Alle Welt ist draußen

Vom afrikanischen Straßenmädchen, das Müll recycelt, zum Mädchen maghrebinischer Herkunft, das sein "Haus in der Prärie" vorstellt. Junge Frauen erobern sich öffentlichen Räume und "geheime Eck

Wenig bekannt ist, dass Virginia Woolf in ihrem Klassiker "A Room for OneÂ’s Own" Mädchen dazu auffordert, "an Straßenecken herum zu lungern und den Fluss der Gedanken tief in den Strom einmünden zu lassen" und Frauen ermutigt "zu genügend Geld zu kommen, um zu reisen und müßig zu sein...". Durch den kontinuierlichen und gemeinen Trick, die Öffentlichkeit als einen Hort der Gefahren darzustellen, als feindliches Territorium, im Gegensatz zur angeblich so sicheren Heimstatt der Familie, dem trauten Einfamilienhaus, werden Mädchen und junge Frauen aus öffentlichen Räumen mehr oder weniger ausgeschlossen. Doch so einfach funktioniert der Wink mit dem Zaunpfahl - der fremde Vergewaltiger hinter den Büschen- nicht mehr. Mädchen machen sich "auf die Socken" und "ab durch die Mitte". Politisches Engagement steht sicher auch im Zusammenhang einer Eroberung freier und gemeinsamer Plätze in der Gesellschaft. Öffentliche Räume von der antiken Agora bis zum heutigen Kaffeehaus sind Orte politischen Handelns. Auch für Mädchen muss es ähnliche oder andere Räume geben, denn sonst können sie sich nur um den Preis enormer Schuldgefühle gegen Rollenzuweisungen, wie der, dass ihr Aufenthalt draußen immer einem bestimmten funktionalen Zweck dienen müsse, wehren.
Am 8. März 2007 werden in Paris hundert Tische vor verschiedenen Ministerien aufgestellt sein. Hundert Mädchen sind eingeladen, jeweils sieben Minuten mit hundert Politikerinnen zu reden. "Speedpol" nennt sich diese Aktion, die das politische Engagement der Mädchen unterstützen, aber auch Politikerinnen mit den Forderungen und Wünschen der Mädchen konfrontieren will. Gleichzeitig und nicht unwesentlich, beansprucht die Aktion aber auch den öffentlichen Raum und die gesellschaftliche Aufmerksamkeit nicht nur der ZuhörerInnen. Wie viel Raum nehmen sich Mädchen in der Öffentlichkeit? Welchen Platz beanspruchen sie für sich? Wie sieht es mit politischer Teilhabe an der Gesellschaft aus? Ein Projekt des Wiener Vereins "Wirbel", der für feministische Mädchenarbeit steht und u.a. den Mädchengarten in der Szene Wien mit initiierte, untersucht gerade diverse Länder auf best practice-Beispiele innovativer Mädchenarbeit, die dann Ende des Jahres plus Linkliste auf der Homepage veröffentlicht werden. Die Frauenabteilung im Magistrat Wien unterstützt finanziell.
Straßenmädchen. Wer zum Untersuchungsgegenstand "Mädchenprojekt" auf französischsprachigen Seiten herum surft, landet ganz schnell in Afrika. Ein Straßenmädchenprojekt in Togo hier, ein Mädchenprojekt mit eigenem Platz in Tunesien da, Projekte in Uganda und Zambia, speziell für 600 Flüchtlingsmädchen zum Thema "Gesundheit" dort. In Afrika gibt es riesige Projekte, die zum Teil aus dem Ausland gesponsert werden. So unterstützt die französische Stiftung "Elle" Projekte in Mali und Burundi, durch die 3.000 nomadische Mädchen und junge Frauen in die Schule gehen können, die deutsche Regierung ein Beratungszentrum und ein Waisenhaus für Mädchen in Burkina Faso. Oft soll auch der selbstständige Erwerb von finanziellen Mitteln gefördert werden. Die Weltbank ?finanziert in Kenia ein Projekt zur Mülltrennung und Recycling, durch das Straßenmädchen zu Geld kommen sollen, die UNO ein Mädchenprojekt mit eigenen Häusern und einer Schneiderei im Senegal oder Italien ein Projekt in Marokko, bei dem Frauen in einem Park, der unter Naturschutz steht, den Beruf der Imkerin lernen können und Mädchen Nähprojekte verwirklichen.?Straßenmädchen wie in den afrikanischen Projekten kommen in der europäischen Wissenschaft zum Thema "Öffentlicher Raum" nicht vor, als ob in Bulgarien oder Rumänien, aber auch in Ungarn keine Mädchen auf der Straße lebten. In Europa wird "die Straße" als Bewegungsfreiraum romantisiert und den Buben zugewiesen. Gerne werden Jungen "der Unterschicht", die alleine oder in Gruppen in der Stadt herum streifen und die Straße für sich in Anspruch nehmen, der Gruppe der "bürgerlichen Mädchen" gegenüber gestellt, die in "halböffentlichen" Räumen z. B. Klavierunterricht nehmen. "Das Denken in