Das "Europäische Sozialmodell" als transnationales Modernisierungs- und Legitimationskonzept

aus: Kurswechsel 1/2007

Auftakt zur Auseinandersetzung um eine post-neoliberale politische Agenda.

"Zukünftig werden eine Modernisierung des europäischen Sozialmodells und Investitionen in Menschen sich als entscheidend erweisen, will man die europäischen Werte der Solidarität und Gerechtigkeit beibehalten und gleichzeitig die Wirtschaftsleistung verbessern." (Europäische Kommission: Sozialpolitische Agenda, Brüssel2006)

Einleitung: Übergang zu einer post-neoliberalen Integrationsweise?

Mit der Proklamation der Lissabonner Strategie im Jahr 2000 hat die Sozialpolitik einen bis dahin nicht gekannten bedeutenden Stellenwert in der Europäischen Integration erhalten. In diesem Zusammenhang taucht immer häufiger der Begriff eines "Europäischen Sozialmodells" (ESM) in den Dokumenten der EU-Institutionen auf. Diese Entwicklungen führten insbesondere unter PolitikerInnen und Intellektuellen zur Verbreitung einer Sichtweise der EU als positivem und sozialerem Gegenmodell zur US-dominierten neoliberalen Globalisierung (z.B.: Habermas/Derrida 2003; Rifkin 2004). Denn der Begriff ESM wird in der Regel als Bezeichnung von spezifischen, historisch gewachsenen institutionellen Gemeinsamkeiten unterschiedlicher europäischer Wohlfahrtsstaaten und als solcher auch oft gleichzeitig als positive Abgrenzung zum US-amerikanischen Modell verwendet.

Zentrales Anliegen dieses Artikels ist es, dieser normativen Sichtweise des ESM kritisch zu begegnen, nicht zuletzt deshalb, weil sie die Dynamik der anhaltenden neoliberalen Restrukturierung des europäischen Kapitalismus unterschätzt. Die Aufmerksamkeit soll vielmehr auf zwei analytische Fragestellungen gelenkt werden, nämlich einerseits auf die spezifische Funktion und Bedeutung des politischen Konzepts in der gegenwärtig neoliberal dominierten Integrationsweise und andererseits auf seine Rolle als ein Knotenpunkt politischer Auseinandersetzungen und Kämpfe um ein sozialeres Europa. Zunächst soll mit einem Blick in die Geschichte der europäischen Sozialpolitik deren Entwicklung und Zusammenhang sowohl mit den ökonomischen Integrationsprojekten als auch mit den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen veranschaulicht werden. Dann erfolgt eine genauere Beschreibung und Zusammenfassung der Inhalte der sozialpolitischen Dokumente der EU-Kommission, um die wesentliche Stoßrichtung der neuen europäischen Sozialpolitik seit Lissabon zu verdeutlichen. Schließlich wird auf die Eigenschaft des ESM als vorübergehender politischer Kompromiss, der umkämpft bleibt, eingegangen, um abschließend Überlegungen zu den Perspektiven für ein sozialeres Europa aufzuwerfen.

Analytische Annäherung an ein normatives politisches Konzept

Das ESM stellt keine bereits existierende politische Realität dar, sondern vielmehr eine politische Vision, ein normatives Konzept. Als solches ist es als ein Bestandteil eines größeren Europäischen Integrationsprojektes zu betrachten, das zwei Dimensionen umfasst:

Zum einen propagiert es einen bestimmten Weg der Integration, stellt eine Modernisierungsstrategie dar, die die strukturelle Erneuerung europäischer Wohlfahrtsstaaten anstrebt und à la longue zu einer Veränderung in den Beziehungen zwischen Ökonomie und dem Markt einerseits und Gesellschaft und Individuen andererseits führt und nicht zuletzt auch eine veränderte Rolle des Staates in der Sozialpolitik mit sich bringt. Zum anderen ist es ein Legitimationskonzept für die EU-Institutionen und die zukünftige Richtung der Europäischen Union. Das Konzept der europäischen Eliten kann als vorübergehende Stabilisierung gegenwärtig wachsender Kritik an einer neoliberalen Integrationsweise bzw. als Teil der Auseinandersetzungen um eine "post-neoliberale Agenda" (Brand 2006, 169) gesehen werden.

