Das Jahr 2007 wird ein Jahr sein, in dem das Thema Sozialismus erneut stärker in das Blickfeld gesellschaftspolitischer Debatten rückt. Zum einen wird der 90. Jahrestag der russischen ..
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Oktoberrevolution sowohl jenseits von überkommen kommunistischer Verklärung als auch jenseits von gezielt antikommunistischer Verteufelung Anlaß geben, nochmals genauer nach den Ursachen und den Wirkungen der Konvulsionen des 20. Jahrhunderts zu schauen. Zum anderen erweist sich der globalisiert kriegerische Kapitalismus als ein Ungetüm, das es jetzt ernst meint - "groß Macht und viel List sein grausam Rüstung ist", dichtete Luther dereinst im Psalm 46.
Im Kern geht es darum, daß allenthalben die Gewißheit um sich greift, der gegenwärtige Kapitalismus schaffe keine Lösungen gesellschaftlicher Probleme, sondern sei zumeist deren Ursache. Der Ruf nach Alternativen ist in den Sozialforumsbewegungen wie unter den politischen Linken, die sich in Parteien konstituieren und an Wahlen beteiligen, stärker geworden. Zugleich führt auch die Sozialdemokratie wieder einmal Programmdebatten. Der neue Vorsitzende Kurt Beck will seine Partei nach der Schröderschen Eiszeit wieder mit ein wenig mehr linker Kosmetik versehen, zugleich aber die unter Schröder vollzogenen Anpassungen an die Zumutungen jenes GlobalkapitalismusÂ’ nicht in Frage stellen. Das führt dann zu sehr verschwiemelten Formulierungen von sozialer Demokratie (anstelle von demokratischem Sozialismus); und über diejenigen, die derzeit wirklich die Macht haben, soll eher nicht geredet werden.
Auf der Linken wird in dieser Lage jedoch nicht etwa frohgemut die Initiative ergriffen; die ernst daherkommenden Bedenkenträgereien reißen nicht ab. Gewiß, das hat auch historische Ursachen. Immerhin hatte Erich Honecker in seiner Zeit schwadroniert: "Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf."
Womit wir wieder bei einem christlichen Bild wären: Der Ochse und der Esel standen der Überlieferung nach an der Krippe, in der das frisch geborene Christuskind lag. Der Satz stammt so allerdings von August Bebel und drückte die feste Zukunftserwartung der damaligen sozialistischen Arbeiterbewegung aus. Ende der 1980er Jahre jedoch bewegte sich ein solcher Honecker-Spruch auf der gleichen Ebene wie seine Ansage, die Mauer werde noch fünfzig oder gar hundert Jahre stehen. Im Westen wurde der Ochs-und-Esel-Satz prompt mit einer Karikatur beantwortet, in der Ochs und Esel zuschauen, wie der Karren des Sozialismus in einen Abgrund hinunterstürzt.
Insofern stehen über allem Nachdenken über gesellschaftliche Alternativen, zumal wenn darunter eine sozialistische gedacht wird, die Erfahrungen des Scheiterns. Und gescheitert ist nicht nur der osteuropäische reale Staatssozialismus, sondern auch die nachhaltig gedachte Sozialstaatlichkeit, die die westeuropäische Sozialdemokratie nach dem Ersten und verstärkt nach dem Zweiten Weltkrieg verfolgt hatte. Sie hat am Ende vor der Macht des globalisierten Kapitalismus kapituliert und schließlich - siehe Schröder - selbst an der Demontage mitgewirkt, mit der Behauptung, so noch Schlimmeres zu verhindern.
Auch die neue Linke in Deutschland tut sich schwer mit dieser Lage. Habe das Scheitern nicht zur Folge, daß man sich auf "den Boden der Realitäten stellen" muß? Könne eine gesellschaftliche Alternative überhaupt als ganzheitliche gedacht werden? Heiße schrittweise vorgehen zu müssen nicht, sich in die Logik der obwaltenden Umstände zu begeben? Wenn das so wäre, dann ginge es in der Tat nur um einen Wettbewerb mit der Sozialdemokratie, wer denn nun behender Schlimmeres verhütet, indem er der Logik des Neoliberalismus folgt.
In der PDS war vor einiger Zeit ein "strategisches Dreieck" ausgedacht worden: sich an der realen Politik zu beteiligen und gegebenenfalls mitzuregieren, sich mit den sozialen Bewegungen an den gesellschaftlichen Protesten zu beteiligen und zugleich einen Blick über den Realkapitalismus von heute hinaus zu entwickeln. Nur alle drei Seiten zusammen ergeben ein Ganzes, das geeignet wäre, Perspektive und Alltagstauglichkeit miteinander zu verbinden. Die Positionen der Linkspartei etwa gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr erhalten ihr politisches Gewicht nicht aus der Größe der derzeitig im Bundestag agierenden linken Fraktion, sondern daraus, daß sie eine Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung dieses Landes repräsentieren, die zuvor nur nicht im Bundestag vorkam, weil die beiden PDS-Abgeordneten nach Geschäftsordnung diese Frage nicht auf die Tagesordnung setzen lassen durften. Dazu bedurfte es einer Fraktion. Bei einer Reihe von Themen der Sozial-, Renten- und Gesundheitspolitik
ist es ähnlich; die Positionen der Linken drücken Forderungen aus, die von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt werden.
Die neue Linke ist nicht dazu da, sich in einem Zehntel der Wählerschaft einzurichten, sondern neue gesellschaftliche Mehrheiten zu schaffen. Und dazu muß auch neu wieder über Sozialismus geredet werden, in einem ernsthaften, tiefen historischen Sinn. Das Jahr 2007 verspricht, spannend zu werden.
in:Des Blättchens 10. Jahrgang (X) Berlin, 8. Januar 2007, Heft 1
aus dem Inhalt:
Erhard Crome: Sozialismus-Jahr; Hajo Jasper: Mehr Staat wagen; Martin Behrens: Schöner Wohnen mit der NPD; Kaspar Hauser: Herr Wendriner steht unter der Diktatur; Jochen Mattern: Fiskalische Barbarei; Holger Politt, Warschau: Widerruf der Vierten Republik; Klaus Hart, São Paulo: Brasiliens gefeierte Exportrekorde; Wladislaw Hedeler, z. Z. Moskau: Die Pförtner kehren zurück; Ignaz Katz, Philadelphia: Liebesbriefe in Bildern; Klaus Hammer: Gustav Seitz 100; Kai Agthe: "Gehirntier" isoliert im Zettelkasten;