Dichotomien ist grundlegend für das Denken in der Moderne und die Denkstruktur Patriarchat sowie die Definition von Wirklichkeit", schreibt Ursula Nissen in dem Buch "Kindheit, Geschlecht und Raum". Und weiter: "Der Dichotomie öffentlich - privat entspricht als Folge der Aufklärung die Dichotomie der politischen Konzeption des (männlichen) autonomen Individuums einerseits und des bürgerlichen Frauenideals andererseits." Der bürgerliche Junge/Mann und das autonome Straßenmädchen gehen verloren, wobei Nissen die halböffentliche Institutionalisierung der bildungsbürgerlichen Mädchen (Klavier im Konservatorium, Tennis am Sportplatz, raumgreifendes Reiten etc.) als gute Vorbereitung für die geforderte Aufteilung und Flexibilität am Arbeitsmarkt sieht. Mädchen wären so optimal der Moderne angepasst. Feministinnen kritisierten daher nicht die "Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit als solche", sondern forderten die "Einlösung der mit dem Ideal des autonomen politischen Subjekts verbundenen ‚Verheißungen der ModerneÂ’, vor allem Vernunft und ökonomische Unabhängigkeit", auch für Mädchen und Frauen, ein.?Auch "Flüchtlingsmädchen" fehlen als Kategorie der Kindheitsforschung, als ob es in Westeuropa keine gäbe. Dabei ist z. B. in Ljubljana eine Mädchengruppe im Flüchtlingsheim der Filantropija (der philantropischen Gesellschaft) aktiv, die Workshops veranstaltet. Sie ist einmalig. In Slowenien gibt es ansonsten, außer der Mädchenband "Fregatura" vom Jugendzentrum Koper, keine Mädchengruppen. Die selbstverständliche Berufstätigkeit der Mütter im untergegangenen Sozialismus dürfte die Töchtergeneration noch so stark im Kopf haben, dass sie eine eigene Organisierung für nicht notwendig erachtet. Interessant ist der Vergleich mit Österreich: Hier sind nach wie vor die meisten Mädchenprojekte im Bereich Beschäftigung angesiedelt. Die slowenische Universitätsdozentin Spela Razpotnik interviewte für das Pädagogische Institut der Universität Ljubljana migran- tische Mädchen und junge Frauen, die vor allem aus Bosnien-Herzegowina oder anderen Teilen des ehemaligen Jugoslawiens kommen. Unter dem Titel "Preseki odvecnost/Schnittpunkte der Überflüssigkeit. Unsichtbare Identitäten junger weiblicher Immigrantinnen in transitorischen Gesellschaften" publizierte sie ihre Untersuchung. Spela fand heraus, dass die gender-Kategorien die soziale Mobilität und wie sich Jugendliche in einer Umgebung platzieren, sowie kollektive soziale Aktionen und die Teilhabe am politischen Leben weitaus mehr beeinflussen als die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht oder die ethnische Herkunft. Basis waren Interviews mit 1.996 Jugendlichen slowenischer oder anderer Herkunft (nach Selbstdefinition). Im Gegensatz zu ihrem nächsten wissenschaftlichen Forschungsprojekt mit Obdachlosen, für die Spela Razpotnik mit KollegInnen die Straßenzeitung "Kralji ulice/Könige der Straße" erfand und umsetzte, führte sie aber das Mädchenprojekt nicht weiter und fand keinen Weg, ihre Erkenntnisse in eine gelebte Praxis umzusetzen.??Geheimplätze. In den Migrationsländern erscheinen die Mädchenprojekte und die dahinter stehenden Ideen viel harmloser als in den Herkunftsländern. Etwas zahm passt frau sich den herrschenden Strukturen an. "In einem Kontext, in dem mögliche Gemeinsamkeiten zwischen Mädchen und Jungen verschwinden und die Mädchen wenig Zugang zu sozialen Aktivitäten außerhalb der Schule haben, will unser Projekt erreichen, dass sie, wie andere Jugendliche ihres Alters, den Nationalpark in den Pyrenäen kennen lernen." "De cimes en cimes" (Von Gipfel zu Gipfel) nennt sich ein Projekt nördlich von Tarbes, einer äußerst prekären Region in Frankreich. siebzig Prozent der Jugendlichen sind hier maghrebinischer Herkunft. Die Mädchen sollen aus den Wohnungen in den Betonschluchten heraus geholt werden und die klassisch weiblichen Rollen in Frage stellen können. Sie lernen bei mehrtägigen Ausflügen die unzähligen Berufe unter freiem Himmel und verschiedene künstlerische Tätigkeiten kennen.?Etwas wilder ist da schon die "Groupe de Parole de filles", in der Mädchen im Rahmen von Alphabetisierungskursen ihre eigenen Geschichten und Meinungen aufschreiben. In ihnen geht es häufig um Rückzugsbereiche in eigens angelegten