Das positiv klingende politische Schlagwort ESM wird so dazu verwendet, neue Konzeptionen von Sozialpolitik zu fördern und populär zu machen. Vor allem die Europäische Kommission spielt seit einigen Jahren eine wichtige Rolle in der Bereitstellung solcher politischer Konzepte (z.B.: employability, partnership oder gender mainstreaming), die europäische und nationale politische und wissenschaftliche Debatten beeinflussen und die Problemdefinitionen und Sichtweisen zu Themen wie Arbeitslosigkeit, Diskriminierung oder Armut auf diese Weise mitstrukturieren. In Anlehnung an Antonio Gramscis (1991-2002) Hegemonietheorie zu politischer Herrschaft können diese Entwicklungen als produktiv-hegemoniale Dimension politischer Herrschaft interpretiert werden, die immer eine notwendige Ergänzung zu repressiven Elementen politischer Herrschaft ist. So werden Begriffe wie Gender, Zivilgesellschaft, Gerechtigkeit oder eben Europäisches Sozialmodell vereinnahmt und mit neuen Bedeutungen versehen, um eine breitere gesellschaftliche Zustimmung für den Umbau europäischer Wohlfahrtssysteme zu ernten.

Entwicklung der europäischen Integrationsweise und die Rolle der Sozialpolitik

Obwohl sich sozialpolitische Kompetenzen bis heute primär in den Händen der Mitgliedsstaaten befinden, spielte Sozialpolitik im europäischen Integrationsprozess von Beginn an eine Rolle. Sie erhielt im Laufe der Jahre einen immer wichtigeren Stellenwert und wurde insbesondere seit Mitte der 1980er Jahre zunehmend auch zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen.

Seit Beginn der Integration inkludierten alle Verträge einen Titel zum Thema "Sozialpolitik". Darunter enthaltene Vereinbarungen wurden unter dem Aspekt der Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen unter den Mitgliedstaaten getroffen, dabei ging es darum, Differenzen in ausgewählten sozialpolitischen Feldern anzugleichen und darüber hinaus eine gewisse Konvergenz der europäischen Sozialmodelle nach oben anzustreben. Zu Beginn der europäischen Integration kam es nur zu einer begrenzten Öffnung der nationalen Wirtschaftsräume, zugleich wurden indirekt die nationalen Entwicklungspfade und Muster der wohlfahrtsstaatlichen Regulation gestärkt und gesichert (Ziltener 1999, 123f). Mit den Krisen und Stagnationsphasen in der Weltwirtschaft der 1970er und 1980er Jahre wurde dieser Wirkungszusammenhang zunächst brüchig und schließlich mit einem neuen Integrationsschub in den 1980er Jahren grundlegend neu definiert. Seit Anfang der 1980er Jahre wird mit dem Binnenmarktprojekt (Einheitliche Europäische Akte 1987), der Wirtschafts- und Währungsunion (Vertrag von Maastricht 1992) und zuletzt der Lissabon-Strategie (Europäischer Rat 2000) eine vertiefte ökonomische Integration forciert, die indirekt auch eine tief gehende Transformation nationaler wohlfahrtsstaatlicher Modelle bewirkt. Die ökonomischen Projekte Binnenmarkt und Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) gehen weit über die Förderung des industriellen Handels hinaus und umfassen auch die Finanzmarktintegration, die Liberalisierung und Integration der Kapital- und Kreditmärkte, die Förderung grenzüberschreitender Direktinvestitionen, die Öffnung des Dienstleistungssektors und die (Teil-)Privatisierung und marktkonforme Reorganisation öffentlicher Dienstleistungen. Durch die damit verbundene Europäisierung der Zins-, Wechselkurs- und zum Teil auch der Fiskalpolitik kommt es zur Unterwanderung nationaler Systeme sozialer Regulierung und wichtige Mittel der nationalen Wirtschafts- und Sozialpolitik gehen verloren (Beckmann u.a. 2006).

