vulgärmarxistische Begriff von dem, was die Arbeit ist, ...will nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht aber die Rückschritte der Gesellschaft wahrhaben" (Benjamin 1965: 84/85 und 87). Es liegt auf der Hand, dass Benjamins Pessimismus des Jahres 1941 mit der Zeitdiagnose von Hannah Arendt voll übereinstimmte. Sie hatte die Frankfurter "Marxisten" in Verdacht, dass ihnen solcher Pessimismus als "un-marxistisch" erscheinen würde. Da irrte sie; denn Horkheimer und Adorno waren gerade in dieser Zeit der Vorgeschichte der "Dialektik der Aufklärung" schon weit vom marxistischen Fortschrittsdenken (das sie eigentlich nie geteilt hatten) entfernt.

33 Neben Nettl haben u. a. Gilbert Badia, Lelio Basso, Felix Tych und auch Anna Laschitza in der DDR über Rosa Luxemburg geforscht und geschrieben.

34 Im gleichen Text schrieb sie: "Lenin und Genossen ... haben durch ihre entschlossene revolutionäre Haltung, ihre vorbildliche Tatkraft und ihre unverbrüchliche Treue dem internationalen Sozialismus wahrhaftig geleistet, was unter so verteufelt schwierigen Verhältnissen zu leisten war." (Luxemburg 1968: 140)

35 Die Pariser Mai-Ereignisse des Jahres 1968 haben Hannah Arendt und Heinrich Blücher zunächst "begeistert im Fernsehen ... und in den Zeitungen" verfolgt; Daniel Cohn-Bendit, mit dessen Eltern Arendt als Emigrantin in Paris befreundet war, versicherte sie ihre Solidarität und fragte ihn, ob er "Geld brauche" (Young- Bruehl 1991: 562/3). Diese Sympathie erklärt sich offenbar daraus, dass die anarchistischen Enragés um Cohn-Bendit Gegner des marxistischen Flügels der französischen Arbeiterbewegung - vor allem aber der als "stalinistisch" gebrandmarkten KP Frankreichs - waren. Arendt hatte offenbar klug erkannt, dass der libertäre Kern der antiautoritären Revolte letztlich - was die politische Biographie von Cohn-Bendit und vielen anderen bestätigte - auf einen liberalen Antitotalitarismus zusammenschrumpfte, der sich vor allem gegen die politische Linke richtet.

36 In ihrem Essay über B. Brecht hat Hannah Arendt mit Recht auf dieses Defizit hingewiesen: "Denn von Rasse war bei Marx, Engels und Lenin nirgends die Rede, und Antisemitismus war bestenfalls als der Sozialismus der Dummen bekannt, woraus nicht nur Brecht, sondern alle Kommunisten und nahezu alle Sozialisten schlossen, dass es so etwas eigentlich nicht gibt." (Arendt 1971: 100)

 

in: UTOPIE kreativ, H. 201/202 (Juli/August 2007), S. 681-697

aus dem Inhalt:
VorSatz; Essay EKKEHART KRIPPENDORFF: Die Wiedergeburt Europas - aber aus welchem Geiste? Gesellschaft - Analysen & Alternativen RICHARD SAAGE: Renaissance der Utopie? INGRID LOHMANN: Was bedeutet eigentlich "Humankapital"? Dokumentierte Geschichte CLARA ZETKIN an MARIA REESE: Â… tote kalte Formeln Â… KÄTE und HERMANN DUNCKER: Eine Rußlandreise im Jahr 7 der Oktoberrevolution ERHARD SCHERNER: "Junger Etrusker erteilt Unterricht". Eine Erinnerung an Alfred Kurella Hannah Arendt im Disput MOSHE ZUCKERMAN: Zur Bedeutung von "Eichmann in Jerusalem" FRANK DEPPE: Hannah Arendt und das politische Denken im 20. Jahrhundert GUSTAV AUERNHEIMER: Revolution und Räte bei Hannah Arendt und Rosa Luxemburg Marxismus THOMAS MARXHAUSEN: Kommunistisches Manifest (Bearbeiteter) Vorabdruck eines HKWM-Stichwortes GÜNTER WIRTH: Marxismus, Glauben, Religion. Notwendige Bemerkungen zu einem Buch von Uwe-Jens Heuer GÜNTER MAYER, WOLFGANG KÜTTLER: Postsowjetische Marxisten in Russland DDR konkret SEBASTIAN STUDE: Halle/Saale 1989 MARIO KESSLER: Heimatlose Linke? Überlegungen zu Fritz Lamm und Leo Kofler Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau Bücher & Zeitschriften Pär Ström: Die Überwachungsmafia. Das gute Geschäft mit unseren Daten Tobias Singelnstein, Peer Stolle: Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert (ANDREAS MARCH, PETER ULLRICH) Hermann und Gerda Weber: Leben nach dem "Prinzip links". Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten (FLORIAN WILDE) Peter Bathke, Susanne Spindler (Hg.): Neoliberalismus und Rechtsextremismus in Europa. Zusammenhänge - Widersprüche - Gegenstrategien (HORST HELAS) Stephan Krüger: Konjunkturzyklus und Überakkumulation (Ulrich Busch) Summaries