Gärten oder die Ruhe in der Natur, als Zufluchtsort vor älteren Brüdern und Müttern. "Simplement libre" ("Einfach nur frei") heißt eine Broschüre der Mädchen, die "allen Mädchen, die Schwierigkeiten haben, sich auszudrücken, unter schweren Bedingungen in den Quartiers wohnen und eine Liebe, die in den Augen der anderen verboten ist, leben" gewidmet ist. Fluchtplätze spielen eine große Rolle! Aber auch die Liebe und der Hass gegenüber dem Quartier und den zuständigen französischen Behörden werden von den Mädchen thematisiert: "Frankreich verlässt seine Kinder. Es vergisst, dass wir seine Zukunft sind. (...) Manchmal passiert es mir, dass ich mich in dem verdammten Quartier beschützt fühle. Ich fühle mich wie bei mir zu Hause,...obwohl man den Hass und die Wut spürt, die hier schon zu lange eingeschlossen sind. (...) Trotz allem werde ich mein Quartier nie verlassen. Es ist mein kleines Haus in der Prärie!"?"Wir werden rund um die Uhr 24 Stunden überwacht, beurteilt und kritisiert", heißt es, aber auch "Ich werde nicht sterben, wenn die Jungs über mich reden." Eines schönen Tages brechen vier Mädchen auf, um gemeinsam ihre "geheimen Ecken" zu besuchen, obwohl sie "schon zu groß sind, um eine geheime Ecke zu besitzen". Eine der vier Freundinnen beschreibt die Exkursion: "Es gab viele Emotionen in uns, aber wir zeigten sie nicht. Unsere Augen leuchteten. Ich glaube, dass jeder Mensch einen geheimen Platz hat, ob in seinem Herzen oder an einem äußeren Platz. Ich liebte diesen Ausflug sehr, denn ich fühlte, dass wir frei sind. Es gab nichts als den Wind, die Sonne, eine schöne Landschaft, nichts anderes." Die Mädchen bauten ihren eigenen Garten an und zogen Salat. "In meinem Garten habe ich den Eindruck, auf einer Wolke zu schweben", schreibt ein Mädchen.
"Die Frage der Beziehungen zum Raum ist insofern interessant, als diese Beziehungen im Zusammenhang mit der sozialen Eingliederung Aufschluss über gewisse Ungleichheiten geben können", schreibt die Soziologin Horia Kebabza, die in Toulouse achtzig junge Migrantinnen für ihre Studie interviewte. Sie fand heraus, dass die Mädchen im öffentlichen Raum ganz bewusst Strategien der Unsichtbarkeit bzw. der Sichtbarkeit verwenden, um der Kontrolle zu entgehen und sich mit der männlichen Dominanz zu arrangieren. "Die Norm des respektablen jungen Mädchens verweist auf einen dörflichen Geist der cites. Das seriöse junge Mädchen ist dem privaten Raum zugeteilt", schreibt Kebabza. "Seriös sein bedeutet auch, teilweise unsichtbar sein, wobei daran erinnert sei, dass das Öffentliche auf das Sichtbare verweist." Die Mädchen machen sich darüber viele Gedanken, entscheiden sich für bestimmte Strategien und unterstützen sich dabei im Freundinnenkreis oder in ihren Gruppen. Ein Mädchen maghrebinischer Herkunft in "Simplement libre": "Die Jungs behaupten, dass im Koran steht, dass die Frau nicht ausgehen darf, sondern zu Hause bleiben muss. (...) Im Koran steht, dass es Gleichheit zwischen Männern und Frauen geben muss. Die Jungs müssen sich kontrollieren, wenn sie ein Mädchen sehen. (...) Wir begehren die Gleichberechtigung. Früher waren die Frauen nicht frei: Wenn sie klein waren, dirigierten sie die Eltern, danach der Ehemann. Mich, mich dirigiert keiner." Mädchen umgehen die gesellschaftlichen Regeln, z.B. mit Ausflügen ins Stadtzentrum, wo sie ihre Anonymität wahren können. Andere 12 bis 14-jährige bevölkern zur Mittagszeit in der Pause die Gärten und Parks am Meer in Marseille, wie die Soziologin Monique Haicault im dokumentarischen Film "Frauen in der Stadt" festgehalten hat. Am Abend ist es zu gefährlich und die öffentlichen Verkehrsmittel fahren nicht mehr. Haicault filmte den Marsch der "Frauen des Quartiers", die gegen Gewalt protestierten, und den Markt, der in Marseille traditionell in der Tradition der Fischverkäuferinnen steht. Sie wies aber auch darauf hin, dass die Busverbindungen in die Vorstädte so schlecht sind, dass bestimmte Mädchen und Frauen zu Hause bleiben müssen, statt nach Marseille hinein zu fahren. "Die Straße, ein Objekt der Eroberung, symbolisiert für Frauen immer noch einen politischen Platz der Freiheit", sagte Haicault auf einer Tagung in Tunis. "Durch soziale Kontrolle ist der Zugang aber nicht für alle Frauen gleich gesichert."