Das Binnenmarktprojekt basierte zunächst vor allem auf neoliberalen Ideen und UnterstützerInnen, musste allerdings reformuliert werden, denn "der durch die Globalisierung ausgelöste Schub in Richtung Deregulierung, Liberalisierung und Herstellung freier Märkte wird im europäischen Mehrebenensystem immer wieder durch Gegenbewegungen von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen gebrochen" (Bohle 2006, 348). Vielleicht ist es kein Zufall, dass etwa zeitgleich mit dem Beginn der Durchsetzung der neuen Integrationsweise das ESM zum ersten Mal als transnationales politisches Modell in die öffentliche Debatte kommt, denn der Wandel der Integrationsweise ist seit den 1980er Jahren mit Massenarbeitslosigkeit und einer verschärften sozialen Exklusion in vielen europäischen Gesellschaften verbunden. Der französische Sozialdemokrat Jacques Delors - damaliger Kommissionspräsident - propagierte ein transnationales ESM als Alternative zum amerikanischen Kapitalismus. Die Grundidee seines Konzepts für Europa war, dass ökonomischer und sozialer Fortschritt zwei gleichrangige Ziele werden und die Union zu einer politischen Sphäre mit einer eigenständigen Sozialpolitik würde. Auch auf den Vertrag von Maastricht (1992) zur Schaffung der WWU hatten sozialdemokratische Ideen Einfluss. Mit einem eigenen neuen Sozialkapitel wurde versucht, insbesondere die Gewerkschaften als Partner für das neue Integrationsprojekt zu überzeugen. Dieses Sozialkapitel führte zu einigen Neuerungen - wie der Einführung der Mehrheitsbeschlüsse im Bereich der Sozialpolitik und einer stärkeren Einbeziehung der Sozialpartner auf Unionsebene -, blieb allerdings als spezielles Zusatzkapitel sehr unverbindlich und hatte kaum Auswirkungen auf nationale Sozialpolitiken. Viel mehr und restriktiven Einfluss auf nationale Sozialpolitiken nahmen dahingegen die budget- und fiskalpolitischen Auflagen, die so genannten "Konvergenzkriterien" des Maastrichter Vertrages. Was die Einbeziehung der Sozialpartner betrifft, so ist eine Art "symbolischer Euro-Korporatismus" (Bieling/Schulten 2003, 232) entstanden, gewerkschaftliche VertreterInnen sind in Brüssel nun zwar präsenter, bleiben jedoch von den Kernfeldern des Integrationsprozesses wie beispielsweise der Ausgestaltung der Wirtschafts- und Währungsunion ausgeschlossen.

Die Stärkung der politischen und sozialen Integration

Mitte der 1990er Jahre verlor die neue Integrationsweise, die zunächst vor allem auch mit Erwartungen vermehrten Wohlstands einherging und daher auch in weiten Teilen der europäischen Bevölkerung auf Unterstützung traf, an Zustimmung. Das lag nicht zuletzt an zunehmenden sozioökonomischen Krisenerscheinungen wie verstärkter Arbeitslosigkeit, neuer Armut und sozialer Spaltungen. So kann in Bezug auf den Integrationsprozess seit dem Maastrichter Vertrag eine zunehmende Polarisierung zwischen den Eliten und der öffentlichen Meinung beobachtet werden und der breite gesellschaftliche Konsens, der die Integration über drei Jahrzehnte unterstützt hatte, erodierte (Moravcsik 1998, 3f). Deppe/Felder (1993) sprechen in diesem Zusammenhang von der "Post-Maastrichtkrise" als einer politischen Legitimationskrise des europäischen Projekts. Ausgangspunkt der Legitimationskrise waren die Debatten zur Ratifizierung des Maastrichter Vertrags in Großbritannien, Frankreich, Dänemark und Deutschland und seiner schlussendlichen Ablehnung durch Dänemark. Diese Krise setzte sich dann in zahlreichen Protesten und Streiks nationaler Gewerkschaften, sozialpolitischer und feministischer NGOs und der Formierung neuer sozialer Bewegungen fort.

Die Zeit der Konsolidierung des brüchiger gewordenen neoliberalen Projekts und damit auch einer bestimmten europäischen Integrationsweise war gekommen. Der Ausbau der politischen und sozialen Dimension der Europäischen Integration durch den Vertrag von Amsterdam (1997) und die Ziele von Lissabon können als Versuch gesehen werden, neoliberale Strukturreformen mit einem gewissen Maß an sozialer Sicherheit und vor allem mehr Arbeitsplätzen zu verknüpfen und darüber auch die Legitimationskrise des europäischen Projekts zu beheben (Beckmann u.a. 2006, 314). In Amsterdam lagen die Schwerpunkte auf der Beschäftigungs- und Gleichstellungspolitik, dieser Ansatz wurde dann durch die 2000 ins Leben gerufene Lissabonner Strategie vertieft und erweitert. Formuliert wurde diese unter dem ökonomischen Eindruck eines Booms der Börsen und der New Economy von vornehmlich neu ins Amt gewählten sozialdemokratischen Regierungen. Die Strategien dieser Mitte-Links-Regierungen reagierten auf die Unzufriedenheit mit den rein neoliberal orientierten Ansätzen der konservativen Vorgängerregierungen und zielten auf mehr Beschäftigung und soziale Sicherheit, hielten gleichzeitig aber am Primat der Wettbewerbsfähigkeit fest (Beckmann u.a. 2006, 314). Schließlich sollte durch die Einbeziehung der "Charta der sozialen Grundrechte" in den Entwurf der Europäischen Verfassung (2003) die Legitimationsbasis des europäischen Projekts noch einmal erweitert werden (Beckmann u.a. 2004, 317).

Die Sozialpolitik der EU seit Lissabon

Die Lissabonner Agenda stellt einen Wendepunkt in der EU-Sozialpolitik dar. Zum einen kommt es durch die Forderung der Koordinierung von Wirtschafts- und Sozialpolitik zu einer Aufwertung der Sozialpolitik auf europäischer Ebene, zum anderen gerät das bis dahin angestrebte Ziel der Harmonisierung verschiedener Europäischer Sozialmodelle und ihrer unterschiedlichen institutionellen Arrangements in den Hintergrund. Die Union versucht sich nun vielmehr in der Kreierung eines eigenen ESM, das mit den ökonomischen Integrationsprojekten kompatibler ist (Savio/Palola 2005, 4). In diesem Zusammenhang wird auch das ESM als transnationales Konzept wieder aufgegriffen und dazu genützt, neue strategische Zielsetzungen auf Unionsebene zu formulieren. Angestrebt werden nun "gemeinsame europäische Ziele sowie eine verbesserte Koordinierung der Sozialpolitiken im Zusammenhang mit dem Binnenmarkt und der gemeinsamen Währung" (KOM 2000, 8). Demnach soll die Rolle der Sozialpolitik als "produktiver Faktor" verstärkt werden (ebd., 6).

Das ESM als Modernisierungsstrategie

In den EU-Dokumenten zur Sozialpolitik, die seit der Lissabonner Strategie formuliert wurden, nimmt die Beschreibung der "gemeinsamen Herausforderungen", denen die Mitgliedstaaten der EU heute gegenüberstehen, einen wichtigen Stellenwert ein. So wird zunächst versucht, eine gemeinsame europäische Identität über einen Diskurs der gemeinsamen Herausforderungen und geteilten Verantwortungen (Jepsen/Serrano Pascual 2005, 241) herzustellen, um schließlich eine notwendige Modernisierung der europäischen Wohlfahrtsstaaten zu rechtfertigen.

Als gemeinsame Herausforderungen werden in der Regel der zunehmende globale ökonomische Wettbewerb, technologische Entwicklungen, die Informations- und Wissensgesellschaft, die Alterung der Gesellschaft, niedrige Erwerbsquoten, langsames Wachstum, Armut, Ungleichheit und Diskriminierung genannt (KOM 2000; Europäischer Rat 2000). Diese Herausforderungen werden als eine Art "natürliche Entwicklung" dargestellt, der sich Europa nun anpassen müsse, und sie bilden zugleich das wichtigste Argumentationsmoment für die zentrale Botschaft aller Dokumente: die Modernisierung europäischer Wohlfahrtsysteme. Wie diese nach Vorstellung der EU-Kommission zu erfolgen hat, wird dann anhand konkreter Politikbereiche bzw. normativer Zielsetzungen - "Beschäftigung", "Soziale Eingliederung", "Sozialschutz", "Chancengleichheit", "Industrielle Beziehungen" und "Dienstleistungen von allgemeinem ökonomischen Interesse" - im Wesentlichen in den Sozialpolitischen Agenden von 2000 und 2005 definiert .
Der Bereich Beschäftigung steht seit dem Vertrag von Amsterdam im Zentrum sozialpolitischer Zielsetzungen auf EU-Ebene. Unter dem Punkt Beschäftigung wird insbesondere die Erhöhung der Erwerbsquote - die im Vergleich zu den USA und Japan als zu niedrig problematisiert wird - durch aktive Arbeitsmarktpolitik wie lebenslanges Lernen, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und Förderung des UnternehmerInnentums sowie eine Verbesserung der Qualität der europäischen Arbeitsplätze ("more and better jobs") angestrebt.