Projekte wie "Die Karawane für die Rechte der Frauen" verbinden die Frauen des Südens mit den Migrantinnen. Seit 2001 zirkuliert die Karawane jedes Jahr in unterschiedlichen Regionen in Marokko, aber auch in Frankreich. Seit 2004 nehmen ebenfalls algerische und tunesische Frauen und Mädchen teil. Heuer fanden im Mai Treffen und juristische und soziale Beratungen in Marseille, Strasbourg, Paris, Dijon und Lyon statt - in einem Berberinnenzelt an öffentlichen Plätzen. "La Kayrawan (ein Wort, das uns ins antike Persien führt) erlaubt die Debatte über die Rechte der Frauen in die Herzen der Städte zu tragen und auch die Aktionen der lokalen Organisationen zu würdigen", stand im Aufruf zur Teilnahme.?"Le triangel. Das ist der Platz, wohin wir gehen, wenn es Nacht wird. Alle Welt ist draußen", erzählt ein Mädchen der "Groupe de Parole de filles". "Nachdem meine Mutter draußen ist, darf ich das auch. Triangel ist der Platz, an dem sich die Gruppen von Mädchen treffen. Sie diskutieren, sie kritisieren sich, sie lachen. Am Anfang gehörte der Platz uns, aber jetzt kommen die Jungs. Wenn es da Jungen gibt, gehen wir nicht hin. Aber wenn sie nicht kommen, sind wir da." Eine aktive Planungs-Politik könnte die Mädchen unterstützen, tut es aber bisher kaum. Kebabza: "In den Quartieren mit Sozialwohnungen haben städtepolitische Maßnahmen und Instrumente die Trennung privat/öffentlich zwischen Mädchen und Jungen noch verstärkt und dazu beigetragen, Stereotypen aufrecht zu erhalten wie: Tätigkeiten im Haus sind für Mädchen, während Tätigkeiten außer Haus auf Jungen ausgerichtet sind und deren aggressive TriebeÂ’ insbesondere durch Sport kanalisieren." Vor allem mit der Pubertät verschwinden die Mädchen sukzessive aus dem öffentlichen Raum. Der Grund dafür liegt in den weiblichen Rollenerwartungen, den Vorgaben bezüglich "weiblichem Raumverhalten". Während für Kinder eine Parkanlage Schutzfunktion besitzt, werden die größeren Mädchen von allen Seiten her sehr genau beobachtet und kontrolliert. Beim Parkbau ist daher z.B. auf eine Mischung aus einsichtigen und weniger einsichtigen Bereichen zu achten, um den jüngeren Mädchen soziale Sicherheit, den älteren aber wichtige Rückzugsräume zu schaffen. Damit sich die Mädchen aktiv und in Bewegung Räume aneignen können und sich nicht in ihr Selbst und in ihren Körper teilen lassen, denn "Spielplätze und Spielplatzangebote sind gesellschaftlich geplante und bereitgestellte Übungsfelder für Verhaltensqualifikationen, die im späteren Erwachsenenleben erforderlich sind", wie Ursula Nissen schreibt. Es gilt, aktive Selbstunterdrückung der Mädchen durch Internalisierung der strukturellen Machtverhältnisse und der symbolischen Herrschaft zu vermeiden. Denn zu dem "Can I ever avoid doing gender?" kommt ein "Can I ever avoid doing adult?" hinzu.

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin,
www.anschlaege.at