Einerseits hat die EU im Bereich der Arbeitsmarktpolitik die meisten Kompetenzen, andererseits erfolgt in allen anderen Bereichen der Sozialpolitik eine Art mainstreaming durch Arbeitsmarktpolitik. So wird beispielsweise bei der Zielsetzung der "sozialen Eingliederung", in der die Problematik der Armut behandelt wird, Arbeitslosigkeit als "wichtigste Einzelursache für Armut" und daher ein Arbeitsplatz als "beste Absicherung für soziale Ausgrenzung" gesehen (KOM 2000, 13). Eine "Eingliederung" der vom Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen steht im Zentrum des Interesses (KOM 2005, 10). Zudem soll durch eine Politik des sozialen Zusammenhalts eine "zu geringe Nutzung von humanen Ressourcen" verhindert werden (ebd., 7).

Unter dem Ziel der "Chancengleichheit" wird die Gleichstellung der Geschlechter und die Bekämpfung der Diskriminierung anderer benachteiligter Gruppen der Gesellschaft gefordert, um ihre "unbeschränkte Beteiligung am sozialen, politischen und wirtschaftlichen Leben" zu ermöglichen (KOM 2000, 25). Der Schwerpunkt liegt dabei klar auf einer besseren Integration in den - und Förderung am - Arbeitsmarkt. Das Konzept der Chancengleichheit bildet auch zugleich eine Säule der Europäischen Beschäftigungspolitik .

Unter dem Bereich "Sozialschutz" werden die klassischen wohlfahrtsstaatlichen Systeme zur sozialen Sicherung wie Pensionen, Gesundheit und Bildung behandelt. Die öffentlichen Ausgaben in diesen Bereichen werden als "Investition in Humanressourcen, die sich positiv auf die Wirtschaft auswirken", betrachtet (ebd., 6). Angesichts neuer Herausforderungen werden die Mitgliedsstaaten dazu aufgefordert, die primär in ihrer Kompetenz liegenden Systeme sozialer Sicherung zu modernisieren.

Im Bereich "Industrielle Beziehungen" wird zu einer "Partnerschaft für den Wandel" (KOM 2005, 5) aufgerufen, ein Appell an die wichtige Rolle der Sozialpartner in der Vermittlung und Überzeugung der europäischen BürgerInnen und der Mitgliedsstaaten von der Notwendigkeit der Modernisierung sozialer Systeme.
Der Bereich der Öffentlichen Dienstleistungen wurde erst in die überarbeitete sozialpolitische Agenda 2005 integriert. Diese werden dort als wichtiger Bestandteil des ESM anerkannt, unterliegen allerdings aufgrund der über die EU initiierten Liberalisierungsprozesse wie etwa in Bereichen der Postdienste, Energie oder Telekommunikation einer Umstrukturierung und Re-Regulierung. Daher werden sie zu "Dienstleistungen von Allgemeinem Wirtschaftlichem Interesse", da sie nun unter Marktbedingungen auch von privaten AnbieterInnen gewährleistet werden. Diese Dienstleistungen sind jedoch nach wie vor, so die EU-Kommission, mit besonderen "Gemeinwohlverpflichtungen", wie der universellen Versorgung, erschwinglichen Preisen, Qualitätsstandards oder Versorgungssicherheit verbunden (KOM 2004, 27). Für die Einhaltung dieser "Gemeinwohlverpflichtungen" sollen weiterhin öffentliche Instanzen zuständig sein, wie diese garantiert werden sollen, ist jedoch noch weitgehend offen. Die Kommission ist davon überzeugt, dass ein "harmonisches Miteinander von Marktmechanismen und Gemeinwohlinteressen" möglicht ist (ebd., 4). Offen ist auch noch, unter welchen Bedingungen das Erbringen solcher Dienstleistungen staatlich gefördert werden darf, ohne dass dies gegen das geltende Gemeinschaftsrecht verstößt.

Insgesamt können die sozialpolitischen Zielsetzungen der Union seit Lissabon als so genannte "soft law-Politik", die vor allem auf der Freiwilligkeit der involvierten politischen AkteurInnen beruht, bezeichnet werden. Im Vordergrund stehen weiche Steuerungsmodi bzw. Koordinierungs- und Lernprozesse wie die seit Lissabon als neuer Regulierungsmodus benannte "Offene Methode der Koordinierung" oder das "Mainstreaming". Demnach werden die sozialpolitischen Kompetenzen der Mitgliedsstaaten nicht direkt berührt und dennoch wird indirekt auf sie Einfluss genommen.

Sozialpolitik als produktiver Faktor

Sozialpolitik und soziale Themen haben zweifelsohne eine stärkere Rolle in der Europäischen Union bekommen. Das ESM wird von den EU-Institutionen (nach wie vor) als notwendige Instanz zur Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenhalts unter den Bedingungen der Globalisierung und Europäisierung propagiert, ja es wird ihm obendrein eine funktionale Bedeutung für die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union zugeschrieben. Im Gegensatz zum neoliberalen Radikalismus steht also keine Zerschlagung des Sozialstaats auf dem Programm, sondern sein wettbewerbsorientierter Um- und Rückbau (Urban 2006, 3). Mit einer neuen "wettbewerbsstaatlichen Integrationsweise" werden die EU-Mitgliedsstaaten jedoch zunehmend unter Druck gesetzt, ihre wirtschafts- und sozialpolitischen Systeme grundlegend marktförmig zu gestalten (Ziltener 1999). Diese Prozesse führen allerdings keineswegs zu dem oft propagierten "schlanken Staat", denn die Wettbewerbsfähigkeit muss vielmehr auch über eine neue Art von Sozialpolitik hergestellt werden. Diese wird dann in der Regel den Fragen der Arbeitsmarktpolitik bzw. struktureller und ökonomischer Wettbewerbsfähigkeit untergeordnet, was Jamie Peck (2001) als Workfare-Politik bezeichnet hat. Während welfare-Politik, die Konzeption des europäischen Wohlfahrtsstaates, auf dem Ausbau von sozialen Rechten seiner BürgerInnen beruhte, wird soziale Sicherung nun nicht mehr als Recht betrachtet, das auf Solidarität basiert, sondern vielmehr als eine Investition, um den Verlust von Möglichkeiten zu verhindern. Sozialpolitik soll also nicht mehr unsoziale Ergebnisse des Marktes korrigieren oder Marktlogiken gar aufheben, sondern wird so selbst Element des Marktes. Diese marktaktivierende Sozialpolitik degeneriert zu einer "Wirtschafts(förderungs)politik" und zu einer Politik der "Stärkung der Selbstbehauptungsfähigkeit des Einzelnen" im Markt (Urban 2006, 4). Anzunehmende Widersprüche zwischen sozialen Rechten und sozialem Ausgleich einerseits und Markt und Wettbewerb andererseits werden auf diese Weise zunächst de-artikuliert und die Idee einer eigenständigen gesellschaftsgestaltenden Sozialpolitik verschwindet schließlich.

Dementsprechend konzentriert sich Sozialpolitik gemäß der EU-Strategien auf spezielle Problembereiche wie Armut, Arbeitslosigkeit oder Diskriminierung, die zudem als individuelle Problemlagen aufgefasst und nicht mehr in ihrer Bezogenheit auf gesellschaftliche bzw. ökonomische Rahmenbedingungen und Herrschaftsverhältnisse artikuliert werden. So wird beispielsweise die Frage der Umverteilung gar nicht mehr gestellt, sondern es geht vielmehr bzw. nur noch um eine Beteiligung benachteiligter Individuen an gegenwärtigen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen - dass diese selbst jedoch zum Teil Grund ihres Ausschlusses bzw. ihrer Benachteiligung sind, bleibt daher außer Betracht (genauer dazu Hofbauer/Ludwig 2006).

Zudem bleibt das ESM - wie auch das Modell des fordistischen Wohlfahrtsstaates - ein stark eurozentristisches und protektionistisches Konzept, demgemäß die Harmonisierung der sozialen Standards nach innen und die Verbesserung globaler Wettbewerbsfähigkeit europäischer Staaten und Konzerne nach außen propagiert wird. Solange dies nur auf Kosten zunehmender Unordnung, Armut, ökologischer Zerstörungen, gewaltsamer Konflikte und Kriege in der nicht-westlichen Welt geschieht, bleibt das ESM ein unsolidarisches Modell.

Die Frage der Legitimation

Sozialpolitische Entwicklungen im Rahmen der Europäischen Integration können spätestens seit dem Vertrag von Amsterdam auch als eine Antwort auf politische Auseinandersetzungen um die Richtung der Integrationsweise interpretiert werden. Zu einem bestimmten Zeitpunkt der immer tiefer gehenden ökonomischen Integration war es nicht mehr möglich, den weitgehend sozialen und politischen Folgen der ökonomischen Integrationsprojekte Rechnung zu tragen, ohne eine eigenständige politische und soziale Dimension der Integration zu entwickeln. So wurden zum Teil politische Forderungen und Konzepte sozialer Bewegungen wie beispielsweise "Vollbeschäftigung" oder "Gender Mainstreaming" in die Unionspolitik integriert, allerdings in ihrer ursprünglichen Bedeutung verändert und ihrer kritischen Stoßrichtung entledigt. Diese Vorgangsweise ermöglichte eine Neutralisierung der Opposition und eine breitere Basis für einen politischen Konsens zur Vorantreibung des neoliberalen Umbaus europäischer Gesellschaften (Bieler/Morton 2001, 209).

Die Aufwertung der sozialen Dimension der EU-Integration durch die Lissabonner Agenda 2000 wurde von vielen politischer AkteurInnen - darunter vor allem auch Gewerkschaften und sozialpolitische NGOs - sehr positiv aufgenommen. Die Lissabonner Agenda und Konzepte wie das ESM bildeten einen wichtigen Referenzrahmen für ihre politischen Forderungen und außerdem erhoffte man sich einen weiteren Ausbau der sozialen Dimension der Europäischen Integration.

Während sozialdemokratische Parteien und die Gewerkschaften bis heute nahezu kritiklos hinter der Lissabonner Agenda stehen, kann innerhalb der europäischen Bevölkerung und sozialer Bewegungen eine gewisse Ernüchterung festgestellt werden und der Konsens um die gegenwärtige Stoßrichtung der Integration ist wieder brüchiger geworden. Dies wurde zum einen durch die Reformulierung der Lissabonner Strategie 2005 ausgelöst, ihrer Zuspitzung auf "Wachstum und Beschäftigung", durch die eine erneute Unterordnung sozialer Themen befürchtet wird. Zum anderen wurde der Entwurf der Europäischen Verfassung aus ähnlichen Gründen kritisiert und schließlich abgelehnt. Zudem formiert sich zunehmend Protest gegen die Liberalisierungspolitik der EU, was zu einer Rücknahme bzw. Überarbeitung der sog. "Hafen-Richtlinie" und der "Bolkenstein-Richtline" führte. Die Konzeption der EU-Sozialpolitik und schließlich die gegenwärtigen Schwerpunkte der Europäischen Integration bleiben damit umstritten, Widersprüche werden offensichtlicher und zunehmend zum Gegenstand öffentlicher Kritik.

Schlussfolgerungen

Abschließend ist zu sagen, dass die gegenwärtige Konzeption des ESM bestenfalls ein "Auftakt" bzw. ein Knotenpunkt in einem umkämpften Terrain um die Neubestimmung von Sozialpolitik in Europa und damit auch um die zukünftige Richtung der europäischen Integrationsweise sein kann. Die Auseinandersetzung um ein neues europäisches Sozialmodell hat gerade erst begonnen und sie wird sich nicht mehr allein auf den europäischen Kontinent beschränken. Ein solidarisches nachhaltiges ESM kann angesichts der globalen ökonomischen Ungleichheiten und sozialen Ungerechtigkeiten über die EU hinaus "nur über vielfältige und handfeste Konflikte entstehen, durch die hindurch emanzipative Kräfte die Agenda mitbestimmen und die aktuell dominierenden Projekte schließlich zurückgewiesen werden" (Brand 2006, 169).

Die Mobilisierung politischen Widerstands gegen die Demontage der alten Sozialmodelle und die herrschende Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik in Europa allein wird nicht dazu ausreichen, vielmehr muss es um eine Neubestimmung von Kritik unter neoliberalen Verhältnissen gehen. Das gilt sowohl für die Ebene der Theoriebildung, wie der kritischen Sozialforschung, als auch die der politischen AkteurInnen, deren stärkere Vernetzung erforderlich sein wird. Dabei geht es um nichts Geringeres als um die Notwendigkeit einer Re-Politisierung sozialer Ungleichheitsverhältnisse und Verteilungsfragen sowie konkreter Ungleichheitserfahrungen und schließlich die Erarbeitung gegenhegemonialer Strategien und neuer politischer Perspektiven für eine solidarische und geschlechtergerechte Erneuerung fordistischer Wohlfahrtsstaatssysteme und der europäischen Integration.

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